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II. 2. Immanuel Kant

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II. 2. 1. Die Kant-Krise als Krise der Vernunft

Der von Norbert Thomé im Jahre 1923 verwandte Begriff der Kant-Krise ist zweideutig. So schreibt Ludwig Tieck in der zweiten Auflage der Werkausgabe 1826 über Heinrich Kleist, dass er die Kantische Philosophie „weder zu fassen noch zu würdigen verstand". Der Terminus meint eine Zerrüttung des Weltbildes Kleists durch den übermächtigen intellektuellen Einfluss Kants. Mehrere Studienbeiträge beleuchten die bezeichnete Umbruchsituation des Dichters in einer von Kriegen geprägten Epochenschwelle, die Grenzgänger und „Limesfiguren13 zeitigt.

Die erste nachweisbare Erwähnung datiert aus seinem Brief an die Verlobte Wilhelmine von Zenge im September 1800 mit der Formulierung „Über den Zweck unseres ganzen ewigen Daseins nachzudenken, auszuforschen, ob der Genuß der Glückseligkeit, wie Epikur meinte, oder die Erreichung der Vollkommenheit, wie Leibniz glaubte, oder die Erfüllung der trockenen Pflicht, wie Kant versichert, der letzte Zweck des Menschen sei, das ist selbst für Männer unfruchtbar und oft verderblich.“14

Was geschieht, wenn gesunder Menschenverstand und Vernunft, logischer Transzendentalismus und Gefühl „auf den Knien meines Herzens15kollidieren? Die Beschäftigung mit Kant um die Jahrhundertwende führt bei Kleist zu einem Aufklärungs-und Fortschrittsoptimismus, der März 1801umschlägt in eine tiefe Sinnkrise und vorübergehende Orientierung an Rousseaus Natur-Idealismus, sowie Fichtes Subjektivismus. Es besteht ein Zusammenhang zwischen der Kant-und der Guiskardkrise, die in der Vernichtung seines höchst anspruchsvollen Dramas endet und den Lebensin einen Todesplan umschlagen lässt. Ob dies alles Kant zuzuschreiben ist bleibt offen.

Ernst Cassirer postuliert hingegen in seinem Essay „Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie“ (1919)16, Kleist habe erst durch die Lektüre Fichtes (der „neueren Kantischen Philosophie“) diese Krise erlitten, aufgrund der ihn erschütternden Einsicht von der Machtlosigkeit der Vernunft auf das Leben. Rousseaus Mitgefühl, die ständeübergreifende Solidarität im „Erdbeben von Chili“ ermöglicht, bleibt temporär, schlägt um in barbarische Lynchjustiz. Ob Cassirers Hypothese, von Kleist habe zunehmend Ohnmacht gegenüber seiner Epoche (Napoleon auf dem Höhepunkt seiner Macht) und der Ananke (die menschliche Hybris) empfunden, zugleich seit seinem Kutschenvorfall auf der Würzburger Reise 1800 und dem Schock über die sündhaften Zustände in der Kulturmetropole Paris die Bedeutung der Zufälligkeit und Unvorhersehbarkeit höher bewertet. „Verrücktheit des Sinns“ nennt es Kant, dem von Kleist in „Michael Kohlhaas“ kongenial „Schwärmerei krankhafter und mißgeschaffener Art“ entgegenbringt. Der Glaube an die Vernunft und rationale Welterklärung schwindet, heuristisch ist dem nicht beizukommen, so dass die Welt nicht mehr als die beste aller möglichen gilt. Der Dichter wirkt wie ein hybrider Hermaphrodit, zwischen Pflichtgefühl und Leidenschaft, mystischem Glauben und apokalyptischen Visionen zerrissen.

Über die Beziehung von Kleist zu Kant ist viel geschrieben worden; so auch über sein Interesse an „Träume eines Geistersehers“17, die bereits im Titel sich an Rousseaus „Träume eines Spaziergängers“ anlehnen. Die Frühschrift dokumentiert Kants Beschäftigung tranceartigen Zuständen, Somnambulismus und Mesmerismus, wie sie in „Penthesilea“, leitmotivisch in „Das Käthchen von Heilbronn“ am deutlichsten im Drama „Der Prinz von Homburg“ zum Tragen kommen.18

II. 2. 2. Probierstein und metaphysische Gläser

Von Kleist kennt die Metapher vom „Probierstein“ Kants und zudem das Gleichnis von den grünen Gläsern, von der Unhintergehbarkeit des Dings an sich, der trügerischen Selbstgewissheit und fragilen, perspektivischen und niemals absolut zu erkennenden Wahrheit. Die Metapher des Probiersteins erwähnt Kant in seiner kleinen Schrift „Was heißt sich am Denken orientieren?“ (1784) viermal. Die bekannteste Stelle bildet zugleich den Schluss(stein): „Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst [d.i. in seiner eigenen Vernunft] suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung“.19 Lüge wird exemplarisch für viele andere Laster, die mitunter aber Gutes bewirken, als unmoralisch und unzweckgemäß verworfen. Ebenso das ungeprüfte Übernehmen von Meinungen, die sich später als richtig herausstellen. Der letzte Probierstein der Wahrheit ist immer die Vernunft und diese nur durch rechten Gebrauch des eigenen Verstandes erreichbar, der allein über die „Zulässigkeit eines Urteils“ befindet. Von Kleist artikuliert sinngemäß: „Wenn man also nur seiner eigenen Überzeugung folgen darf und kann, so müßte man eigentlich niemand um Rat fragen, als sich selbst, als die Vernunft.“20

Neben der Wahrheitsfindung tritt die moralische Vervollkommnung in den Vordergrund. Aus diesem Blickwinkel lässt sich „Der Prinz von Homburg“ als Replik auf die „Kritik der praktischen Vernunft“, in der die Unbestechlichkeit des Gewissens vor dem Gehorsam steht, rezipieren. Ein Recht auf Widerstand gegen die Staatsgewalt findet sich explizit allerdings weder bei Kant noch bei Rousseau aus naheliegenden Gründen: erstens wieg ein Individualinteresse, sei es noch so berechtigt, niemals das Volksinteresse auf, zweitens kann ein subjektiver Grund niemals hinreichend für einen kategorischen Imperativ sein, die Situation kann bestenfalls hypothetisch, weil situativ gerechtfertigt erfolgen und drittens schützt Unwissenheit (die der Prinz vorgibt, da er den Befehl verträumt hat) in keinem Fall vor Verantwortung. Allgemein lässt sich aber ein Bekenntnis von Kleists zu Kants Verantwortungs-und Gewissensethik konstatieren. Selbst die Idee mit der Lasterschule im Essay „Allerneuster Erziehungsplan“ ist mit Kants Schrift „Über das radikal Böse vereinbar“, da es den Gedanken, wofür Laster nützt, aufgreift.21

Vermutlich aber ist die unmittelbare Krise Kleist als Reaktion auf Kant ohne das Dilemma, ihn mit Fichte zu verknüpfen, zu werten.22 Als gesichert darf gelten, dass Goethe den radikalen Anspruch der Autonomie und der Pflichtethik skeptischer gegenüberstand als der enthusiastische von Kleist.23 Ebenso gilt als gewiss, dass Kleist mehrere Quellen für das Gleichnis mit den grünen Gläsern besitzt, u. a. auch Jacobi und Wieland sowie Fichte24. Da von Kleists Briefe klare Hinweise auf seine Kantlektüre, nicht aber die genauen Quellen und Stellen verraten, bleibt dieser Disput, was genau die Krise 1801 ausgelöst hat, die zur Entlobung und auf Umwegen zur literarischen Selbstverwirklichung führt, spekulativ. Unstrittig übt Kants Werte-Anspruch, z. B. hinsichtlich der Leitfrage nach dem Glück, einen bedeutenden Einfluss auf die Lebensgestaltung des Künstlers und Denkers aus. Ironischerweise heiratet seine Verlobte Wilhelm T. Krug den Nachfolger auf dem Kant Lehrstuhl in Königsberg, wo die beiden sich in der Zeit von Kleists Anstellung beim Finanzministerium 1805/06 wieder begegnet sein dürften. „Der zerbrochene Krug“ liest sich vom Titel her als Parodie.

Der Abbruch des Physikstudiums und die Neuorientierung von Natur-auf Geisteswissenschaft erfolgt indirekt und während der intensiven Kantlektüre, da von Kleist seitdem weder an die Objektivität noch die Glückswürdigkeit im irdischen Dasein kraft der tugendhaften Lebensweise zu glauben vermag. Es ist strittig, in wieweit er die Ehe zu einer vermutlich nicht übermäßig geliebten Frau, die er vielleicht als gute Freundin gesehen hat, deshalb verwirft, weil auch Kant und Rousseau Junggesellen blieben, ein Grund liegt aber auch in seinem ehrgeizigen Anspruch als Versorger, den er nie gerecht zu werden vermag.

In „Träume eines Geistersehers“ (1766) taucht das Bild mit den Gläsern auf, das u. a. Hoffmann zur Novelle „Der Sandmann“ inspiriert. Es handelt sich um die verrückte Perspektive auf das Ding an sich bzw. eine Wahrheit hinter den Gläsern. Da die Augenmetaphorik zum unverzichtbaren Bestandteil von Kleists Poetik gehört, lohnt sich der Passus: „Wenn indessen die Vorteile und Nachteile in einander gerechnet werden, die demjenigen erwachsen können, der nicht allein vor die sichtbare Welt, sondern auch vor die unsichtbare in gewissem Grade organisiert ist .., so scheint ein Geschenk von dieser Art demjenigen gleich zu sein, womit Juno den Tiresias beehrte, die ihn zuvor blind machte, damit sie ihm die Gabe zu weissagen erteilen könnte. Denn, nach den obigen Sätzen zu urteilen, kann die anschauende Kenntnis der andern Welt allhier nur erlangt werden, indem man etwas von demjenigen Verstande einbüßt, welchen man vor die gegenwärtige nötig hat. Ich weiß auch nicht, ob selbst gewisse Philosophen gänzlich von dieser harten Bedingung frei sein sollten, welche so fleißig und vertieft ihre metaphysische Gläser nach jenen entlegenen Gegenden hinrichten und Wunderdinge von daher zu erzählen wissen, zum wenigsten mißgönne ich ihnen keine von ihren Entdeckungen; nur besorge ich: daß ihnen irgend ein Mann von gutem Verstande und wenig Feinigkeit eben dasselbe dürfte zu verstehen geben, was dem Tycho de Brahe sein Kutscher antwortete, als jener meinte, zur Nachtzeit nach den Sternen den kürzesten Weg fahren zu können: Guter Herr, auf den Himmel mögt ihr euch wohl verstehen, hier aber auf der Erde seid ihr ein Narr.“25

Um nur ein Beispiel zu nennen, so liegt in Seelandschaft und Sehlandschaft eine Homophonie vor, mit der von Kleist in seinem feinsinnigen Kunstessay „Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft“ vom 13. Oktober 1810 gespielt haben dürfte.26

Kants Verdikt über die Begrenztheit der Logik in den Naturwissenschaften zeigt Spuren. Ein Verzicht auf wissenschaftliche Genauigkeit impliziert durchaus nicht die Lust an der Einbildungskraft, vielmehr Achtsamkeit und Demut gegenüber der Unangemessenheit von Vorstellung und Erkenntnisgegenstand. „So kann man blondes Haar und blaue Augen haben, / Und doch so falsch sein?" sagt Varus über Thusnelda, in der er sich täuscht, weil er nur erkennt, was er erkennen will. Viele naturwissenschaftliche Experimente bestätigen, wonach gesucht oder gefragt wird; der Blickwinkel des Wissenschaftlers trübt daher die Realität, die nicht falsch, aber einseitig bewertet wird.

Besonders in seinem Aufsatz über das Glück, der zeitlich nahe an die Kant-Krise heranreicht, verdeutlicht die Nähe zu Kant, seiner Anschauung über die Tugend und den moralphilosophischen Ansatz, der sich von der Theodizee löst. Viele Gedanken aus der Sittenlehre, exemplarisch Kants Aufsatz „Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“ (1791) kennt er mit Sicherheit; Erkenntnisse daraus fließen in „Das Erdbeben von Chili“ ein, da der Hintergrund, das Erdbeben von Lissabon 1755 das naturwissenschaftliche Phänomen an die moralische und die Gottesfrage knüpft.

Man kann Gott weder erkennen noch ihn schlichtweg für den Lauf der irdischen Belange zur Verantwortung ziehen, ebenso wenig führten gute Absicht oder Erkenntnis automatisch zur gerechten Handlung. Der Tugend folgt nicht immer die Belohnung auf dem Fuß und man kann aus den richtigen Gründen falsch, aus den falschen Gründen richtig handeln. Das Zweckwidrige spricht nicht gegen die göttliche Instanz, auch die Vorstellung vom Paradies als eine ausgleichende Gerechtigkeit für erlittenen Unbill im Diesseits beruht laut Kant nur auf eine „willkürliche Voraussetzung“. Diese Schrift legt nahe, die wesentlich ältere vom Geisterseher über die metaphysischen Gläser als zwei Prinzipien, die transzendentale und die spekulative Vernunft auszulegen und die Trennung von irdischer und göttlicher Gewalt radikal zu vollziehen.27

Mystisch wie rational erscheint auch Kleists Entwicklung eines unglücklichen Bewusstseins aus der Ahnung von Glück heraus. Die Interjektion Ach ist ein Grenzwort an der Schwelle und am Grenzbereich zwischen Bewusstem und Unbewussten, Gesagtem und Ungesagtem, charakteristisch für „Die Verlobung von Santo Domingo“, in der Tonis gute Tat mit der Ermordung vergolten wird. In der Verlobung wie im Erdbeben scheitert individuelles Glück an der Laune und sinnlichen Begierde des Menschen. Laut Kant hat der Mensch eine starke Affinität zur Gewalt, die ein dauerhaftes Glück verhindert. Darüber hinaus bleibt er zeit seines Lebens einer nicht berechenbaren Welt, dem Zufall und seiner Gewalt über ihn ausgeliefert. Das alles versinnbildlicht sich in Kleists Metapher von der gebrechlichen Welt, was ihn zu einem unendlichen Regress in seinem Bemühen zwingt. „Er fing, da sein Gefühl ihm sagte, daß ihm von allen Seiten, um der gebrechlichen Einrichtung der Welt willen, verziehen sei, seine Bewerbung um die Gräfin, seine Gemahlin, von neuem an.“28 In Variation: „Ihr Verstand, stark genug, in ihrer sonderbaren Lage nicht zu reißen, gab sich ganz unter der großen, heiligen und unerklärlichen Einrichtung der Welt gefangen.“ Unerklärlich und gebrechlich gebraucht von Kleist synonym als Konvergenz psychischer und physischer Fraktur.

Sinnbildlich für die Kant-Krise ist sein Grüne-Gläser-Gleichnis, das Kleist in seinem Brief 1801 äußert, dem er vorausschickt „vor kurzem mit der Kantischen Philosophie bekannt“ geworden zu sein. „Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist das letzte, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nicht mehr – und alles Bestreben, ein Eigentum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich.“29

Der Gedankengang widerspricht dem seinerzeit vorherrschenden Bild der Wissenschaften. Von Kleist seziert in zwei Klassen: eine Gruppe versteht sich auf Formeln und eine andere auf Metaphern. An anderer Stelle spricht er vom Unterschied zwischen Philosophen und Dichtern; die hinzutretende verbindende Klasse ist die Marionette. Als Autor positioniert er sich dazwischen, denn er überkreuzt zwei narrative Techniken: das defizitäre Erzählen durch Vorenthalt einer entscheidenden Information und das ambivalente Erzählen durch Verweigerung eines eindeutigen (moralischen) Urteils. Theoretische und praktische Vernunft streben demnach wie bei Kant auseinander, wobei sie bei von Kleist auch nicht durch Urteilskraft vereinigt werden.

III. 1. 3. Subjektkonstitution: Zufall und Notwendigkeit

Unter diesen Umständen ist es nachvollziehbar, dass der Schrei eines Esels, der Pferde durchgehen lässt und die Würzburger Reise mit Ulrike nach Paris beinahe zu einem tragischen Ereignis hätte umschlagen lassen können, von Kleist einen nachhaltigen Eindruck von dem Stellenwert des Zufalls beschert. Darunter versteht Kant Bedingungen, die aus dem Subjekt hervorgehen, jedoch aufs Objekt übertragen werden. Aber zugleich gilt „Nichts geschieht durch ein blindes Ohngefähr… keine Notwendigkeit in der Natur ist blinde, sondern bedingte, mithin verständliche Notwendigkeit.“30

Kant denkt die Welt vom transzendentalen Subjekt aus; die Welt an sich existiert nicht bzw. kann nicht zweifelsfrei über logische Schlüsse erkannt werden, da der Mensch ein Sinneswesen ist und bereits durch die Anschauungsformen von Zeit und Raum eingeschränkt wahrnimmt. Entscheidend für von Kleists Subjektkonstitution wird der permanente Konflikt, die Krisis in Permanenz durch eigene Wahrnehmung mit der Autonomie des Denkens und dem allgemeinen Gesetz.

Er sucht Zwecksystem als das Gesetz des Allgemeinen und Zufall als das Gesetz des Besonderen zu synthetisieren. Der Zufall muss bezwungen werden. „Eine solche sklavische Hingebung in die Launen des Tyrannen Schicksal, ist nun freilich eines freien, denkenden Menschen höchst unwürdig. Ein freier, denkender Mensch bleibt da nicht stehen, wo der Zufall ihn hinstößt; oder wenn er bleibt, so bleibt er aus Gründen, aus Wahl des Bessern.“31 Folglich fühlt Kleist sich allein für all sein persönliches Misslingen allein verantwortlich.

Seine Protagonisten sind zu einer sprachlichen Regelung unfähig, wie er betont: „Nur weil der Gedanke, um zu erscheinen, wie jene flüchtigen, undarstellbaren chemischen Stoffe, mit etwas Gröberem, Körperlichen, verbunden sein muß, bediene ich mich ... der Rede.“32 Ähnlich lautet eine andere Stelle: „Das Leben selbst ist ein Kampf mit dem Schicksal; und es verhält sich auch mit dem Handeln wie mit dem Ringen.“ Von Kleist sucht physische Metaphern für die Dialektik aus These und Antithese.

Ein zentraler Begriff in Kants Sittenlehre lautet Pflicht. Nicht von ungefähr unterscheidet er das Gewissen als „aus Pflichtgefühl“ handeln zu wollen gegenüber der ethischen Norm, die eine präskriptive Pflicht als Grundlage zu „pflichtgemäßen Handeln“ verlangt. Das richtige und gute Handeln macht von Kleist abhängig von der unerbittlichen Strenge, sich selbst gegenüber, seine Pflichten zu erfüllen und über die Neigungen zu stellen. Die bloße Anerkennung oder Einsicht, das sich Fügen in das Notwendige hingegen genügt ihm nicht. Gut zu sein beinhaltet für Kleist, die Wahrheit zu erkennen und den Zweck jedes Gedankens und jeder Handlung auf ihre Nützlichkeit hin zu überprüfen. Lebenstatsachen können seiner Ansicht nach nicht weggedacht oder eskamotiert werden; ein isoliertes Denken im philosophischen Käfig ist unredlich.

Wie aber ist Freiheit innerhalb eines Mechanismus, wie es der Staat im Großen und das eigene (selektive) Wahrnehmen im Kleinen inkludieren, denkbar? Wie, mit Kant gefragt, lässt sich die Apperzeption, die Einheit oder ein archimedischer Standpunkt im Ich herstellen, wenn sich das Subjekt permanent neu im Außen spiegelt, um sein Selbst laut dem Gesetz der Identität zu bewahren? Kleists Ringen mit der Wahrheit, am anschaulichsten in „Der Zweikampf“ dargestellt, antizipiert das Verdikt Adornos, der Philosophie eine (tragische) traurige Wissenschaft nennt. Mensch und Leben bleiben aller denkerischen Anstrengung zum Trotz ein Rätsel; der letzte Grund aller Erkenntnis, bei der der Erkennende sich als Teil des Erkannten begreifen muss.

Drei Aspekte umreißen bis heute ungelöste Denkaufgaben, die wesentlich für die Kantkrise sind: Zunächst die tragische Einsicht, dass Plan und Vernunft der Natur allgemein und dem Missbrauch der Vernunft durch den Verstand unterlegen sind. Die Folge ist ein Krisenbewusstsein, die Krise in Permanenz, hinsichtlich der Verwirklichung des Guten dar, da der Zweck laut Kant nicht die Mittel rechtfertigt. Im Werk von Kleist kollidieren Bluts-und Familienbande als das ursprüngliche positive Recht der Natur (Rousseaus Erbe) mit dem Gesetz (Staatsraison), die durch negative Setzung Kontingente in Gestalt der gesellschaftlichen Formation werden. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Aus der Reibung des Individuums mit seiner Pflicht zu autonomen Handeln und der real existierenden Unmündigkeit, Rechtlosigkeit oder Zwang heraus, resultiert die Unmöglichkeit, seinem Gewissen nach handeln zu können. Wenn das Subjekt alles in Frage stellen darf, dann auch sich selbst.

Wenn alles mit Notwendigkeit geschieht, dann ist subjektiv erworbene Freiheit ein kollektiver Betriebsunfall oder ein zufälliges Ereignis, keineswegs der Sinn von Geschichte. Wenn Spiel, Freude oder Lust dem Ernst der Einbildungskraft zuwiderlaufen, dann erscheinen Erkenntnis, Moral und Ästhetik (was kann ich erkennen? was kann ich tun? wie kann ich urteilen?) stets einem System der Zwecke unterstellt.

II. 2. 4. Kants Gleichnis der Marionette

Selbst der Essay über das Marionettentheater kann in der Auseinandersetzung mit Kant rezipiert werden, da die „Kritik der praktischen Vernunft“ eine metaphorische Steilvorlage bietet. Kann deshalb, weil ungewiss ist, ob von Kleist die praktische Vernunft las und wenn, ob er folgende Stelle über die Fatalität der Handlungen kannte: „In der Tat: wären die Handlungen des Menschen, so wie sie zu seinen Bestimmungen in der Zeit gehören, nicht bloße Bestimmungen desselben als Erscheinung, sondern als Dinges an sich selbst, so würde die Freiheit nicht zu retten sein. Der Mensch wäre Marionette, oder ein Vaucansonsches Automat, gezimmert und aufgezogen von dem obersten Meister aller Kunstwerke, und das Selbstbewußtsein würde es zwar zu einem denkenden Automate machen, in welchem aber das Bewußtsein seiner Spontaneität, wenn sie für Freiheit gehalten wird, bloße Täuschung wäre, indem sie nur komparativ so genannt zu werden verdient, weil die nächsten bestimmenden Ursachen seiner Bewegung, und eine lange Reihe derselben zu ihren bestimmenden Ursachen hinauf, zwar innerlich sind, die letzte und höchste aber doch gänzlich in einer fremden Hand angetroffen wird.“33

Von Kleist gebraucht die Marionette für Kants höchste sittliche Schöne, das Erhabene. Von Kleist zeichnet drei Aspekte der aus dem Prinzip der Urteilskraft Kants nach: Wenn Bär und Fechtmeister wie Natur und Zivilisation, wie Instinkt und Verstand miteinander ringen, gewinnt das verstandeslose Tier und damit das Naturrecht des Körpers das Duell gegen das kultivierte Recht der Bildung und Ratio. Das Argument deckt sich mit Kants Abkehr vom Anthropologozentrismus. Nicht nur hier begegnet der Leser einem befremdlichen Triumph subjektiver Irrationalität, einer Unterlegenheit des Bewussten gegenüber des Unreflektierten (gleichsam Unbewussten), das als Inferno der Vernunft eingeklagt wird.

Die seelenlose Gliederpuppe erweist sich als Ausdruck von Erhabenheit. Kleists unstillbare Sehnsucht nach Kants Paradoxien - Gott kann nicht aus dem Verstand heraus erklärt werden, soll aber als Regulativ der Vernunft gelten - kann als Über-Ich nur im Inneren Bedeutung erlangen. Das Motiv von Gliederpuppen bzw. Marionetten als Metapher für Unmittelbarkeit und Automatismen kehrt leitmotivisch wieder.

Von Kleist sucht den Schwerpunkt der Marionette außerhalb des Menschen und sinnt ihr Menschliches an. Kant nennt das Ding an sich; das Dinghafte kehrt bei Kleist wieder als ein Stolperstein. Anthropologisch bedeutet das, er verortet den Menschen zwischen Tier und Gott; die blicklose Marionette (gleichfalls der Bär, die ohnmächtige Marquise von O oder der träumende Prinz von Homburg) sind schwerelos und von gleicher Grazie. Diese Natürlichkeit wird preisgegeben durch die Normierung und Formatierung des Denkens, der Schwerkraft.

Das Ergebnis ist die Legitimation des Selbst, die Entrückung und Verrückung des Denkens. Das Dilemma der Vernunft besteht darin, Utopie und Dystopie zugleich zu sein. Die Idee der Freiheit schlägt in ihr Gegenteil, den Zwang und die Notwendigkeit, um. Das Tier und die scheinbar mechanisch an Fäden gezogene Gliederpuppe sind ironischerweise freier als der gedankenvolle Mensch, dem schmerzlich die Unvollkommenheit vor Augen stehen muss als unauflösbare Diskrepanz von Sein und Schein.

Zweitens: in Kleists Werk, das Synthese zwischen Autonomie des Ich und Gemeinschaftssinn, ergo zwischen Freiheit und Gehorsamkeit (mitunter Unterwerfung) sucht, äußert sich ein leidenschaftlicher Drang zum Unbedingten a priori, der aber nicht mehr von dem harmonisch und rational begründeten humanistischen Weltbild der Weimarer Klassik, das an die Formbarkeit des Willens durch Bildung glaubt, getragen ist. Stattdessen beruft sich das Subjekt gegenüber den Wirren der trügerischen Welt auf die Intensität eines schmerzhaften Gefühls des Fragmentarischen und Brüchigen. Die Idee einer gerechten Obrigkeit (Napoleon oder der preußische Staat) fehlt zur Gänze; eine mit der Wirklichkeit versöhnende Lösung des tragischen Zwiespalts bleibt aus.

Erhaben ist der Mensch bei von Kleist nur, so lange er sich unbeobachtet wähnt. Sofern er etwas zu beweisen sucht, misslingt ihm das, was vorher mühelos erschien. „Zum Straucheln brauchts doch nichts als Füße“ („Der zerbrochene Krug“, Erster Aufzug). Was wahrhaftig geschieht, bleibt verborgen, wenn nicht unbewusst, im Traum, Affekt oder Rausch, verdunkelt sich durch die nachträgliche Erkenntnis.34 Im selben Maße, in dem sich der faktische Tatbestand klärt, vollzieht sich auch die Kontradiktion; die blinde Körperlichkeit wird unter kultureller Bedeutungsstiftung objektiviert und dem nackten Blick der Unschuld entzogen. Aufklärung erzieht nicht den mündigen, bestenfalls den um sein Unrecht wissenden Bürger. Beides erhellt und verdunkelt sich im fortlaufenden Spiel aus Enthüllen und Verhüllen. Am Ende steht ein Gesetz, das Kant noch metaphorisch „den bestirnten Himmel über mir“ ins Göttliche verweist, weil es die moralische Kraft des Individuums übersteigt. Von Kleist argumentiert: „Nur ein Gott könne sich, auf diesem Felde, mit der Materie messen; und hier sei der Punkt, wo die beiden Enden der ringförmigen Welt ineinander griffen.“35 Der aufrechte Gang des Menschen wird übertroffen vom marionettenhaften, den Penthesilea oder der Prinz von Homburg an den Tag legen, als sie ihrer Bestimmung folgen und das Gesetz zu ihrem Schicksal formen.

Drittens: Kleists Essay zentriert Anmut, die Kant in seiner „Kritik der Urteilskraft“ als „aufsteigende Idee der Kunst“ festlegt. Das ästhetische Wohlgefallen, auf dem sinnliche Erkenntnis basiert, folgt formgebundener Schönheit (form follows function). Kant unterscheidet das untere (sinnliche) vorm oberen (intellektuellen) Begehrungsvermögen; beides wird nur in der Kunst als ein „als ob Zwecksystem“ synthetisiert. Die Lust am Schönen, Kants interesseloses Wohlgefallen, bleibt in der Anmut subjektiv, um im Erhabenen objektiv zu erscheinen. Das planvolle Ausführen eines Kunstwerks transzendiert Natur in Erhabenheit als höchste Potenz, in ihr besteht der finale Zweck aller Ästhetik. Freisein von Imitation und Mimesis liegt allein in der Marionette. Sie scheint die dem Menschen verwehrte Rückkehr in den Zustand der paradiesischen Unschuld zu parodieren.

Über Bewusstsein ins Unwissen zu gelangen erscheint paradox.

Das mechanisch mathematisch berechenbare Grundgesetz der Welt wirkt als „Kleid des Gedankens“. Der Kern der Kunst besteht in der Aufspürung des Schicksals als der reinen Notwendigkeit, denkerisch alle Bewegungen zu bekleiden / begleiten. Die Apperzeption Kant: „Das Ich muss all meine Bewegungen denkerisch begleiten können“36. Selbstreflexion erfolgt über das Subjekt, ergo das Besondere, um dem Allgemeinen dienen. Aus dem Spiel wird der Ernst der Einbildungskraft; der Mensch gehört zwei Welten an, der sinnlichen kraft der Anschauung und der intelligiblen kraft der Einbildung.

Auch der Aufsatz über die Verfertigung der Rede impliziert Grundkenntnis von Kants Denken, er invertiert dessen Klugheitsregel (Erst denken, dann reden) wenn er von der Kunst der Verfertigung von Gedanken bei der Rede eine Simultanität anstelle der Sukzession räsoniert. „Aber weil ich doch irgendeine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, daß die Erkenntnis, zu meinem Erstaunen, mit der Periode fertig ist. Ich mische unartikulierte Töne ein, … und bediene mich anderer, die Rede ausdehnender, Kunstgriffe, zur Fabrikation meiner Idee auf der Werkstätte der Vernunft, die gehörige Zeit zu gewinnen.“37

Auch hier muss die Vorstellung das Denken wörtlich begleiten können. Der mechanische, aber darum nicht seelenlose Gedanke ist in Kleists Automatismen der Rede omnipräsent. Aufgabe der Kunst bleibt, das Gemüt zu erregen und aus einer Gedanken-Starre zu befreien: „Wie notwendig eine gewisse Erregung des Gemüts ist, um Vorstellungen, die wir schon gehabt haben wieder zu erzeugen ...“

Von Kleist paraphrasiert Kants Gleichnisse, die nicht beweisen, aber nahelegen, dass er diese Stellen kennt. Kant wünscht ausdrücklich, die verwirrende Leidenschaft aus dem subjektiven Geschmack, dem Spiel der Einbildungskraft und aus dem Gemüt herauszuhalten. Kleist hingegen spricht im „Marionettentheater“ vom freien Spiel der Gebärden und im Aufsatz über die Redekunst von zweideutigem Spiel.

Analoge Entsprechungen zum „Ernst der Einbildungskraft“ Kants finden sich im Ernst des Bären, dessen Lust nicht auf das Begehren, sondern Kenntnis gerichtet wird. Freuden an der Kunst stellen sich laut Kant zufällig ein und bilden ein nebensächliches Marginal ohne Einfluss auf die Qualität des Erkennens: Indem … das Schöne ein Gefühl directe der Beförderung des Lebens bei sich führt, und daher mit Reizen und einer spielenden Einbildungskraft vereinbar ist; … das Gefühl des Erhabenen eine Lust ist, welche nur indirecte entspringt ... mithin als Rührung kein Spiel, sondern Ernst in der Beschäftigung der Einbildungskraft zu sein scheint. Daher es auch mit Reizen unvereinbar ist ...“38

Kleists Formulierung der Marionettenbewegung, die „in einer geraden Linie bewegt wird“ verweist möglicherweise auf Kant, der den Menschen als „krummes Holz“ bezeichnet: „Aus so krummen Holz, als woraus der Mensch gemacht ist, kann kein gerades Zimmer gezimmert werden.“39

Diese Metonymie für Humanität wendet sich gegen den Gedanken, Mensch oder Natur auf ein Zwecksystem zu reduzieren, vielmehr rücken Bedürfnisse in den Vordergrund. Gemütserregung ist für Kleists natürliche Grazie und Herzensbildung unerlässlich.

Die Gemeinsamkeit mit Kant liegt in Kleists Kritik an der Maßlosigkeit des manipulierenden Verstandes, den Verweis auf eine höhere Vernunft a priori. Beide Denker sind gottesfürchtig, doch vermeiden sie eine exterrestrische Explikation oder Begründung für menschliche Sitten.

Kant nennt Moral in seiner „Kritik der Vernunft“ ein intellektuelles Gefühl und versteht darunter unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit, die gleichzeitig bereits eine subtile Interpretation, ergo ein Urteil, inkludiert. Ästhetik und Ethik sind folglich gar nicht zu trennen, insofern zählt der Gebrauch des Verstandes, die Qualität und nicht die Summe von Erkenntnis oder Wissen.

Wäre der Mensch ein reines Verstandeswesen, er müsste mechanisch handeln und bedürfte der Empfindung nicht. Er ist aber ein Zusammengesetztes (Synthesis a priori), der immer situativ und kontextual eingebunden handelt. Jedes Urteil teilt ihn in zwei Sphären und nichts vermag diese Zerrissenheit aufzulösen, soweit der Mensch ein fühlendes Wesen ist. Von Kleist sucht einen „Schwerpunkt“ der Marionette, der außerhalb des Menschen liegt.

Kant verweist auf den fragmentarischen und zugleich doppelbödigen Charakter der Sprache selbst. Von Kleist knüpft an: „Wie gern möchte ich dir alles mitteilen, wenn es möglich wäre. Aber es ist nicht möglich, und wenn es auch kein weiteres Hindernis gäbe als dieses, daß es uns an einem Mittel zur Mitteilung fehlt. Selbst das, einzige, das wir besitzen, die Sprache, taugt nicht dazu, sie kann die Seele nicht malen, und was sie uns gibt, sind nur zerrissene Bruchstücke.“40

Heinrich von Kleist

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