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Die schulische Entwicklung
ОглавлениеDass ich Jana nachtrauerte, lag auf der Hand. Schließlich war sie es, die mir eigentlich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl gegeben hatte, geliebt zu werden oder zumindest gern gesehen zu sein, eine Zuneigung, die diesmal nicht von Vater und Mutter kam.
Ist denn nicht noch irgendwo Unterrichtsmaterial aus der fünften und sechsten Klasse, irgendwelche Hefte oder Ordner? Vielleicht finde ich ja auch so eine Zettelnachricht oder ein sogenanntes „Liebesbriefchen“ dazwischen. Goethe hat übrigens einmal gesagt: „Briefe gehören zu den wichtigsten Denkmälern, die der einzelne Mensch hinterlassen kann“. Wie Recht er damals schon hatte. Die Hoffnung stirbt zuletzt, geht mir durch den Kopf. Vielleicht sind diese Aufschriebe anderswo und ich finde sie später vielleicht. Dann, wenn ich es gar nicht erwarte …
Was mache ich denn hier eigentlich? Habe ich mich vergessen? Was soll denn das? Ich habe die betreffende Zeit längst hinter mir gelassen. Wieso hänge ich denn nun diesen beendeten Geschichten hinterher? Ich beginne, mit mir selbst zu hadern. Was überhaupt bewegt mich denn an dieser Sache so sehr? Was hat Jana an sich, das mich jetzt schon wieder so sehr vereinnahmt?
Ich muss feststellen, dass ich seit dem Aufflammen dieser Erinnerungen aufgewühlt bin, einen Energieschub erhalten habe und dass sich meine Gedanken immer wieder um Jana und um die Erinnerungen an die damalige Zeit kreisen. Nur, wie löse ich mich aus dieser Gefangenschaft?
In der Abarbeitung und Durchsicht meiner Schulunterlagen nähere ich mich zumindest chronologisch einmal dem angedachten Zeitabschnitt. Vor mir liegt noch der Ordner mit den Unterrichtsaufschrieben, Übungen und Klausuren aus der Zeit vor der Oberstufe. Irgendwo hier drin finde ich vielleicht noch etwas, das mich diesen Ereignissen von früher näherbringt. Bevor ich mich nun aber von der Situation ganz einnehmen lasse, beschließe ich, die Durchsicht der Ordner für heute zu beenden. Ich muss feststellen, dass es mir gar nicht mehr alleine darum geht, wie ursprünglich beabsichtigt, einen möglichen Geldschein zwischen den Unterlagen zu finden oder vielleicht eine Zeichnung. Nein, inzwischen geht es mir überwiegend darum, etwas zu finden, das meine Gefühle und Emotionen bestätigt, etwas, das auf die Zeit mit Jana und auf den Kontakt zu ihr damals hindeutet.
In den darauffolgenden Tagen ist es mir aus zeitlichen Gründen nicht möglich, im Elternhaus weiterzuarbeiten. Ich hoffe, deshalb auch wieder etwas Abstand zu diesen Gedanken, die mich zugegebenermaßen mehr beschäftigen, als ich gerne zugeben würde, zu gewinnen. Aber weit gefehlt! Ich bin nach wie vor aufgewühlt; so sehr wie schon lange nicht mehr. Die verschwommenen und unvollständigen Bilder von früher gehen mir ständig durch den Kopf. Mein Gedächtnis versucht, die Geschehnisse aufzuarbeiten und längst vergessene Bilder in Erinnerung zu rufen. Jetzt dreht sich alles irgendwie nur noch um Jana. Ich stelle fest, dass erhebliche Lücken in meinen Erinnerungen vorhanden sind, die ich gerne schließen würde und gehe deshalb in meinen Gedanken noch weiter zurück, um vielleicht an noch ältere Erinnerungsfetzen anknüpfen zu können. Was ging denn nun diesen Geschehnissen voraus?
Bei dieser Überlegung schweife ich etwas ab und versuche herauszufinden, ob ich überhaupt in der Lage bin, mich derart weit zurückzuerinnern. Was ist meine älteste Erinnerung, wie weit reichen meine Erinnerungen überhaupt zurück? Und wie ging‘s dann weiter?
Es gibt vier älteste Erinnerungen, bei denen ich noch eine zeitliche Zuordnung machen kann. Das eine ist eine Szene auf einem Parkplatz bei der Fahrt zur Schwester meines Vaters. Im Alter von etwa vier Jahren, vielleicht auch fünf, hatte ich eine „Lurchi“-Figur, mit der ich gespielt hatte. Diese hatte ich im Schuhgeschäft geschenkt bekommen, in dem wir uns alle mit Fußbekleidung eindeckten. Es handelte sich dabei um einen schwarz-gelben Molch aus einem Comicbuch, das von einer sehr namhaften Schuhmarke früher zusätzlich zu den Schuhen vertrieben wurde. Neben anderen Figuren aus diesen Geschichten gab es eben auch diesen „Lurchi“ als Püppchen. Und ihn habe ich an diesem Parkplatz verloren oder vielmehr nur dort liegen lassen, wie das Kinder halt manchmal so machen. Das war dann aber sehr tragisch, weil der ganze Besuch bei der Tante geprägt war von diesem Verlust. Meine Erinnerung ist nun jene: Ich sitze auf dem Rücksitz im Auto meiner Eltern und stelle fest, dass das Püppchen fehlt, und das nur kurz nachdem wir vom Parkplatz weggefahren sind. Meine Eltern waren allerdings der Meinung, dass jetzt nicht nochmal umgedreht würde, nur um diese Figur zu holen.
Die andere Szene spielt ebenso unterwegs: Wir waren zu Besuch bei Mutters Cousinen und sonstigen Verwandten und ich spielte mit den Kindern von dort am Sandhaufen, der sich wegen dortiger Bauarbeiten auf dem Hausvorplatz befand. Das war ein tolles Erlebnis. Eine ganz andere Gegend, in der ich zuvor noch nie war. Mit sehr sympathischen Kindern, die ich bis dahin noch nicht kannte. Und Spielsachen, die ich zu Hause nicht hatte. Vor allem nicht diesen Sandhaufen und auch nicht diese Spielkameraden.
Und noch eine älteste Erinnerung von einem Besuch bei einer anderen Schwester meines Vaters, übrigens gleichzeitig auch in seinem elterlichen Haus, das mittlerweile unter Denkmalschutz steht. Damit ich nicht die gefährlich anmutende Treppe zum Dachboden bestieg, wurde ich vom Onkel immer gewarnt: „Da oben ist ein gaaanz gefährlicher Hund, der dich beißt und frisst, wenn du da nach oben gehst.“ Ich hab‘s nie geglaubt, habe dann aber dennoch Folge geleistet und bin unten geblieben.
In diesen drei Fällen war ich im Alter von vielleicht vier oder fünf, allerhöchstens sechs Jahren. Als dann die Einschulung kam, kann ich mich an so was wie eine Prüfung erinnern. Ich saß dort an einem Tisch vor einem Blatt Papier und einem Stift und der damalige Schulleiter ging so durch die Reihen und gab mir irgendeinen Tipp, was ich nochmals prüfen sollte und zeigte auf das Blatt vor mir.
Danach begann für mich die Schulzeit, eine lange und sehr prägende Zeit mit mehr Tiefen als Höhen. Für mich waren diese Jahre alles andere als schön. Begonnen hat alles mit einem einschneidenden Erlebnis gleich im ersten Schuljahr. Bis dato war ich ein beliebter Junge gewesen, sowohl unter Gleichaltrigen, als auch bei Erwachsenen.
Das änderte sich nach einem Autounfall. Ich saß auf dem Beifahrersitz im Wagen meiner Mutter. Damals gab es noch keine Anschnallpflicht, und Kinder durften auch noch vorne sitzen. Meine Mutter stand mit dem Auto vor einer Baustelle und wartete auf die Möglichkeit, weiterfahren zu können. Ein von rechts kommender Verkehrsteilnehmer fuhr mit voller Wucht auf die Beifahrertür, hinter der ich saß. Mit Gehirnquetschung und Gehirnerschütterung war ich dann fast drei Tage bewusstlos und lag etwa vier bis fünf Wochen im Krankenhaus. Die ersten Gehversuche nach dem Aufwachen waren ernüchternd: Schwindel und Unsicherheit beim Stehen, und Gehen gelang nur mit Festhalten an der Wand. Ich musste in einem Gehwagen wieder laufen lernen! In den darauffolgenden Monaten hatte ich mit erheblichen Kopfschmerzen zu kämpfen. Von da an war mein Tun und Handeln von Unsicherheit und Vorsicht bestimmt.
Das bemerkten auch meine Altersgenossen und Mitschüler und nutzten diese Situation für sich aus. Selbst verstanden sie nicht, was mit mir geschehen war und welche Gründe zu meiner Verhaltensänderung geführt hatten, und nahmen deshalb auch keine Rücksicht. Sie hatten mich ja als einen gesunden Menschen und ehemaligen Kameraden in Erinnerung, den bis zu diesem Unfall nichts umgeworfen hat. Nun war ich ab dieser Zeit derjenige, der aufgrund des vorsichtigen Verhaltens gehänselt wurde. Statt dass ich den Mut aufbrachte, das eine oder andere Abenteuer mit den anderen zu erleben, war ich derjenige, der sich nach außen nichts mehr zutraute. Die Folge war, dass ich alle Freunde verlor und niemand mehr etwas mit mir unternahm. Von da an war ich Einzelkämpfer.
In der Grundschule von Klasse zwei bis vier blieb ich ohne Freunde. Ich bin überzeugt, dass niemand weiß, wie das ist. Ein Leben als Kind ohne Freunde. Das prägt. Von da an konnte ich nur noch alleine spielen. Es ergab sich nicht mehr die Möglichkeit, die ehemaligen Kontakte erneut zu aktivieren. Während andere sich zu grobem Unfug zusammentaten, beschäftigte ich mich mit Malen. Oder Klavier spielen! Ja, in dieser Zeit habe ich begonnen, richtig Klavier spielen zu lernen. Klassische Musik. Nun, ich konnte meine musikalisch-künstlerische Ader so richtig ausbilden. Aber einen Freund hätte ich in dieser Zeit halt auch gerne gehabt. Was hätte ich damals darum gegeben, wenn es nicht so gewesen wäre, wie es war! Sei’s drum, meine Eltern sahen auch, dass ich unter dieser Situation litt und versuchten in unterschiedlicher Weise, mir zu Freunden zu verhelfen. Nur: Wenn es nicht funkt, entsteht nun mal keine Freundschaft.
Neben der Tatsache, dass ich keine Freunde hatte, nahm die Gewalt gegen mich überdies immer mehr zu. Es wurde erkannt, dass ich das Objekt zum Hänseln schlechthin war, als Opfer also bestens geeignet. Einer, der alles mit sich machen ließ und nicht davonlief, weil er nicht fähig war, davonzulaufen. Und vor allem auch einer, der sich nicht wehrte, weil er auch nicht fähig war, sich zu wehren. Ich wurde zunächst gehänselt, später auch von einzelnen Mitschülern geschlagen und getreten. Die Konsequenz war, dass ich an eine andere Schule versetzt wurde. Sagen wir: „Ich wechselte“, denn der Wechsel erfolgte auf Wunsch meiner Eltern und im Einverständnis der Lehrer von damals.
In der neuen Klasse an der anderen Schule gab es keine hänselnden, schlagenden und tretenden Mitschüler. Ich glaube, dass es sicherlich auf die Mentalität, also die persönliche Einstellung Einzelner ankam, wie auch auf die Führungsqualität der Lehrer. Vielleicht aber war ich auch nicht lange genug dort, um Erfahrungen in der Zeit nach der Eingewöhnungsphase zu machen, die sich möglicherweise wieder mit diesen negativen Erfahrungen fortgesetzt hätte.
Am Ende dieses Schuljahres erfolgte dann erneut ein Schulwechsel, diesmal ganz regulär, an eine weiterführende Schule. Und mein Zusammensein mit Schülern in dieser weiterführenden Schule war in der darauffolgenden Zeit geprägt von erneuten Hänseleien mir gegenüber einerseits, aber auch von meiner ersten großen Liebe andererseits. Ich werde das jetzt so stehen lassen, denn dieses Sehnsuchtsgefühl trage ich immer noch in mir: Es war tatsächlich meine erste große Liebe. Anders kann ich mir nicht erklären, warum ich selbst jetzt, nach über vierzig Jahren, wieder diese Sehnsucht in mir spüre.
Die Zeit, in der sich diese Liebe damals entwickelte, war im Grunde sehr kurz. Viel zu kurz. Und um Liebesgefühle zu entwickeln, braucht man keinen Sex. Daran hat niemand von uns gedacht, weder Jana noch ich. Bei mir waren es seelische Gefühle, also dieses gewisse Etwas, das man nur schwer beschreiben kann, das einen lähmt und motiviert gleichermaßen, das da ist, das man aber nicht sieht. Und man begreift es auch nicht, man kann, nein, man muss es einfach nur geschehen lassen. Es nimmt einen mit. Und wenn man davon ergriffen wird, glaubt man, eine Ewigkeit durch Raum und Zeit zu taumeln. Es lässt die Herzen schneller schlagen und verleiht den Betroffenen zeitweise ein Glücksgefühl, wie man es nirgendwo sonst erhalten kann, gleichzeitig entsteht aber auch diese Sehnsucht, die einen nicht mehr schlafen lässt, die einen immer zum Grübeln bringt. Man glaubt, eine Leere irgendwo im Körper zu haben, man fühlt sich einerseits nicht gut und ist trotzdem stückchenweise high, man trägt ständig die Angst in sich, dieses Gefühl oder vielmehr die Ursache für dieses Gefühl, den Geliebten oder die Geliebte also, wieder zu verlieren und so weiter, insgesamt eben sehnsüchtige Liebe.
Das Schlimme dabei ist ja, wir haben uns auch nicht getraut, unsere gegenseitige Zuneigung nach außen offen zu zeigen, warum auch immer. Dafür fühlten wir uns vielleicht doch noch zu jung. Wir haben uns unsere Zuneigung im Verborgenen gezeigt. Und sicherlich gerade auch durch mein falsches Verhalten und meinem fehlenden Mut hatte diese für mich sehr, sehr intensive Zeit ein viel zu schnelles Ende. Fehlender Mut in Bezug darauf, sich dem neuen Abenteuer noch mehr hinzugeben, sich noch mehr gehen zu lassen, das, was geschieht, einfach geschehen lassen und den Lauf der Dinge nicht noch zu bremsen. In dieser Sache habe ich zugegebenermaßen versagt. Ich war zu vorsichtig, ich habe mich nicht getraut, mir hat der nötige Mut einfach gefehlt (meine Schuld, meine Schuld, meine große Schuld). Jana war da anders. Sie hat sich das getraut, wo ich versagt habe.
Für mich folgte dann ein tiefer Absturz, ein Absturz in ein Loch von Verzweiflung, nicht unbedingt Depression, aber durchaus Lethargie und Monotonie. Ich wollte doch nur Liebe geben und habe dafür zu viel erwartet, zumindest für die Zuneigung, die ich ihr gegenüber empfand. Ich habe erwartet, dass sie mir im Gegenzug gleichermaßen dieselbe Zuneigung zeigt und mir gleich viel Liebe gibt und mir vielleicht auch hilft, den Mut aufzubauen, den ich benötigte beim Zuwenden meiner Liebe ihr gegenüber. Aber sie empfand entweder ohnehin keine Zuneigung für mich, was ich nicht glaube, oder sie brach diese Zuneigung damals mir gegenüber ab, weil ich, wie oben schon beschrieben, mutlos versagt habe. Ich stand also wieder mal alleine da, wie zuvor schon. Von dem Moment an, an dem also mein Mut versagte oder ich mich ihr gegenüber in einer sonstigen Geste vielleicht falsch verhalten hatte, ging sie mir aus dem Weg, sie erwiderte keinen meiner Blicke mehr und sie sprach auch nicht mehr mit mir. Was nur konnte ich tun, um meine Liebe zurück zu gewinnen? Auf diese Frage erhielt ich keine Antwort. Ich musste mich mit dieser Situation zunächst mal abfinden, ob ich wollte oder nicht. Aus, Ende Banane. Das war es dann wohl, meine erste Liebe. Kurz und heftig. Aber: Ich durfte sie erleben und vielleicht tiefer und intensiver als andere sich das überhaupt vorstellen können.
Anfang der siebten Klasse begann für mich erneut ein neuer Abschnitt in meinem Schülerleben. Mein neues Zuhause war ein Internat. Dies war ein erneuter Versuch, mich in eine Umgebung zu bringen, wo davon ausgegangen werden konnte, dass leichter Freunde zu finden sind, beziehungsweise Freundschaften leichter geschlossen werden können.
Der Zusammenhalt der Internatsschüler war von vornherein ein ganz anderer. Jeder war zunächst alleine und sich selbst der Nächste. Keiner der Neuen kannte einen anderen. Somit war jeder zunächst unvoreingenommen dem anderen gegenüber. Kameradschaften standen hier nichts im Wege.
In den Schlafräumen standen sechs Betten mit jeweils einem Schrank und einem offenen Regal oberhalb des Kopfteils. Zu Bad und Toilette musste man den Flur entlanggehen. Diese sanitären Einrichtungen waren nur für die Bewohner DIESES Hauses gedacht, also für uns Jungs. Auf dem Gelände des Internats standen nämlich noch weitere Gebäude. In einem der anderen Häuser waren die Mädchen untergebracht, die logischerweise ihrerseits wieder über eigene sanitäre Einrichtungen verfügten. Frühstück, Mittagessen und Abendbrot gab es für alle gleichermaßen im Speisesaal, wieder in einem anderen Gebäude. Nach der Schule und an schulfreien Tagen traf man sich in sogenannten Betreuungs-Gruppenräumen in einem weiteren Gebäude. Die Gruppen waren eingeteilt in Ober-, Mittel- und Unterstufe, ggf. sogar in einzelnen Klassen. Für jede Gruppe gab es einen eigenen Betreuer. Dieser hatte aber nicht nur bei den Hausaufgaben zu helfen. Er hatte fast die Funktion eines Elternteils: Termine für die Schüler zu überwachen und generell dafür zu sorgen, dass diese auf ihre Arbeiten lernten und ihre Hausaufgaben ordentlich machten. Gemeinsame Aktionen wurden geplant, wie beispielsweise abends mal grillen oder eine Schnitzeljagd machen oder miteinander Eis essen gehen und so weiter. Und ich hatte Klavierunterricht einmal pro Woche. Für diese Zeit war ich entschuldigt in der Gruppe.
Die Schule befand sich nicht auf dem Internatsgelände. Die Gymnasiasten besuchten das öffentliche Gymnasium der Stadt, die Realschüler entsprechend die öffentliche Realschule. Der Schulweg bedeutete für mich etwa fünfzehn Minuten Fußmarsch eine Strecke, also eine machbare Sache.
Während der Zeit im Internat habe ich versucht, mit Jana den Kontakt aufrecht zu erhalten. Handy, Smartphone, Computer und Co. gab es damals noch nicht. Über größere Distanzen hat man sich deshalb als Schüler mit echten handgeschriebenen Briefen im Postversand verständigt. Ich kann mich erinnern, dass mir Jana ein oder zwei Mal auf meine Briefe geantwortet hat.
Neben den zu erwartenden „guten“ Freundschaften entwickelten sich im Internat bald auch die „negativen“. Da wurde nur vordergründig eine Freundschaft vorgetäuscht, tatsächlich wurde man bestohlen, betrogen und hinters Licht geführt. Hinzu kam, dass sich die Heimleitung einen feuchten Dreck darum scherte, was die Heimkinder untereinander auszustehen hatten und was da hintergründig und nach außen völlig unbemerkt lief. Aufgrund dieser Probleme, die das Internatsleben so mit sich brachte, und des ausbleibenden Erfolgs bei der Verbesserung der Noten erwogen meine Eltern, mich doch wieder nach Hause zurück zu holen. Von da an, also nach etwa fünf Monaten Internatsleben, durfte ich also wieder heimkehren. Und ich sollte wieder in meine alte Klasse gehen. Ich MUSSTE also wieder zu Holger in die Klasse zurück, der mir das Leben zuvor schon schwergemacht hatte, und ich DURFTE wieder dahin zurück, weil ich dann wieder in der Nähe von Jana war. Ich hatte wohl verdrängt, dass sie von mir nichts mehr wissen wollte. Die Enttäuschung war dementsprechend groß. Aber ich hab’s offensichtlich überlebt, was blieb mir auch anderes übrig. Am Ende der siebten Klasse verließ Jana diese Schule und wechselte selbst in ein Gymnasium mit künstlerischer und musikalischer Ausrichtung. Ab diesem Zeitpunkt verloren wir uns aus den Augen.
Einige Jahre später habe ich Jana noch einmal in den Straßen unserer Stadt beim Einkauf gesehen. Sie huschte an mir vorbei, als ob wir uns nicht kennen würden. Es ist schon möglich, dass Sie mich nicht gesehen hatte. Ich jedenfalls hatte nicht den Mut (schon wieder nicht), ihr einfach „hallo“ zu sagen, denn ich vermutete zunächst, dass sie mich doch erkannt haben müsste und dennoch weiterlief. Daraus folgernd nahm ich an, dass sie von mir noch immer nichts wissen wollte und demzufolge auch keinen Kontakt mehr pflegen mochte. Ich unterlasse lieber meine Kontaktversuche, bevor sich andere durch mich genervt und belästigt fühlen, wenn sie sich dann notgedrungen mit mir unterhalten müssten. Das war meine damalige Überlegung. Nach diesem Motto habe ich in den ganzen folgenden Jahren auch bei anderen Bekannten in ähnlichen Situationen gehandelt und bin dabei in der Regel nicht schlecht gefahren. Da habe ich wohl eine Verhaltensregel gelernt.
Am Ende der neunten Klasse habe ich dann endgültig diese Schule verlassen, in der ich mir mit Mitschülern so schwergetan hatte, und bin auf eine berufsfachgebundene Schule gewechselt, die ich zwei Jahre später mit der Prüfung zur Mittleren Reife erfolgreich abschloss. Ab dem ersten Tag in der neuen Umgebung habe ich Ruhe gefunden und konnte mich verstärkt auf den Unterrichtsstoff konzentrieren. Und meine Noten wurden besser. Darüber hinaus haben sich in dieser Zeit dann auch Freundschaften entwickelt. Ich war ausgeglichener als je zuvor und konnte mich auf meine eigentlichen Aufgaben besinnen. Keine schlägernden und mich ärgernden Mitschüler waren mehr um mich herum; es begann ein neues Leben. Von da an sah ich die Sonne wieder am Himmel scheinen, und auch ich durfte nun endlich erfahren, dass das Leben seine schönen und positiven Seiten haben kann.
Es entwickelten sich plötzlich Freundschaften, echte Freundschaften, wie ich sie bis dahin so noch nicht hatte. Und weil sich darüber hinaus die Noten besserten, fand ich auch Gefallen am Lernen und tatsächlich auch an der Schule. Das war dann auch der Grund, warum ich nach der Mittlere-Reife-Prüfung bis zum Abitur weitergemacht hatte. In jener Zeit hat sich dann meine Kreativität ebenfalls weiterentwickelt. Ich hatte ja auch noch so viel nachzuholen.
Wenn ich das alles nun so rückblickend betrachte, möchte ich meinen, dass es von da an der Schrei nach Leben war. Endlich konnte ich mich freier bewegen, endlich brauchte ich mich nicht mehr den von anderen auferlegten sinnlosen Diktaten und Schikanen in Unterwürfigkeit fügen. Ich hatte jetzt die Möglichkeit, mich zu entfalten. Und es ging plötzlich alles so einfach. Zudem hat sich meine künstlerische Begabung weiterentwickelt. Sowohl in der Musik als auch in der bildenden Kunst. Aber das hatten wir ja schon.