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Klasse 5 c

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Ich kann es noch gar nicht fassen, hatte ich diesen Teil meiner persönlichen Geschichte doch beinahe vergessen. Da taucht es also wieder auf, das Sprichwort: „Zeit heilt Wunden.“ Das trifft also auch in meinem Fall hier zu. Etwa vierzig Jahre ist eine lange Zeit, in der durchaus erwartet werden darf, dass ein Heilungsprozess stattfindet. Ich habe die damaligen Emotionen in der Zwischenzeit auch überhaupt nicht vermisst. Aber als überaus faszinierend empfinde ich nun die Tatsache, dass plötzlich ein Beben durch meinen Körper geht und gleichzeitig ein kalter Schauer meinen Rücken herunterläuft.

Ja, es hat lange gedauert, bis ich darüber hinweg war. Gelitten habe ich auf ganz besonders heftige Weise. Es war ein sehr intensiver und lang anhaltender, tiefgreifender psychischer Prozess, den ich durchlebt und damals aber nicht als solchen verstanden habe. Ich war jung und unerfahren und für die in dieser Welt eigentlich nur den Erwachsenen vorbehaltenen Probleme noch nicht freigegeben. Vielleicht habe ich gerade deshalb diesen Leidensweg durchschreiten müssen, vielleicht nur, um diese Erfahrung zu machen.

Um was es geht? Nun, um meine erste große Liebe. Was habe ich gelitten, als sie meine Gefühle nicht mehr erwiderte! Das war alles andere als eine schöne Zeit. Ja, und ich war elf. Ich war unerfahren und voller Emotionen, die raus wollten. Ihr wollte ich alle diese guten und positiven Gefühle, die ich für sie entwickelt hatte, geben – und nur ihr. Und dann lernte ich, was es bedeutete, Sehnsucht zu haben.

Dabei hatte sich doch zunächst alles so schön entwickelt. Nach Abschluss der Grundschule war ich in die fünfte Klasse einer weiterführenden Schule in der nächstgelegenen Stadt eingeschult worden.

Schon nach kurzer Zeit entstand eine Freundschaft zu einem Klassenkameraden, wie ich sie bis dahin so noch nicht erlebt hatte. Es war eine richtige Jungenfreundschaft. Siegfried war etwa derselbe Typ wie ich mit gleichen Interessen und gleich alt. Wir hätten zusammen Pferde stehlen können.

Die Freundschaft dauerte leider nicht lange. Seine Eltern zogen weg und nahmen Siegfried einfach mit. Da stand ich nun, wieder ohne Freund. Alle anderen aus der Klasse hatten auch inzwischen untereinander Freundschaften geschlossen und für sich Grüppchen gebildet, in denen ich keinen Platz mehr fand. So stand ich nun außen vor, alleine. Schon wieder alleine! Da war nämlich meine Grundschulzeit noch gar nicht lange her, in der ich auch ständig alleine gewesen war. Alle anderen hatten auch dort ihre Kameraden und Freunde gehabt, nur ich war in den Klassen zwei bis vier immer nur alleine und ohne Freund gewesen. Nun drohte schon wieder eine ähnliche Lage. Was hatte ich nur verbrochen, dass ich ständig das Alleinsein üben sollte?

Nun, ich hatte damals meine Musik. In meiner Freizeit konnte ich ja musizieren auf Teufel komm raus. In der Musik übrigens fand ich einen sehr guten Freund: Die Musik selbst war mein Freund, der einzige richtige Freund, und dieser Freund hat mich auch nie im Stich gelassen. Ohne zu übertreiben möchte ich heute behaupten, dass ich früher ein kleiner Klaviervirtuose war. Es gab niemanden in meinem Alter, der vergleichbar Klavier spielen konnte. Überall gab‘s nur Lob, wenn ich etwas zum Besten gab. Aber es gab auch niemanden, der mich gefördert hätte. Entweder war niemand da, der mich hätte „entdecken“ können, vielleicht hatten meine Eltern etwas dagegen, die nicht wollten, dass mehr als ein Hobby daraus würde, oder ich war doch nicht so gut, wie alle mir gegenüber behaupteten. Vielleicht auch alle drei Gründe.

Mein Klavier war zu dieser Zeit mein bester Freund, mit dem ich mich zu jeder Zeit abgeben konnte und der Kamerad, der mir nichts Böses antat. Habe ich die Tasten des Klaviers gestreichelt, gab es Töne in allen verschiedenen Höhen und Tiefen von sich, laut und leise, und je gefühlvoller ich in die Tasten griff, desto schöner war die Musik, die aus meinem Klavier kam. Ich konnte schon auch beides spielen: nahezu monoton eintönig mit Schwerpunkt Rhythmus oder melodisch gefühlvoll. Die emotionalen Stücke gefielen mir irgendwie mehr, das ist übrigens heute noch so.

Es war ein echtes Klavier, kein elektronischer Schrott, sondern ein echtes, schwarz lackiertes Klavier, allerdings mit Abnutzungsspuren an den Kanten, angesichts der Jahre, die es auf dem Buckel hatte. Es stammte von meinem Vater aus den Anfängen des zwanzigsten Jahrhunderts, war aber noch sehr gut erhalten – und natürlich vom Klavierstimmer gestimmt. Ursprünglich war es mal in Stuttgart gestanden, und die erste Frau meines Vaters, die noch während des zweiten Weltkriegs starb, hatte laut Erzählungen gut und oft darauf gespielt. Nach ihrem Tod hatte es meinen Vater wieder in seine alte Heimat gezogen, und das Klavier nahm er dann einfach mit, möglicherweise als Andenken an seine Frau. Heute weiß ich nicht mehr, ob auch er spielen konnte. Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern, ihn je spielen gehört zu haben. Und eben an diesem Klavier durfte nun aber ich spielen lernen. Im Alter von sieben Jahren begann ich mit klassischer Musik, zweieinhalb Jahre lang. Danach war sozusagen die Luft zunächst mal raus. Ich spielte dann nur noch zum Zeitvertreib, alles Mögliche, was ich gerade so spielen konnte und was ich bis dahin gelernt hatte. Und natürlich auch nur das, was ich spielen wollte.

Später fing ich damit an, mir selbst Stücke beizubringen, nachdem ich mir dazu die Noten besorgt hatte. Nach dem Vorbild meiner Klavierlehrerin, einer überaus engagierten Schülerin des damaligen musikalisch-künstlerischen Gymnasiums in unserer Stadt, habe ich in ähnlicher Weise in den Noten rumgekritzelt, gestrichen und markiert, wie sie es sicherlich auch getan hätte, wenn sie neben mir gesessen wäre und mich unterrichtet hätte. Ich war echt stolz auf mich, schließlich konnte ich jetzt all die modernen Stücke ohne große Probleme nahezu „vom Blatt“ spielen, also ohne zuvor daran intensiv geübt zu haben.

Ich hab’s zwar gemerkt, aber ich wusste nicht, dass die unterschiedlichen Schwierigkeitsgrade unter den Noten beabsichtigt waren. Das war für mich uninteressant, solange das Stück die Melodie hergab, die ich haben wollte. In Einzelfällen fiel mir natürlich schon auf, dass es durchaus gewaltige Unterschiede zur Radioversion des einen oder anderen Stücks gab. Aber ich gab mich dann mit dem Gedanken zufrieden, dass es wohl daran liegen musste, dass ich nur ein Klavier zum Klingen brachte und nicht ein ganzes Orchester oder eine Band.

Dass ich Klavier spielen konnte, war übrigens auch vorteilhaft im Fach Musik. Einmal gut vorspielen zog die Note einer verhauenen Klassenarbeit für den zu berechnenden Schnitt der Zeugnisnote in Musik beträchtlich nach oben. Sicherlich war auch das Spielen anderer Instrumente zugelassen, um den Notendurchschnitt zu verbessern, aber ich kann mich nur an mein eigenes Vorspiel erinnern.

Möglicherweise war aufgrund der damaligen Raumnot ausgerechnet unser Klassenzimmer im Musikzimmer der Schule untergebracht, genau weiß ich das nicht mehr. Jedenfalls stand bei uns ein Klavier im Klassenzimmer. Unsere Klasse war die 5 c. Der Klassenraum war ganz am Ende des Flurs im Kellergeschoss des Schulgebäudes untergebracht. Wenn man darauf zu lief, die letzte Türe rechts.

Nach Betreten des Raumes hatte man direkten Blick zur Fensterfront. Etwa dreiviertel der Aussicht machte ein zum Fenster hin abfallender Hang aus, ein mit Rasen bewachsener Boden. Wir waren ja im Kellergeschoss! Tageslicht fiel dennoch ins Zimmer, sodass ich damals keine Lichtdefizite empfand. Mit einigen Metern Abstand zum Hang verlief oben ein geteerter Fußweg entlang eines Waldes, den wir Schüler offiziell nicht betreten durften.

Das Klassenzimmer war ausgestattet mit reichlich Tischen und Stühlen für Halbwüchsige. Wenn man den Raum betrat, lief man entlang der Wand auf der rechten Seite geradewegs auf das Lehrerpult zu. Dort hing auch die Tafel an der Wand und noch weiter hinten, Richtung Fenster, stand dann das Klavier. Rechts, gleich neben der Türe, befand sich ein Waschbecken in einer Nische und auch ein Abfalleimer. Im hinteren Teil des Raumes standen nicht benötigte Tische und Stühle an die Rückwand geschoben und teilweise übereinandergestellt.

Ich weiß noch, dass sich die Sitzordnung ständig geändert hatte. Mal saßen wir klassisch zu zweit an einzelnen Tischen mit Sicht zum Lehrer, dann wurden die Tische zusammengeschoben, sodass die Schüler im Inneren der Reihe zwei direkte Nachbarn hatten. Dann wurde eine sogenannte U-Form gebildet. Man stellte die Tische also so auf, dass die Tischanordnung als Ganzes im Ergebnis bei einer gedachten Draufsicht wie ein „U“ aussah. Oder es wurden auch mal Gruppen gebildet, indem man zwei oder drei Tische zusammenschob, an denen dann vier bis sechs Schüler saßen. Ich muss heute feststellen, dass unsere Lehrer durchaus flexibel waren und den damaligen neuen Lehransätzen gegenüber aufgeschlossen agierten. Solche „ausufernden“ Sitzordnungen waren zehn Jahre zuvor noch undenkbar gewesen.

Mit Klavierspielen konnte ich auch bei den Mitschülern ein wenig punkten und vereinzelt imponieren. Mir fiel damals auf, dass außer mir in der Klasse nur noch ein Mädchen Klavier spielen konnte, das war die, die auch den Kerl mit den großen Augen und den Schlappohren an die Tafel gemalt hat, Jana. Und das hat mir imponiert. Sie war etwa ein halbes Jahr jünger als ich und sah gut aus. Natürlich waren noch andere gutaussehende Mädchen in der Klasse, aber sie hatte zudem ein gleiches Interesse wie ich: Sie konnte Klavier spielen. Und das machte sie mir aus damaliger Sicht besonders sympathisch: Sie stach aus der ganzen Mädchenriege heraus, sie gefiel mir einfach.

Vielleicht hätte sich eine neue Freundschaft entwickeln können, nachdem Siegfried nicht mehr da war. Eine echte Jungenfreundschaft wäre daraus aber niemals geworden, weil ja nun ein Mädchen „der“ andere war. Was machte man dann also, wenn man am „anderen“ interessiert war? Man warf ein ganz besonderes Auge auf diese Person!

Möglicherweise war anfangs tatsächlich beiderseits nur ein platonisches Interesse am jeweils anderen vorhanden. Wohlgemerkt lediglich an einer ganz normalen Freundschaft zwischen Klassenkameraden, mehr zunächst mal nicht! Sie konnte Klavier spielen, ich auch. Jeder zeigte dem anderen einmal ein neues „einfaches“ Stück, wie man das spielte und, und, und.

Ich glaube, es war das Klavierspiel, das uns aufeinander aufmerksam werden ließ. Sie hätte mein Freund werden können, wäre da nicht auch die Geschlechterrolle mitentscheidend gewesen. Ach, was hat sich der Herrgott nur dabei gedacht, als er die Frauen erschuf – oder vielmehr die Mädchen, aber Jungs sind kein Stückchen besser. In diesem Alter ist doch alles noch so unsagbar kompliziert in der Beziehung zum anderen Geschlecht. Für mich begann eine neue Phase bei der Erkundung der Welt, ohne dass es mir überhaupt bewusst war. Es war sozusagen der berühmte Schubser ins kalte Wasser: Lerne Schwimmen oder gehe unter!

Und es kam, wie es kommen musste. Aus einem Mal Hingucken wurde Flirten, dann kam das verschämte „wieder Weggucken“ und gleichzeitig ein Kribbeln im Bauch. Dann gingen kleine Zettel auf Wanderschaft, sogenannte Liebesbriefchen. Ach ja, damals schrieb man sich tatsächlich noch kleine Zettel mit Nachrichten, die ggf. über mehrere Mitschüler während des Unterrichts weitergereicht wurden, bis es den Adressaten erreichte. Das ging dann einige Male hin und her, bis es einem der dazwischen sitzenden Mitschüler zu dumm wurde und dieser den Zettel auseinanderfaltete, las und den Inhalt des Briefchens herumerzählte und somit den Absender je nach Nachrichteninhalt diskreditierte. Oder der Lehrer beschlagnahmte den Zettel. Das war dann äußerst peinlich, wenn darauf dann tatsächlich Liebeserklärungen zu lesen waren. Aber ich fand es einfach aufregend.

Jeder wollte vermeiden, für den Lehrer erkennbar während des Unterrichts zu reden oder überhaupt negativ aufzufallen. Aber trotzdem musste man dem anderen SOFORT, also noch während der Unterricht lief, irgendwie mitteilen, dass man beispielsweise sein Pausenbrot vergessen hatte, und dass man deshalb beim Pausenzeichen gleich zum Bäcker laufen musste, um sich ein Brötchen zu kaufen. Solche oder ähnliche Nachrichten wurden mittels dieser Zettel übermittelt.

Wenn man so eine Nachricht bekam, konnte man sich übrigens sehr wertgeschätzt fühlen. Schließlich bedeutete dies ja, dass es jemanden gab, der mit einem Kontakt aufnehmen wollte. Wenn ich mir diese Situation aus heutiger Sicht betrachte, hätte die oben erwähnte Nachricht wenigstens noch um die Frage „Soll ich dir auch ein Brötchen mitbringen?“ ergänzt werden müssen, aber diese Frage fehlte. Also war der andere gefordert, zurückzufragen: „Kannst du mir eins mitbringen?“

Da kam aber auch nichts zurück! Das konnte nun mehrere Gründe haben. Entweder war einem nichts eingefallen, was man hätte zurückfragen können (das könnte bei mir der Fall gewesen sein). Oder man wollte sich nicht unnötig in Ausgaben stürzen, wo es nicht unbedingt nötig war, beispielsweise durch den Kauf eines Brötchens, das man gar nicht haben wollte. Oder der Lehrer hatte die Nebensächlichkeiten im Unterricht bemerkt und ständig streng herübergeschielt, sodass man gezwungenermaßen überhaupt nicht hätte antworten können, selbst wenn man gewollt hätte. Die Antwort hätte natürlich wieder per Zettelpost erfolgen müssen, zurück an den Absender.

Etwaige Parallelen zu heutigen Facebook-Einträgen sind nicht gewollt aber durchaus vorhanden. Möglicherweise waren solche Liebesbriefchen oder Zettelnachrichten Vorläufer von Facebook, Twitter, Whatsapp und Co. Jeder, der den Zettel in der Hand hielt, hatte die Möglichkeit, die Nachricht darauf zu lesen, obwohl es ihn ja überhaupt nichts anging. In ähnlicher Weise funktioniert das heute ja auch mit den sogenannten „Social Media“ und den Einträgen, die von einzelnen Nutzern getätigt werden.

Vom Unterrichtsstoff habe ich während solcher Briefchen- und Nachrichtenaktionen nicht viel mitbekommen. Meine Gedanken waren da ganz woanders. „Mut zur Lücke“ würde man heute sagen, denn nachgearbeitet habe ich den Stoff damals nicht. Gut, in der Regel wurde der Stoff mindestens einmal noch wiederholt. Es war ja Klasse fünf. Da mussten die Schüler, die aus vielen verschiedenen Grundschulen kamen, erst auf ein gemeinsames Level gebracht werden. Erst dann war es möglich, den für alle gleichermaßen neuen Lernstoff zu pauken. Diese Vorgehensweise betraf insbesondere die Fächer Deutsch, Mathematik und Englisch. In der Grundschule, die ich zuvor hauptsächlich besucht hatte, war Englisch beispielsweise überhaupt nicht unterrichtet worden. Wir hatten andere Schüler in der Klasse, die in ihrer Grundschule schon zwei Jahre Englisch-Unterricht hinter sich gebracht hatten. Die hatten es ziemlich locker, während ich mich beim Vokabellernen regelrecht abmühen musste, sofern ich das überhaupt in Angriff nahm.

Es gab keine schlimmeren Fächer als die, bei denen man Vokabeln oder überhaupt auswendig lernen musste. Da bei mir der Erfolg in Englisch ausblieb, verlor ich auch recht schnell die Lust an diesem Fach. Es gab niemanden, der mit mir lernte, es gab niemanden, der mir überhaupt mal zeigte, wie man lernt und speziell, wie man Vokabeln richtig und effektiv ZUHAUSE lernt; insbesondere wie man ALLEINE zuhause lernt. Und im Übrigen: In meiner damaligen Abhängigkeit vom Elternhaus und der Unerfahrenheit mit anderen Menschen wog das Wort von zu Hause immer noch mehr, als das der Lehrer in der Schule. Und im häuslichen Umfeld gab es für mich nun mal keine Vorbilder mit Fremdsprachen, denen ich hätte nachstreben können.

Ja, meine Mutter hat mit mir gelernt. Im Deutschbuch zu lesen, das konnte sie mit mir üben. Sie hat auch mit mir gelernt für den Gemeinschaftskundeunterricht aus den Unterrichtsnotizen und parallel unter Zuhilfenahme des Buches und gestützt auf die eigenen Erfahrungen und Kenntnisse. So konnte sie einzelne Themen in diesem Fach mit mir wiederholen. Und in Mathe war sie übrigens auch fit. Die Hausaufgaben konnte sie mitmachen und die Ergebnisse überprüfen. Aber Englisch? Nicht eine Vokabel war sie bereit oder vielleicht auch gar nicht fähig mit mir zu lernen. Und mein Vater war ebenso wenig in der Lage oder willens, mich hierbei zu unterstützen. Da war ich letztendlich auf die angebotene Nachhilfe angewiesen.

Nachhilfe. Wer Nachhilfe benötigte, war unten durch. Der wurde als dumm und untauglich angesehen und abgestempelt. Ich glaube, das ist heute noch so. Und das Problem ist grundsätzlich überall dasselbe: Die Nachhilfe wird erst dann eingeschaltet, wenn schon alle Warnlichter aufleuchten und es beinahe zu spät ist. Hatte ich Nachhilfe in Englisch? Ich weiß es beim besten Willen nicht mehr. Wahrscheinlich nicht, denn sonst hätte ich vielleicht doch bessere Noten in Englisch mit nach Hause gebracht.

Wann ist eine Note gut und wann ist sie schlecht? Ich denke, das ist relativ. Der eine hat hohe Ansprüche an sich selbst, der andere weniger. Ich selbst finde, eine Note ist dann schlecht, wenn sie „schlechter“ als drei ist. Das ist dann nicht mehr „befriedigend“ oder - leicht abgeändert - nicht mehr zufriedenstellend. Und gut ist das dann schon gar nicht. Die geleistete Arbeit ist dann halt schlecht. Eine drei ist also nicht schlecht, aber auch nicht gut. Die guten Noten sind ja selbsterklärend.

Du musst lernen!“ hieß es zu Hause. Aber wie? Und was? Wenn sich erst mal die Frage nach dem „was“ stellt, hat man wohl ein gravierendes Defizit in dem betreffenden Fach. Aber ganz so schlimm war’s bei mir nicht überall. Die Themen waren bekannt, und ich war auch nicht in allen Fächern schlecht.

Im Übrigen haben die Flirt-Sessions zwar psychisch aufgebaut, aber leider auch nicht wirklich zu guten Noten beigetragen. Aber sie haben ein Stück weit schon beflügelt. Man war ganz anders drauf. Mir zumindest ging das so: Da war jemand, der sich für mich interessierte. Oder auf Jana gemünzt: Da ist ein Mädchen, das sich für MICH interessiert. Das hatte es zuvor so noch nicht gegeben. Für mich war das eine völlig neue Erfahrung. Und das damit verbundene Gefühl war ebenfalls neu, absolut neu und aber auch so schön! Und es tat seelisch richtig gut, zu wissen, dass da ein Mädchen war, das sich nicht scheute, sich mit mir zu unterhalten, sich mit mir ans Klavier zu setzen und, und, und. Es war ein neuer Schritt in Richtung Erwachsenwerden.

Niemals hätte ich bei einer Jungen-Freundschaft, wie ich sie anfangs mit Siegfried gehabt hatte, solche Gefühle erlebt. Es wäre eine Freundschaft geblieben, nicht mehr und nicht weniger. Aber bei Jana entwickelte sich das anders. Sie war jetzt mehr als nur eine Klassenkameradin, und ich empfand auch schon mehr als Freundschaft für sie. Das Problem war nur: Ich konnte mit diesem Gefühl noch nicht richtig umgehen. Und weil ich es als mehr als Freundschaft empfand, selbst aber noch nie dieses Gefühl zuvor gehabt hatte, ging ich davon aus, dass es sich hier um Liebe handelte. Nur Liebe konnte so sein.

Wenn ich zu Hause war, hatte ich nur noch Jana im Kopf. Ich sah ihr Gesicht vor meinem geistigen Auge und stellte mir insgeheim vor, sie wollte mich küssen. Wenn ich auf dem Weg zur Schule war, konnte ich es kaum erwarten, sie wieder zu sehen. Wenn ich im Unterricht saß, konnte ich meinen Blick nicht mehr von ihr abwenden. Wenn ich abends ins Bett ging, betete ich noch: „Lieber Gott, beschütze sie und lass sie meine Freundin sein.“ Das Eine durfte das Andere keineswegs ausschließen. Wie nennt man denn nun dieses Verhalten oder diesen Zustand? Ja, ich war verliebt, Hals über Kopf, bis hinter beide Ohren.

Aber es gab auch einen Widersacher in der Klasse. Er war kleiner als ich, hatte glattes, blondes Haar, war rotzfrech und mein größter Feind. Es gab nichts, das er unversucht ließ, um mich in Misskredit zu bringen oder generell mich zu diskriminieren. Nahezu täglich gab es Hänseleien und Mobbingattacken mir gegenüber in jeder nur denkbaren Art und Weise. Insbesondere dann, als er merkte, wo und wie man mich am besten verletzen konnte. Und ich war natürlich so blöd und habe auf seine Sticheleien genau so reagiert, wie er es haben wollte, nämlich als Unterlegener, als derjenige, der vorzeitig im Streit das Handtuch schmiss und aufgab.

Das kam nicht von ungefähr. Genau so wurde ich nämlich auch erzogen. Nach christlichen Grundsätzen. Nein: nach katholischen! Mutter legte da sehr viel Wert darauf, dass ich KATHOLISCH erzogen wurde. Der sonntägliche Gang zur Kirche war Pflicht und das, was gepredigt wurde, sollte strengstens beachtet werden! Es ging ihr also nicht nur darum, zu verstehen, sondern das Gehörte auch zu leben, am besten so, wie es gepredigt worden war und nicht anders. Und das auf Teufel komm‘ raus.

Und der kam. In Form dieses blonden Giftzwergs, der mir keine frohe Minute mehr gönnte. Ich weiß heute noch nicht, warum gerade ich das Opfer für den Terror war, den er verübte. Andere Schüler waren, soweit ich das in Erinnerung habe, nicht von seinen Attacken betroffen.

Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, so halte ihm auch die linke hin (Matthäus 5, 39)“. Nach diesem biblischen Motto habe ich mich dann auch verhalten und viele „blaue Wunder“ erlebt! Ich wollte dann auch sterben wie Jesus. Vielleicht nicht am Kreuz, aber ich wollte in gleicher Weise verraten und gelyncht werden, um damit ein Exempel zu statuieren, damit ich meinem Widersacher, nennen wir ihn Holger, eins auswischen kann, in der Hoffnung, dass dieser daraufhin verhaftet werden würde und dafür bezahlen müsste, für das, was er mir angetan hatte. Und ich wollte der Nachwelt zeigen, dass die Gesellschaft um mich herum den Teufel, in gleicher Weise wie bei Jesus, gewähren ließ und mich durch Untätigkeit und Hilfeverweigerung dem Tod auslieferte.

Welch hirnrissige Vorstellung ich doch damals vom Leben hatte … Und ich vermute, dass das nur von der Erziehung kam, die ich genießen musste. Und hatte ich denn eine Wahl? Vielleicht hätte ich mich einmal bei anderen Eltern bewerben sollen! Ich glaube, es verging kein Tag, an dem ich nicht eine dieser Attacken von Holger ertragen musste. Und die Schwäche, die ich ihm gegenüber zeigte, stärkte ihn in seinem Tun und motivierte ihn nur noch mehr in seinem Handeln. Letztendlich also war ich eigentlich selbst schuld an dieser Situation – oder der Glaube, den man mich lehrte und die Erziehung von zu Hause und der Unfall, der das ganze Schlamassel am Anfang meiner schulischen Laufbahn ausgelöst hatte, auf den ich später noch einmal zu sprechen komme.

Die Tatsache, dass ich den Märtyrer spielen wollte, brachte mir bei Jana auch nicht gerade besonders große Sympathien ein. Dass sie dann aber ausgerechnet mit meinem Widersacher zu flirten begann, war für mich überaus schmerzhaft. Dieser seelische Schmerz tat mehr weh als die verbalen Entgleisungen, Tritte und Schläge, die ich von Holger ohnehin ertragen musste. Zumindest ließ er mich glauben, dass Jana mit ihm und er mit ihr flirtete und die beiden sozusagen miteinander gingen, und das setzte mir schon extrem zu.

Der Rest der Klasse hielt sich aus diesem Konflikt eigentlich heraus. Ich glaube, jeder wusste Bescheid. Einerseits wollte keiner dem anderen schaden und andererseits wollte auch niemand in den Konflikt mit hineingezogen werden. Irgendwie, so hatte ich das Gefühl, hatte aber gerade der mit dem größten Maul doch den größeren Rückhalt bei den anderen. Und das war halt nun mal nicht ich, sondern Holger.

Ich fühlte mich wie Charlie Brown von den Peanuts, nur dass Charlie Brown wenigstens noch seinen Hund Snoopy hatte und den zweitbesten Freund Linus, den mit der Schlafdecke. Aber vielleicht hatte ich ja noch das Zeug zu einem großen Star; in gleicher Weise wie Charlie Brown, der davon auch immer geträumt hatte.

Zuerst ging Siegfried, dann verlor ich Jana. Und trotzdem war ich nicht alleine! Das stimmt, ich fühlte mich nur so. Warum nur? Dass die anderen ja auch noch da waren, das war für mich zum damaligen Zeitpunkt nicht relevant. Ich war jetzt zu sehr mit dem „Verlust“ von zwei Freunden beschäftigt. Wir waren über zwanzig Jungs und Mädchen in der Klasse, und es gab noch mehr Sympathien untereinander, auch mir gegenüber, das wusste ich, das habe ich auch bemerkt, aber ich hatte nicht das geringste Interesse, mich alternativ damit zu begnügen. Stattdessen trauerte ich Jana hinterher. Was war ich bescheuert! Katrin wäre sicherlich auch keine schlechte Partie gewesen. Nein, ich wollte an Jana festhalten. Und dieses Verhalten war für mich auf Dauer fatal. Ich habe mich immer mehr nach Jana „kaputt“ gesehnt. Es lässt sich überhaupt nicht beschreiben, wie mich das ganze psychisch fertiggemacht hat. Das war übrigens so die Zeit, in der ich alle möglichen Zustände bekam: Begonnen beim Bauchweh ohne Grund, über unzählige Pickel im Gesicht, bis hin zu Angstzuständen und Alpträumen.

Schweißgebadet lag ich manchmal im Bett und brüllte wie am Spieß: „MAAAMAAA!“ Zuvor war mir aufgelauert worden, und als ich den Hinterhalt bemerkt hatte, kam ich nicht mehr vom Fleck weg. Wie gern wäre ich weggelaufen, aber ich konnte einfach nicht. Es war unmöglich, der drohenden Gefahr zu entkommen. Und die Verbrecher kamen alle immer näher und näher und am Ende ganz bedrohlich so nah, dass ich daran dann aufgewacht bin! Diesen Alptraum habe ich so oft geträumt. Tatort: Um unser Haus rum, im Vorgarten, auf der Straße vorm Haus. Die Bedrohung war im grunde zuhause.

Den folgenden Traum habe ich auch sehr häufig geträumt: Auch hier wieder der Tatort das Zuhause, diesmal aber im Haus drinnen. Ansonsten ein ähnlicher Sachverhalt: Im Haus konnte ich mich zunächst einmal verstecken, aber die Bedrohung kam dennoch immer näher und fand mich letztendlich doch. Mir geschah dann nichts, weil ich aufwachen durfte. Aber das waren alles andere als gemütliche und schöne Träume.

Und Pickel! Ach, die könnten natürlich auch daran schuld gewesen sein, dass mich niemand mochte. Ich sah aus wie ein Streuselkuchen. Kleine rote Pusteln überall im Gesicht mit teils richtig ekligen Eiterbläschen, die manchmal platzten. Dann lief zuerst der Eiter raus und später Blut. Klar, wer will sich schon mit so einem abgeben? Wer mag so jemanden? Wer will so jemanden denn überhaupt küssen oder auch nur in den Arm nehmen? Und außerdem: Warum traf denn immer mich das Unglück?

Dass ein Pickel auch manchmal schmerzt, wäre sicherlich noch verkraftbar gewesen. Aber die damit einhergehenden negativ geprägten designerischen Begleiterscheinungen im Gesicht machten das Leben erst richtig zur Hölle. Nach dem morgendlichen Aufstehen verging mir schon die Lust, wenn ich das erste Mal am Tag in den Spiegel blickte und feststellen musste, dass bereits wieder zwei neue Pickel heranwuchsen. Ein Übel kommt offensichtlich selten allein. Das war damals wohl auch so. Ja, ich kam mir vor wie ein Aussätziger. Mitleidige Blicke an der Bushaltestelle, im Bus, beim Einkaufen und, und, und.

Zunächst bekommt man von allerlei Personen aus dem eigenen Umfeld Ratschläge, wie das Problem angepackt werden könnte: Ich solle alle halbe Stunde mein Gesicht waschen und auf Schokolade sei strengstens zu verzichten! Dann wurde mir empfohlen, die Pickel wachsen und von alleine austrocknen zu lassen; denn sie auszudrücken würde Narben geben. Das stimmt außerdem tatsächlich. Jahre später wurden von einem Hautarzt vorsichtig meine Pickel aufgeritzt und ausgedrückt. Das war nicht nur schmerzhaft, sondern hinterließ dann tatsächlich ganz hässliche Narben. Und außerdem sollte ich auf scharfe Sachen verzichten! In meinem jungen Alter konnte sich der Begriff „scharfe Sachen“ nur auf Nahrungsmittel beziehen. Da mein Vater ein Nierenproblem hatte, konnte Mutter nie scharf kochen. Also brauchte ich nicht explizit auf Scharfes zu verzichten, da ich dies ohnehin schon mein Leben lang getan hatte - bis dahin und im Übrigen auch darüber hinaus.

Ich war damals außerdem eines der wenigen Kinder, die keine Schokolade mochten. Ich weiß nicht warum, aber ich mochte sie einfach nicht. Das lag vielleicht auch daran, dass mir nur die weniger gute, „billige“ Schokolade zugänglich gemacht wurde oder ich einfach mal ein Stück Schokolade bekam, dessen Verfallsdatum schon beträchtlich überschritten war, und das deshalb nicht schmeckte. Und das prägte lange anhaltend.

Und dann sollte ich mein Gesicht waschen, sooft ich nur konnte. Wahrscheinlich hat‘s nicht gereicht, denn die Pickel gingen einfach nicht weg. Dies zog sich übrigens noch jahrelang hin, bis ins mittlere Erwachsenenalter, bis dann auch die letzten Pickel aus meinem Gesicht verschwanden. Dazwischen lagen noch viele Versuche aller Art, auch medizinische, das Pickelproblem anzupacken. Ich zog von Pontius zu Pilatus und keiner konnte mir helfen, bis dann ein ehemaliger Hausarzt auf die Idee kam, eine Eigenblutbehandlung durchzuführen. Hierzu holt man also etwas Blut aus der Vene, mischt ein Serum dazu und spritzt das ganze wieder irgendwo in den Oberarm, und das jede Woche einmal, in einem Zeitraum bis zu zwei Jahren oder noch länger. Und das hat doch tatsächlich geholfen. Ich glaube zumindest, dass es geholfen hat. Es könnte natürlich auch daran gelegen haben, dass ich das Alter erreicht hatte, an dem das Pickelproblem von alleine zu Ende gegangen wäre. Jedenfalls wurde es von da an besser.

Die Pickel haben mir seinerzeit das letzte Stück Ehre geraubt. Ich wurde unsicher und schüchtern anderen gegenüber. Wo ich in jungen Jahren vor dem Unfall, auf den ich gleich noch zu sprechen kommen werde, derjenige war, der im Kindergarten andere Kinder getröstet hat, Streitigkeiten geschlichtet hat, Kameraden zum gemeinsamen Spiel aktiviert hat, lernbegierig war und offenherzig anderen gegenübergetreten ist, wurde ich nun unsicher, schüchtern, still und zurückgezogen. Das Leben hat mir in jener Zeit einen Dämpfer nach dem anderen zugesetzt, was meine persönliche Entfaltung damals in jeder Hinsicht erheblich gebremst hat.

Die Problematik mit den Pickeln betraf im Übrigen aber nicht nur mich. Das konnte ich im Laufe der Zeit feststellen. Andere hatten auch Pickel und haben sich offensichtlich ebenso wenig ausreichend gewaschen - gemessen an den Empfehlungen, die andere so von sich gegeben hatten. Das mit dem Waschen war jedenfalls ein saudummes Argument!

Der erste Kuss

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