Читать книгу Der erste Kuss - Bernhard Bucher - Страница 10
Literarische Kunst
ОглавлениеDie Erinnerung ist schon eine seltsame Einrichtung bei uns Menschen. Durch schöne Erinnerungen werden wir motiviert, und schlechte Erinnerungen ermöglichen uns, Lehren zu ziehen. Das Ziel ist in beiden Fällen ein positives. Alle anderen Erinnerungen werden im Laufe der Zeit ausgeblendet. Damit behalten wir den Kopf frei für die wirklich wichtigen und die motivierenden und positiven Dinge im Leben, die uns nach vorne bringen. Letztendlich ermöglicht uns dies den persönlichen und, im weiteren Verlauf durch Teamwork und gemeinsame Projekte, auch den gesellschaftlichen Fortschritt.
Doch zurück ins derzeitige Leben: Ich finde noch einige Zeichnungen und lege sie auf den Blätterstapel, den ich für mich beiseitelegen und für später einmal aufheben möchte. Inzwischen habe ich natürlich damit begonnen, Ordner und Hefter detaillierter zu durchsuchen. Allerdings sind diese nicht chronologisch sortiert, sodass sich alle Unterlagen nun kreuz und quer vermengen. Zwischendurch finden sich Schriftstücke aus der Zeit meiner Berufsausbildung nach dem Abitur, dann aus der Mittelstufe und wieder Dinge, die zum Lehrstoff des Gymnasiums gehören. Das macht aber nichts, alles wird durchsucht. Und das ist auch gut so. Ganz interessante Dinge finde ich, zum Beispiel auch ein von mir verfasstes Gedicht:
Ich sitze im Sessel und denk‘ allerlei,
da fällt mir auf, das schöne Wetter ist vorbei.
Die Scheiben erzittern, der Wind nimmt zu,
schwer heult‘s ums Haus, buhuu, buhuu.
Der Regen schlägt ans Fenster, er läuft nur so ‘runter,
mir wird ganz Angst und Bang, statt froh und munter.
Da zischt ein Blitz, im Garten schlägt’s ein.
Ich werd‘ immer mehr und mehr ganz klein, ganz klein …
Zwar nicht fertig, aber nett, denke ich. Dieses Gedicht muss ich wohl geschrieben haben, als es tatsächlich gestürmt und geregnet hat. Früher gab es öfter Sturm und Regen. Ich habe das Gefühl, dass solche Kurzgewitter heutzutage nicht mehr so oft auftreten, wenn aber doch, dann arten diese immer öfter in Unwetter so aus, sodass durch Überschwemmungen und Stürme immense Schäden verursacht werden; ein Phänomen, mit dem wir zukünftig wohl leben müssen, wie die Meteorologen uns derzeit prophezeien.
Letztens habe ich ein Gedicht, vielmehr eine Parodie, auf den Erlkönig geschrieben, das kam mir gerade so in den Sinn. Jeder hat Goethes Verse schon gehört oder gelesen: „Wer reitet so spät durch Nacht und Wind, es ist der Vater mit dem Kind …“ Manchmal überkommt mich ein Ansturm an Schaffenskraft und Ideen. In Anlehnung an dieses Gedicht und mit dem Hintergrund der derzeitigen Situation der jungen Leute in ihrem jeweils eigenen Reich am Computer habe ich vor einiger Zeit einige Verse verfasst, bei denen ich hier nur den Anfang präsentieren möchte (das Gedicht soll jetzt nicht langweilen). Mich reizen solche Dinge übrigens immer wieder: Plötzlich etwas machen, womit selbst ich nicht rechne.
Fast jedem ist bekannt die Geschicht
Vom Erlkönig, also Goethes Gedicht.
So reitet der Vater mit seinem Kind
nach Hause durch Nacht und Wind.
Beide ergreift die Angst in ihrer Not
Am Schluss sind sie zu Haus, nur das Kind ist tot.
Dies hier nun ist die neueste Version,
Sie handelt ebenso von Vater und Sohn…
Science-Fiction war früher übrigens auch ein interessantes Thema. Kenntnisse zu „Star Wars“ und „Enterprise“ waren Pflicht, wenn man mitreden wollte. In der Zeit, als diese Filme im Fernsehen und in den Kinos liefen, muss ein Aufschrieb entstanden sein, der nun also zu Science- Fiction passt. Es geht darum, dass auf der Erde kurz vor der totalen Zerstörung noch ein paar Menschen zusammengefunden haben und ums Überleben kämpfen. In diesem Fall wird versucht, Kontakt nach außen über Funk herzustellen.
Auch dieser Text liegt in meiner Handschrift vor, also muss ich ihn geschrieben haben. Ist das aber auch mein Gedankengut? Nach Abwägung aller möglichen Einflüsse auf diesen Text liegt die Vermutung nahe, dass es tatsächlich so ist: kein Diktat, kein Abschreiben, meine eigenen Worte im Alter zwischen zwölf und fünfzehn Jahren. Ich staune über mich selbst.
Viele benoteten Arbeiten tauchen im weiteren Verlauf noch auf und das in allen möglichen Fächern: Biologie, Chemie, Physik, Deutsch, Geschichte, Gemeinschaftskunde, Religion, Mathematik, Englisch, Französisch. In Musik habe ich keine Klausuren gefunden. Dieses Fach hatte ich ja auch nach der neunten Klasse nicht mehr.
In der Zwischenzeit habe ich auch die restlichen Ordner und Hefter vom Dachboden geholt und diese zum Durchsehen vor mir platziert. Im Schreiben von Klausuren hatte ich wohl Übung, allerdings nur selten so richtig bei dem abgefragten Unterrichtsstoff. Da waren nahezu ebenso viele benotete Arbeiten zu finden, wie normale Unterrichtsmitschriften oder Manuskripte. Die Noten waren nicht so der Renner. Dass es aber so viele waren, überrascht mich nun doch. Da muss wohl jeden zweiten Tag eine Klausur stattgefunden haben. Anders ist das hohe Aufkommen an benoteten Arbeiten nicht zu erklären. Und was ich überhaupt nicht verstehen kann, sind die schlechten Noten in Deutsch. Das sind nun wirklich keine guten Voraussetzungen, um ein Buch zu schreiben. Und ausgerechnet ich finde nun Gefallen daran. Das verstehe ich nicht.
Ich bin mittlerweile dazu übergegangen, alle Aufschriebe und Manuskripte den Ordnern, Heftern und Umschlägen zu entnehmen und separat in die Kisten einzulegen, in denen ich das gesamte Material vom Dachboden heruntergeschleppt habe. Für mich ist es wichtig, diese Unterlagen so kompakt wie möglich aufbewahren zu können. Allerdings mit der Folge, dass alles durcheinanderkommt. Dass ich auch später noch einmal diese Unterlagen durchsehen können muss, bedenke ich dabei nicht. Die Trennung von Ordner oder Umschlag und Inhalt ist – wie sich schon bald herausstellen wird – ein Fehler, denn dadurch verliert der einzelne Aufschrieb die Zuordnung zu Klasse, Schule und Jahrgang und in Zweifelsfällen auch die Zuordnung zu einem bestimmten Fach. Die Suche nach einem bestimmten Sachverhalt wird dadurch erschwert.
Inzwischen aber wird mir klar, nach was ich suche. Es ist ein Aufsatz, in dem ich in meiner Schulzeit mein Erlebnis mit Jana schon sehr präzise und gefühlvoll formuliert habe. Dieser Aufsatz fand damals schon bei meinen Klassenkameraden große Beachtung und einige haben ihn sich sogar abgeschrieben, daran kann ich mich noch erinnern. Es bestand damals allerdings auch schon der Verdacht, dass dieser Aufsatz nicht von mir stamme, schließlich waren meine Deutschnoten auf dem unteren Niveau angesiedelt und ein Aufsatz dieser Art, Form und überhaupt zu diesem Thema schien so gar nicht zu mir zu passen. Kaum einer glaubte mir, dass dies mein Gedankengut und meine Formulierungen seien. Und mir wurde schon gar nicht ein Erlebnis wie das darin beschriebene zugetraut. Aus heutiger Sicht ist es aufgrund der Art der Formulierungen und der Wortwahl dem damaligen Alter aber durchaus zuzuordnen, wie ich später noch feststellen werde.
Irgendwo in diesen Unterlagen muss dieser Aufsatz sein, ist mein Gedanke, den habe ich nicht weggeworfen, so etwas werfe ich nicht weg! Den habe ich noch. Plötzlich erinnere ich mich wieder an die Überschrift: Ja, das war “Der erste Kuss“. Wo er bloß steckt?
Meine Eltern haben damals nach Beenden meiner Schulzeit alle Hefte und Ordner auf dem Dachboden untergebracht. Ob sie den ‚Kuss‘ gelesen und dann beseitigt haben, weil sie so etwas vielleicht für obszön gehalten haben? Wer weiß … Meiner Mutter hätte ich alles zugetraut, war sie doch eine Person, die ihre Meinung nach außen nicht nur geäußert hat, sondern sie hat auch danach gehandelt, ohne Rücksicht auf Verluste.
Meine Suche jedenfalls wird weitergehen und ich gebe nicht auf. Im Zweifel werde ich die gesamten Unterlagen ein weiteres Mal durchsehen. „Vielleicht aber finde ich ja diesen Text in den hier noch vor mir liegenden zwei Ordnern“, überlege ich und beginne, auch die letzten beiden Schulhefte durchzusehen.