Читать книгу Handbuch des Strafrechts - Bernd Heinrich - Страница 197
1. Gesunde, einwilligungsfähige Personen
Оглавление56
Wie beim individuellen Heilversuch (dazu Rn. 31 ff.) entfaltet auch beim Forschungseingriff vor allem die unangemessen riskante und die nicht konsentierte Behandlung strafrechtliche Relevanz. Anknüpfungspunkte für einen strafrechtlichen Vorwurf können sich danach zum einen aus einem unvertretbaren Verhältnis zwischen eingriffsspezifischen Risiken und zu erwartendem Nutzen und zum anderen aus Aufklärungs- und Einwilligungsmängeln ergeben, welche die Wirksamkeit der Zustimmung des Probanden beeinträchtigen. Darüber hinaus vermögen auch Verstöße gegen prozedurale Sicherungsmechanismen wie z.B. Genehmigungserfordernisse oder Qualifikationsanforderungen eine Strafbarkeit des Prüfers zu begründen. Wie bereits dargelegt (vgl. Rn. 41 ff.), haben die bei der Durchführung klinischer Prüfungen zu beachtenden formellen und materiellen Anforderungen in den (noch) geltenden §§ 40, 41 AMG eine spezialgesetzliche Regelung erfahren. Die Einhaltung dieser Vorgaben ist auch bei der strafrechtlichen Bewertung von Forschungseingriffen zu berücksichtigen, die im Rahmen einer klinischen Prüfung vorgenommen werden.[191] Dabei ist zwischen den nebenstrafrechtlichen Tatbeständen in § 96 Nr. 10 und 11 AMG und den Vorschriften des Kernstrafrechts zu unterscheiden, die neben denen des AMG anwendbar bleiben.[192] In Betracht kommt eine Strafbarkeit wegen vorsätzlicher oder fahrlässiger Körperverletzung (§§ 223 ff., 229 StGB[193]), bei tödlichem Ausgang auch eine solche nach den Tötungsdelikten (§§ 211 ff., 222 StGB). Hinzu tritt zukünftig die Strafvorschrift des § 96 Nr. 21 AMG n.F., die Verstöße gegen bestimmte, enumerativ aufgezählte Vorgaben der VO (EU) Nr. 536/2014 mit Strafe bedroht.
57
Im Kernstrafrecht werden der Forschung mit gesunden einwilligungsfähigen Probanden zunächst durch das in § 216 StGB normierte Verbot der Tötung auf Verlangen Grenzen gezogen. Das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Probanden, ihn zu töten, zieht danach nicht die Straflosigkeit des Prüfers, sondern lediglich eine Privilegierung der Tötung gegenüber den §§ 211 ff. StGB nach sich.[194] Während es sich hierbei eher um einen theoretischen Fall handeln dürfte, kommt der Vorschrift des § 228 StGB, nach der die mit Einwilligung der verletzten Person vorgenommene Körperverletzung rechtswidrig ist, wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt, durchaus praktische Bedeutung zu. Die Rechtsprechung stellt in diesem Zusammenhang in Übereinstimmung mit der hL grundsätzlich auf die Intensität des tatbestandlichen Rechtsgutsangriffes ab; dabei sollen in erster Linie der Umfang der vom Opfer hingenommenen körperlichen Misshandlung oder Gesundheitsschädigung und der Grad der damit verbundenen Leibes- oder Lebensgefahr maßgeblich sein.[195] Die Grenze zur Sittenwidrigkeit sei danach jedenfalls dann überschritten, wenn bei vorausschauender objektiver Betrachtung aller maßgeblichen Umstände der Tat der Einwilligende durch die Körperverletzungshandlung in konkrete Todesgefahr gebracht werde.[196] Nur ausnahmsweise soll eine Kompensation des auf dieser Grundlage getroffenen Sittenwidrigkeitsurteils durch einen positiven Handlungszweck in Betracht kommen; dies wird insbesondere bei lebensgefährlichen ärztlichen Eingriffen angenommen, die zum Zwecke der Lebenserhaltung vorgenommen werden. Medizinisch indizierte Eingriffe verstoßen daher nicht gegen die guten Sitten.[197] Die vorstehend skizzierten Maßstäbe sind grundsätzlich auch bei der Bewertung medizinischer Forschungseingriffe zu berücksichtigen;[198] allerdings erfährt das Sittenwidrigkeitsurteil nach § 228 StGB bei der klinischen Prüfung eine eigenständige Konkretisierung durch die in § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 AMG (bzw. zukünftig Art. 28 Abs. 1 lit. a der VO (EU) Nr. 536/2014) getroffene spezialgesetzliche Regelung der Risiko-Nutzen-Abwägung: Sind bei einem Forschungseingriff nach dem insofern maßgeblichen objektiven ex ante-Urteil[199] „die vorhersehbaren Risiken und Nachteile (der klinischen Prüfung) gegenüber dem Nutzen für die Person, bei der sie durchgeführt werden soll (…), und der voraussichtlichen Bedeutung des Arzneimittels für die Heilkunde ärztlich vertretbar“,[200] so scheidet eine Bewertung des Eingriffes als sittenwidrig i.S.d. § 228 StGB aus.[201] Umgekehrt erscheint bei einem negativen Ergebnis der nach § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 AMG bzw. Art. 28 Abs. 1 lit. a der VO (EU) Nr. 536/2014 vorzunehmenden Güterabwägung auch die Annahme der Sittenwidrigkeit gemäß § 228 StGB vorgezeichnet.[202]
58
Die vorstehend skizzierte Akzessorietät ist auch ansonsten für das Verhältnis der kernstrafrechtlichen Delikte gegen Leib und Leben zu den Vorschriften des AMG und der VO (EU) Nr. 536/2014 kennzeichnend: So führt etwa die Einhaltung der in §§ 40, 41 AMG bzw. §§ 40a, 40b AMG n.F. und Art. 28 ff. der VO (EU) Nr. 536/2014 normierten probandenschützenden Vorgaben im Bereich der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit[203] dazu, dass die Durchführung der Studie grundsätzlich als Eingehung eines erlaubten Risikos zu bewerten ist,[204] während bei einem Verstoß gegen die vorbezeichneten Vorschriften auch die Schwelle der rechtlich missbilligten Gefahr überschritten wird. Für die Strafbarkeit des Prüfers ist dann allerdings noch genauer zu erörtern, ob auch die übrigen Zurechnungsvoraussetzungen (insbesondere der Pflichtwidrigkeits- und der Schutzzweckzusammenhang[205]) gegeben sind.[206] Schließlich erfahren die allgemeinen Grundsätze, nach denen sich die Wirksamkeit der Einwilligung in Körperverletzungen gemäß §§ 223 ff. StGB bestimmt,[207] für den Bereich der klinischen Prüfung eine Konkretisierung durch die in § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 3, Abs. 2 AMG (bzw. zukünftig in § 40b AMG n.F. und Art. 29 der VO (EU) Nr. 536/2014) normierten Anforderungen an die Aufklärung und die Einwilligung des Probanden.[208]
59
Neben den kernstrafrechtlichen Vorschriften der §§ 211 ff., 223 ff. StGB finden je nach dem Charakter des Forschungsvorhabens verschiedene Regelungen des Nebenstraf- und Ordnungswidrigkeitenrechts Anwendung.[209] Von praktischer Bedeutung waren dabei bereits in der Vergangenheit v.a. § 96 Nr. 10 und 11 AMG, die als Blankettnormen Verstöße gegen die §§ 40, 41 AMG sanktionieren und dabei als abstrakte Gefährdungsdelikte ausgestaltet sind.[210] § 96 Nr. 10 AMG richtet sich primär an den Prüfer[211] und bedroht die Durchführung einer klinischen Prüfung i.S.d. § 4 Abs. 23 AMG mit gesunden Probanden mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe, wenn
- | die vorhersehbaren Risiken und Nachteile der klinischen Prüfung gegenüber dem Nutzen für die Person, bei der sie durchgeführt werden soll, und der voraussichtlichen Bedeutung des Arzneimittels für die Heilkunde ärztlich nicht vertretbar sind (§ 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 AMG), |
- | das Arzneimittel aus einem gentechnisch veränderten Organismus oder einer Kombination von gentechnisch veränderten Organismen besteht oder solche enthält und nach dem Stand der Wissenschaft im Verhältnis zum Zweck der klinischen Prüfung unvertretbare schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit Dritter zu erwarten sind (§ 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 2a AMG),[212] |
- | gegen die in § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 3, Abs. 2 und Abs. 2a AMG normierten Anforderungen an die Aufklärung und Einwilligung des Probanden verstoßen wurde, |
- | der Proband auf gerichtliche oder behördliche Anordnung in einer Anstalt untergebracht ist (§ 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 AMG), |
- | die in § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 5 AMG normierten Anforderungen an die Qualifikation des Prüfers nicht eingehalten werden, |
- | keine dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprechende pharmakologisch-toxikologische Prüfung des Arzneimittels durchgeführt worden ist (§ 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 6 AMG), |
- | keine den Anforderungen gemäß § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 8, Abs. 3 AMG genügende Probandenversicherung abgeschlossen wurde oder |
- | gegen die Vorschriften für die klinische Prüfung bei Minderjährigen gemäß § 40 Abs. 4 AMG verstoßen wurde.[213] |
60
Darüber hinaus pönalisiert das Sonderdelikt[214] des § 96 Nr. 11 AMG den Beginn der klinischen Prüfung eines Arzneimittels durch den Sponsor entgegen § 40 Abs. 1 S. 2 AMG. Da die Vorschriften des Allgemeinen Teils des StGB gemäß Art. 1 Abs. 1 EGStGB auch im Nebenstrafrecht Anwendung finden, sind nur vorsätzliche Verstöße gegen § 96 Nr. 10, 11 AMG strafbar (vgl. § 15 StGB).[215] Die fahrlässige Begehung einer in § 96 Nr. 10 und 11 AMG bezeichneten Handlung wird demgegenüber in § 97 Abs. 1 Nr. 1 AMG lediglich als Ordnungswidrigkeit eingestuft;[216] gleiches gilt nach § 97 Abs. 2 Nr. 9 AMG für Verstöße gegen die in § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 7 AMG normierte Informationspflicht und nach § 97 Abs. 2 Nr. 31 AMG für Verstöße gegen die auf der Grundlage des § 42 Abs. 3 AMG erlassene GCP-Verordnung. Die Strafbarkeit nach § 96 Nr. 10, 11 AMG steht zu einer Strafbarkeit nach den allgemeinen Körperverletzungs- und Tötungsdelikten in Tateinheit;[217] hingegen wird bei gleichzeitigem Vorliegen einer Straftat und einer Ordnungswidrigkeit nach § 97 AMG nur das Strafgesetz angewendet (vgl. § 21 Abs. 1 S. 1 OWiG).
61
Durch das 4. AMG-ÄndG haben auch die Strafvorschriften in § 96 Nr. 10 und 11 AMG eine redaktionelle Anpassung an die Änderungen in den §§ 40 ff. AMG n.F. erfahren. Darüber hinaus finden sich strafbewehrte Verstöße gegen Vorschriften, die nicht mehr im AMG, sondern in der VO (EU) Nr. 536/2014 geregelt sind, zukünftig in § 96 Nr. 21 AMG n.F.[218]
62
Die örtliche Anwendbarkeit des § 96 AMG alter und neuer Fassung richtet sich nach dem Strafanwendungsrecht des StGB; dort sind für den vorliegend erörterten Zusammenhang insbesondere § 7 Abs. 2 und § 9 StGB von Bedeutung. Danach kann sich ein deutscher Sponsor oder Prüfer, der im Ausland eine klinische Prüfung durchführt, die den Voraussetzungen der §§ 40 ff. AMG bzw. der VO (EU) Nr. 536/2014 nicht entspricht, gemäß § 96 Nr. 10, 11, 21 AMG strafbar machen, wenn die Tat auch am Tatort mit Strafe bedroht ist oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt (§ 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB; sog. passives Personalitätsprinzip[219]). Für den Tatbeteiligten, der die Studie im Ausland durch eine Tätigkeit im Inland unterstützt, gilt das Strafbarkeitsrisiko gemäß § 96 Nr. 10, 11, 21 AMG hingegen selbst dann, wenn die Tat nach dem Recht des Tatorts nicht mit Strafe bedroht ist (§ 9 Abs. 1 StGB für die Mittäterschaft und § 9 Abs. 2 S. 2 StGB für die Teilnahme).[220]
63
Eine Sonderstellung nehmen bei Arzneimittelstudien Schwangere ein. Nicht zuletzt die Erfahrungen mit dem teratogenen Potential von Thalidomid (Contergan®) haben die Gefahren eines Ausschlusses dieser Personengruppe von der Forschung aufgezeigt. Studien mit Schwangeren könnten dazu beitragen, den Umlauf von Arzneimitteln zu verhindern, deren schädliche Wirkung auf den Fetus ansonsten unerkannt bleiben würde. Zudem begünstigt der uneingeschränkte Ausschluss Schwangerer von der Teilnahme an Arzneimittelstudien Unsicherheiten in Bezug auf die Medikamentengabe. Notwendig und wünschenswert erscheint daher eine Forschung mit Schwangeren, die der besonderen Vulnerabilität[221] dieser Personengruppe Rechnung trägt.[222] In Deutschland ist die Arzneimittelforschung an Schwangeren bislang noch nicht ausdrücklich geregelt.[223] Art. 33 der VO (EU) 536/2014 über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln lässt die Forschung mit Schwangeren jedoch zukünftig unter bestimmten einschränkenden Voraussetzungen zu.[224] Ähnlich enthielt § 20 Abs. 5 Nr. 4 MPG a.F. bislang für die Medizinprodukteforschung eine (in § 41 Nr. 4 MPG a.F. strafbewehrte) restriktive Regelung, welche u.a. die Subsidiarität der Forschung mit Schwangeren hervorhob;[225] einschlägig ist insofern nunmehr Art. 66 der Medizinprodukte-VO (EU) 2017/745.[226] Radioaktive Stoffe oder ionisierende Strahlung dürfen zum Zweck der medizinischen Forschung gemäß § 137 Abs. 1 S. 1 StrlSchV nicht an einer schwangeren Person angewendet werden. Die Verpflichtung, bei der Durchführung klinischer Prüfungen mit stillenden oder schwangeren Frauen besondere Vorsicht walten zu lassen, ergibt sich auch aus Art. 33 der VO (EU) Nr. 536/2014. Die Leibesfrucht ist überdies durch das Kernstrafrecht geschützt; so sind, je nach Konstellation, die §§ 218 ff. StGB einschlägig, die den Abbruch der Schwangerschaft regeln.[227]