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2. Abgrenzung zwischen Heilversuch und Forschungseingriff
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Im Rahmen der Versuchsbehandlung kann weiter zwischen Heilversuchen und Forschungseingriffen differenziert werden.[75] Beide weichen vom Standard der ärztlichen Versorgung und Behandlung ab; sie unterscheiden sich jedoch in der ihnen zugrunde liegenden Zwecksetzung: Der Heilversuch ist auf die Erkennung, Heilung oder Verhütung pathologischer Zustände ausgerichtet und behält damit den Charakter als ärztliche Behandlungsmaßnahme, die den Regelungen zum ärztlichen Heileingriff unterliegt.[76] Demgegenüber zeichnet sich der Forschungseingriff durch Merkmale des Experiments – z.B. Zielgerichtetheit, Planmäßigkeit und Standardisierung[77] – aus; er dient (auch oder sogar ausschließlich) der Gewinnung neuer Erkenntnisse und bedarf aus diesem Grunde einer eigenständigen Rechtfertigung.[78]
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Während für beide Formen der Versuchsbehandlung neben der Einwilligung des aufgeklärten Betroffenen (sog. informed consent)[79] ein angemessenes Verhältnis zwischen eingriffsspezifischen Risiken und dem in Aussicht stehenden Nutzen zu fordern ist,[80] erfahren diese Anforderungen in den für Forschungseingriffe einschlägigen Regelungen Modifikationen und Ergänzungen, die dem zusätzlichen Legitimationsbedarf dieses Eingriffstyps Rechnung tragen. Die vorstehend skizzierte Unterscheidung schlägt sich im Übrigen auch in der Terminologie nieder: Während derjenige, der sich einem Forschungseingriff unterzieht, als Proband bezeichnet wird, verwendet man für die Person, die an einem Heilversuch teilnimmt, weiterhin den Begriff des Patienten.[81] Darüber hinaus wird der mit einem unmittelbaren Eigennutzen für den erkrankten Teilnehmer verbundene Forschungseingriff als therapeutisches oder heilkundliches Experiment und der ausschließlich fremdnützige Forschungseingriff als (rein) wissenschaftliches Experiment bezeichnet.[82] Die Unterscheidung zwischen Heilversuchen und Forschungseingriffen ist anhand objektivierbarer Kriterien vorzunehmen; dabei sprechen für die Annahme eines Forschungseingriffes die Charakteristika wissenschaftlichen Arbeitens wie etwa die Planung und Auswertung einer größeren Anzahl an Behandlungen, eine statistische Auswertung der Ergebnisse, die Finanzierung durch kommerzielle oder nicht-kommerzielle Institutionen sowie eine Vergleichsgruppenbildung.[83]
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In der Rechtswirklichkeit dürfte eine Versuchsbehandlung allerdings eher selten eindeutig als Heilversuch oder als Forschungseingriff einzuordnen sein; stattdessen dominieren Mischformen verschiedener einander überlagernder bzw. ergänzender Zwecksetzungen.[84] Eine zufriedenstellende Lösung des daraus resultierenden Abgrenzungsproblems wird sich entgegen einer teilweise vertretenen Auffassung[85] nicht in der Orientierung am „Schwerpunkt“ der von dem behandelnden Arzt verfolgten Zwecksetzung finden lassen; liefe man doch bei dem Bemühen um eine möglichst eindeutige Zuordnung zu einer der beiden Eingriffsarten Gefahr, wichtige Aspekte der jeweiligen Handlungssituation auszublenden. Den Vorzug verdient daher diejenige Sichtweise, die ein Nebeneinander von Heilversuch und Forschungseingriff innerhalb derselben Behandlungsmaßnahme in Betracht zieht; denn nur durch eine solche integrierende Betrachtungsweise erscheint sichergestellt, dass die angedeuteten, voneinander abweichenden Legitimationsanforderungen im konkreten Einzelfall Beachtung finden.[86] Beim Forschungseingriff im Rahmen einer Arzneimittelstudie, der auch Heilzwecke verfolgen kann (dies aber eben nicht zwingend muss), treten dann neben die Voraussetzungen des ärztlichen Heileingriffes die vor allem in den §§ 40 ff. AMG normierten Anforderungen an die Durchführung des Forschungsvorhabens und des konkreten Eingriffes, die ihren Grund in den Besonderheiten der Forschungssituation haben. Soweit in § 21 Abs. 2 Nr. 6 AMG der sog. Compassionate Use, bei dem schwer kranken Patienten unter bestimmten Voraussetzungen der Zugang zu noch in der Erprobung befindlichen Medikamenten eröffnet wird,[87] von der Zulassungspflicht befreit wird, steht nicht die systematische Gewinnung von Erkenntnissen über das Arzneimittel, sondern der Heilerfolg beim individuellen Patienten im Vordergrund.[88]
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Die vorstehenden Erwägungen schließen es selbstverständlich nicht aus, dass in der Praxis auch Fälle vorkommen, die sich eindeutig als Heilversuch oder als Forschungseingriff einordnen lassen und infolgedessen ausschließlich an den insofern einschlägigen Legitimationsanforderungen zu messen sind: So ist etwa der ohne jeden Gedanken an einen über den Einzelfall hinausweisenden Erkenntnisgewinn vorgenommene individuelle Heilversuch ebenso denkbar wie die Durchführung einer sog. Phase-I-Studie mit gesunden Probanden, die der Überprüfung der Verträglichkeit und der Wirkungen des Medikaments auf den Organismus und damit ausschließlich Forschungszwecken dient.[89] Unter Umständen lassen sich schließlich auch innerhalb eines einheitlichen Behandlungsgeschehens einzelne Maßnahmen mit unterschiedlicher Zwecksetzung identifizieren, die dann an den für die jeweilige Form der Versuchsbehandlung maßgeblichen Maßstäben zu messen sind.[90]