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Rückblick

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Das muss ich jetzt aufschreiben. Jetzt bin ich soweit, dass ich die richtigen Formulierungen finde und mich ordentlich ausdrücken kann. Ob es nun ein Buch wird für die breite Öffentlichkeit oder nur ein Werk für meine persönlichen Erinnerungen und als Nachlass für meine Familie, das weiß ich jetzt noch nicht.

Diese Geschichte jedenfalls beschäftigt mich ungemein. Die Gefühle, die ich entwickelte, waren nicht nur in meiner frühen Jugend so intensiv, sondern seltsamerweise neuerdings wieder, obwohl inzwischen etwa vierzig Jahre vergangen sind. Ich frage mich, warum mich nach dieser wirklich langen Zeit nun immer noch oder wieder ein und dieselben Gefühle einnehmen, wie ich sie früher schon hatte. Was ist passiert, das versucht, mich erneut so sehr zu beeinflussen? Vielleicht bekomme ich hierauf ja noch eine Antwort.

Damit man den Umgang mit einem Sachverhalt leichter begreift und lernt, damit umzugehen, so heißt es, soll man ihn sich aufschreiben. Und das werde ich nun tun. Ich setze mich also an meinen Schreibtisch, starte den Computer und das Schreibprogramm und beginne, diese Geschichte niederzuschreiben. Dass es weit mehr als hundert Seiten werden, ist mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst. Ich werde jedenfalls mit meiner Erzählung an der Stelle beginnen, als ich vor zwei Wochen zu meinem Elternhaus gefahren bin und nach dem Rechten gesehen habe:

Etwas traurig und mit Wehmut betrachte ich die der Straße zugewandte Seite meines elterlichen Hauses, in dem auch ich früher täglich ein- und ausgegangen bin. Es war immer schon ein ruhiger Fleck in dieser Welt, genauso wie auch heute. Die Morgensonne strahlt auf das Haus und legt es in ein anmutiges Anwesen mit gepflegtem Garten ringsum. Hier hat Mutter früher immer jede Blume beinahe gestreichelt und ihr gut zugeredet. Ihr Blumengarten war ihr ein und alles. Als sie dann selbst aus gesundheitlichen Gründen nichts mehr daran richten konnte, sollte ich das alles machen: Blumenbeete und Sträucher pflegen, Rasen mähen und so weiter. Soweit ich konnte, habe ich mich auch rangehalten. Der große Gemüsegarten wurde allerdings zum Rasen, über den ich in den letzten Jahren nur mit dem Rasenmäher gefahren bin. Wir haben uns für die große Rasenfläche einen Aufsitzmäher angeschafft, weil wir ansonsten nicht mehr mit mähen fertig geworden wären.

Wie früher“, geht mir durch den Kopf, „als Mutter noch der Chef hier war und alles selbst gemacht und vieles gemanagt und überwacht hat“. Ja, sie hat auch selbst kräftig daran mitgearbeitet, damit der Garten dann tatsächlich so aussah, wie sie sich das vorgestellt hatte.

Ich ärgere mich über mich selbst: Bin ich etwa nachtragend? Aus dem eben getätigten Gedanken klingt der Vorwurf heraus, dass sie es wohl prächtig verstand, ihren Dickkopf durchzusetzen. In anderen Worten: Alles musste immer nach ihrer Pfeife tanzen, damit das Ergebnis dann auch so wurde, wie sie das haben wollte.

Es war ja auch ihr Garten, und wir, wir alle in der Familie, die ihr tatkräftig immer geholfen haben, wir haben ja auch ein bisschen Gartenhandwerk dabei gelernt. Sie war eigentlich doch eine herzensgute Frau“, versuche ich, meine Gedanken auf die gute Seite zu ziehen. „Sie hat doch immer versucht, jedem nur Gutes zu tun, halt auf ihre Art, …“.

Ich werde jetzt wohl am besten mit dem beginnen, weshalb ich überhaupt hier bin. Mit einem Seufzer bewege ich mich vom Auto weg, gehe durch das Gartentor in Richtung Haustüre. Auf dem Weg dahin nehme ich alle möglichen Gerüche der Pflanzen wahr, an denen ich vorbeigehe. Ja, die Blumen habe ich in den letzten Jahren gar nicht mehr so gerochen. Sicherlich haben diese Pflanzen genauso geblüht und geduftet wie auch jetzt, aber die bisherigen Umstände ließen den Genuss der Natur einfach nicht zu. Seit Mutter weg ist, fällt die Anspannung spürbar ab, bei mir jedenfalls. Sicherlich wirkt sich das auch auf das Empfinden meiner Umwelt aus.

Ich erwäge, zuerst einmal außen herum zu gehen, bevor ich mich im Haus umsehe und biege vor der Haustüre links ab und gehe vorbei an der Außenwand des Wohnzimmers. Auf der linken Seite liegt wieder eines dieser Blumenbeete, die Mutter ehemals angelegt hat. „Wenn ich nur wüsste, was das alles für Blumen und Pflanzen sind“, geht mir durch den Kopf. Wie man das alles anpflanzt hat sie mir beigebracht, aber was das alles ist, welche Blumen das sind, wie die heißen und so weiter, das habe ich bis heute nicht drauf. Im Weitergehen setze ich meine Gedanken fort: „Daran war aber nicht sie, sondern vielmehr ich mit meinem Desinteresse am Gärtnern schuldig“. Ich hatte einfach nicht den richtigen Zugang zu diesem Thema, stelle ich selbstkritisch fest.

Mein Blick wandert in die hintere Ecke am Ende des Gartens. Dort stehen sie immer noch, die Himbeeren, die im Spätsommer wohl wieder tragen werden. Ja, die Namen der Früchte hatte ich gleich drauf. Das liegt wohl daran, dass das etwas zu Essen war. Im Wettbewerb um Geschmack verlieren halt nun mal Blumen schneller als Beeren. Zumindest bei mir.

Ich biege um eine weitere Hausecke und befinde mich schon auf der Terrasse. Eine Gartenbank, ein kleiner Tisch und ein Gartenstuhl laden zum Verbleib ein. Auch hier wieder eine Pflanze: Im großen Topf ein mit wenigen dunkelrosaroten Blüten bestückter, sehr astreicher Strauch.

Die Terrasse könnte man auch mal fegen, geht mir durch den Kopf. Jetzt aber gibt’s Wichtigeres zu Tun. Meine Hand wandert automatisch in die Hosentasche und zieht den Schlüsselbund hervor, den ich eben erst nach dem Aussteigen aus dem Auto eingesteckt hatte und automatisch wähle ich aus etwa acht Schlüsseln den aus, der in die Türe passt, die von der Terrasse ins Haus führt. Für uns war das früher immer die „hintere Türe“ im Gegensatz zur „Haustüre“.

Nach dem Öffnen gelange ich in den Flur. Ein stechend beißender Geruch liegt in der Luft, es riecht insgesamt undefinierbar alt, sicherlich eine Komposition verschiedener Geruchsquellen: Nicht richtig beseitigter Monate, vielleicht sogar Jahre alter Staub, verdorbene Lebensmittel, Urin und Schweiß. „Jetzt ist sie schon zwei Wochen weg und es riecht immer noch so“, stelle ich fest. Sie kam zuerst ins Krankenhaus, dann ins Pflegeheim. Sie konnte einfach nicht mehr zuhause bleiben.

Mein Weg führt direkt in die Küche und ich öffne das Fenster, „Frischluft herein lassen“, ist mein erster Gedanke. Einfach mal durchziehen lassen. Nach und nach öffne ich auch die Fenster in den anderen Zimmern. Damit wird die stehende, schlechte Luft schneller ausgetauscht. „Das können wir zunächst mal so lassen, solange ich da bin“, denke ich und gehe zurück in die Küche. Dort öffne ich den Kühlschrank.

Abgelaufene Lebensmittel quellen mir entgegen. Ich wusste schon lange, dass dieser Moment kommen würde, der nun vor zwei Wochen eingetreten ist und was mir jetzt infolge dessen blüht. Und der Zustand im Kühlschrank ist nur der kleinste Bruchteil von dem allem, was noch vor mir liegt, darüber bin ich mir voll und ganz im Klaren.

Eine Plastikdose mit Wurst ist das erste Teil, das ich aus dem Kühlschrank nehme, es öffne und auf dem Küchentisch abstelle. Die Wurst ist noch in das Papier eingepackt, in die der Metzger sie eingewickelt hatte. Vielleicht hat Mutter schon eine oder zwei Scheiben davon gegessen, der Rest ist jetzt schmierig und eigentlich ungenießbar. Ich hole den Mülleimer aus der Ecke hinter der Türe hervor, in dem bereits Lebensmittelreste vor sich hin schimmeln, um jetzt auch die Wurst darin zu entsorgen. Danach sind Käse, Butter, Marmelade, Konserven und Eingemachtes dran, das auf Mutters Wunsch im Kühlschrank ebenfalls eingelagert wurde. Alles muss jetzt irgendwie auf Genießbarkeit untersucht und gegebenenfalls entsorgt werden. Und das betrifft eigentlich fast alles, was hier zu finden ist. Leider ist so ziemlich alles abgelaufen und demzufolge garantiert auch ungenießbar.

Mutter litt schon lange an Demenz, zuerst schwach, dann immer stärker. Sie konnte einfach nicht mehr alles das überwachen, was überwacht werden musste. Dies betraf insbesondere die Genießbarkeit von Lebensmitteln. Außerdem kam es immer wieder mal vor, dass Brötchen und Brotscheiben im Kühlschrank zu finden waren, einem Ort, an den diese Dinge einfach nicht hingehören. Nun, Mutter war einfach nicht mehr die Jüngste. Allerdings stand sie nicht zu ihren Fehlern und ließ sich demzufolge auch nicht helfen und schon gar nicht belehren.

Sie hielt es auch mit der Körperhygiene nicht so genau. Was war das immer für eine Diskussion, wenn es um dieses Thema ging. Auch der regelmäßige Wechsel der Unterwäsche wurde von ihr torpediert. Das war oft ein Kampf, der einfach nicht hätte sein müssen. Kräftezehrend! Mit Grauen denke ich daran zurück und bin froh, dass diese Zeiten jetzt vorbei sind, zumindest hier zuhause. Ich hätte ihr schon gerne noch einige Zeit in ihren eigenen vier Wänden gegönnt, sie auch gerne weiter gepflegt, wenn dieser Terror, dieses ständige Herumgemosere, die andauernde Unzufriedenheit mit sich und der Welt nicht gewesen wären. Und egal, was man bei ihr und für sie machte: Nichts war ihr recht, ob es aufräumen war, putzen, Geschirr spülen, umräumen bei den Dingen, die sie „versehentlich“ und „irrtümlich“ falsch aufgeräumt hat oder was auch immer.

Jetzt jedenfalls startet für mich nun ein langer Prozess des Aufräumens, der mit der Entsorgung unzähliger nicht mehr genießbarer Lebensmittel beginnt. Dabei macht der Kühlschrank nur den Anfang. Der vor etwa vierzig Jahren eingebaute Küchenschrank mit Ober- und Unterzeile quillt über vor Lebensmitteln, die sich an Stellen befinden, wo sie niemals hätten eingelagert werden dürfen. Wehe dem, der sich dagegen aufgebläht hätte. Mir war klar, dass bei ihr die Sache mit dem Haushalt ausufert, weil sie es einfach nicht mehr auf die Reihe bekommen hat. Aber ich hätte mich niemals dagegen auflehnen dürfen, von wegen die Sache dann selbst angehen und aufräumen und so. Pest und Cholera hätten mich sonst geholt! Mutter hatte wohl geglaubt, sie würde bestohlen werden, oder sie würde arglistig um das gebracht werden, was sie sich hart erarbeiten musste in den vielen Jahren zuvor.

Bemerkbar machen sich die Erfahrungen, die sie wohl kurz nach Kriegsende gemacht haben muss, als es gar nichts gab. In den Läden gab es nichts zu kaufen und wenn doch, dann hatte das Geld nicht gereicht. Sie hat häufig davon erzählt, dass sie oft froh war, überhaupt manchmal etwas zu essen gehabt zu haben, ganz gleich was. Hauptsache war, etwas zwischen die Zähne zu bekommen, insbesondere in der kalten Jahreszeit.

Sie hat auch oft davon erzählt, wie sie und ihr erster Mann, sich gerade in dieser Zeit auch noch ein Haus gebaut haben. Außer dem Grundstück, das ihr Mann nach dem Ableben seiner Eltern erben würde, hatten sie nichts. Eigenhändig mit Spaten und Schaufel hätten sie ausgegraben, hätten gemauert, hätten die Balken montiert und seien freihändig auf den Dachbalken herumgeklettert, als dann das Dach montiert wurde. Sie hatte es sicherlich nicht leicht. Diese Zeiten sind aber nun vorbei, Gott sei Dank.

Kartons, Holz- und Plastikboxen, Kunststoff- und Blechdosen, Eimer und Schüsseln, also alles, in das man etwas entleeren kann, suche ich im Haus zusammen, um die zum Teil bereits über Jahre abgelaufenen Lebensmittel den Vorschriften entsprechend entsorgen zu können. Bei dieser Arbeit begegnet mir wieder in Teilen der Geruch, den ich bei Betreten der Wohnung zu Beginn bereits wahrgenommen hatte.

Ich mache mir doch tatsächlich die Arbeit und öffne jede Verpackung und schütte letztendlich den Lebensmittelinhalt in die Biomülltonne. Die Kartonverpackungen fliegen in den Papiercontainer und die anderen Verpackungen je nach Material in den gelben Sack als wiederverwertbarer Rohstoff, also Plastik, Aluminium und so weiter.

Nudeln, Cornflakes, Pudding- und Soßenpulver, Reis, Klöße, Marmelade-, Gurken-, Zwiebeln-, Paprika- und Bohnengläser, Obst-, Wurst- und Suppenkonserven, die ganzen Gewürze, alles muss entsorgt werden, weil das Verfallsdatum bereits mehrere Monate und Jahre, in Einzelfällen über zwanzig Jahre, bereits abgelaufen ist. Ein paar Blechdosen sind bereits so aufgebläht, dass sie bauchig geworden sind. Zwei davon sind bereits aufgeplatzt und der Inhalt ist ausgelaufen und klebt nun schwarz, wie Pech und Schwefel gleichermaßen, an den Regalteilen.

Was für eine Verschwendung! Was hätte man mit dem Geld alles kaufen können, wenn man es nicht fürs Horten und Anhäufen von Lebensmittel, die hier kaputtgegangen sind, ausgegeben hätte. Mutter ist da irgendwie der Realität entglitten. Die Erfahrung aus der Zeit, in der es nichts gab, hat wohl ihr Verhalten in dieser Hinsicht geprägt. Offensichtlich wollte sie diese Erfahrungen nie wieder machen: Hungern, weil man nichts hat. Die Zeiten entwickelten sich zu unseren Gunsten so, dass wir in unserem Land seitdem alle satt wurden und genug zu essen hatten. Und wie man sieht, werden wir so sehr satt, dass Lebensmittel verderben, „… während es immer noch Länder und Gegenden gibt, in denen Hunger und Not herrschen“, geht mir ergänzend durch den Kopf.

Nach etwa drei Stunden breche ich diese Arbeit ab und nehme mir vor, an einem anderen Tag daran weiter zu machen. Für heute habe ich genug von dem verdorbenen Gestank gerochen. Eine angenehmere Tätigkeit, allerdings auch intellektuell etwas anspruchsvoller, ist die Durchsicht der schriftlichen Dinge. Das aber ist eine Arbeit, die ich einpacken und mit nach Hause nehmen kann. In Schachteln zusammengetragen nehme ich verschiedene Ordner, Hefte, lose Blätter, Fotos, Handaufschriebe, geöffnete und ungeöffnete Briefe vom Schreibtisch aus ihrem Schlafzimmer mit und trage sie ins Auto. Die durch den Briefeinwurfschlitz in der Haustüre geworfene und nun seit einigen Tagen im Eingang liegende Post und die Zeitungen lege ich ebenfalls in eine der Schachteln. Bei der Grobdurchsicht dieser Dokumente erkenne ich, dass ein riesiger Berg an Arbeit noch vor mir liegt: Das erste, was ansteht, sind die Kündigungen von Rundfunkgebühren und Telefon, dann die Ummeldung bei den Kommunen, der Krankenkasse, Rentenstelle und so weiter.

Oh je“, beginne ich zu seufzen und sehe mich ein wenig hilflos in ihrem Schlafzimmer um. Neben dem Schreibtisch steht ihr Bett, dahinter ein total verstaubter Nachttisch, auf dem ein Gebetbuch, daneben ein etwa fingergroßes Kruzifix und ein Rosenkranz liegen. Dem Schreibtisch gegenüber steht ihr Kleiderschrank, der vollgestopft ist mit Kleidung, von der sie das meiste seit Jahren nicht mehr getragen hat, weil sie da einfach nicht mehr reingepasst hat.

Ich erhebe mich langsam und wechsle ins kleine Zimmer, in dem sie sich die letzten Monate und Jahre am liebsten aufgehalten hat. Der Fernseher steht jetzt im Heim in ihrem Zimmer, inklusive des Sideboards, auf dem das Gerät stand. Ein überladener Bücherschrank steht noch an der Wand gegenüber dem Fenster. „Oh Mann, das gibt erst Arbeit …“, grolle ich so vor mich hin.

Auf der Suche nach Behältnissen für die Lebensmittelabfälle habe ich versucht, abzuschätzen, wieviel Arbeit an anderen Stellen im Haus noch anfallen wird, und bin zu der Erkenntnis gelangt, dass eine Woche Urlaub wohl nicht ausreichen wird. Das wird sich auch sehr schnell als eine richtige Vermutung herausstellen. So schließe ich nun alle Fenster wieder und hinter mir dann auch die Türe.

In der kommenden Zeit wird sich vieles ändern, obwohl sich dies zunächst nach außen so überhaupt nicht zeigen wird. Zu diesem Zeitpunkt ist mir noch nicht klar, dass mich überdies auch die Vergangenheit einholen und mich in der darauffolgenden Zeit voll und ganz beschäftigen wird.

Der erste Kuss

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