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Bildende Kunst
ОглавлениеMit drei Plastikkisten bewaffnet steige ich zwei Treppen hoch, damit ich die im Schrank auf dem Dachboden befindlichen Aufschriebe, Ordner und Hefte aus meiner Schulzeit einpacken und nach unten tragen kann. Mit diesen drei Kisten kriege ich aber gerade die Hälfte der Schulaufschriebe weggetragen, die da zu finden sind.
Diese Kisten sind sehr praktisch. Bei der Post, bei der ich beschäftigt bin, werden darin Briefe transportiert. Sie haben die ideale Größe für den Transport von gerade auch solchen Dingen wie Ordnern und Heften in größeren Umfängen.
Im Laufe meines Lebens habe ich schon so oft die Erfahrung gemacht, dass gerade dann, wenn ich etwas weggeworfen (neudeutsch: entsorgt) hatte, es kurz danach doch noch hätte gebrauchen können. Bei meinen Schulaufschrieben wollte ich nicht denselben Fehler machen. Nichts wird weggeworfen, was nicht zuvor gut durchgesehen wurde. Wer weiß, was da noch alles versteckt sein kann. Nicht, dass jetzt der Eindruck entsteht, ich würde den ganzen Stoff nochmals pauken wollen: Es könnte sein, dass noch der eine oder andere Geldschein auftaucht oder vielleicht ein wichtiger Brief, ein Kunstwerk, …
Ein Kunstwerk! Klar. Mann, ich erinnere mich. Während so langweiliger Unterrichtseinheiten wie Geschichte oder Deutsch, bei denen man ohnehin nichts lernt, habe ich mich oft nebenher mit dem Skizzieren von Gesichtern beschäftigt. Die Skizzen waren dann auch tatsächlich so gut, dass die dargestellten Personen wirklich zu erkennen waren. Und die sind hier irgendwo verstreut in diesen Ordnern. Ja, diese Zeichnungen möchte ich behalten. Vielleicht stelle ich sie ja mal aus.
Solche Zeichnungen habe ich immer auf der Rückseite von Kopien erstellt. Das waren leere, weiße Seiten im DIN-A4–Format und boten ausreichend Platz für diese Nebenbeschäftigung, weil in der Regel nur eine Seite des Blattes bedruckt war. Deshalb wird es ausreichen, die bislang in den Ordnern eingehefteten und nun entnommenen Blätter als Stapel kantengleich durchzublättern, also die Kante am Finger abrutschen zu lassen. Durch geschicktes Verbiegen des Papierstapels erhält man einen kurzen Blick auf die Rückseite jedes einzelnen Blattes. Ebenso sieht man die Vorderseite beim Durchschnippen. Man kann die Seite zwar nicht lesen, aber man sieht, ob etwas darauf geschrieben steht, ob es sich um eine weiße leere Seite handelt oder ob sich eine Zeichnung darauf befindet. Das reicht. Etwaige Skizzen können dann noch einmal extra nachgeschlagen werden, falls das Durchblättern zu schnell ging. Also, ich mache es mir so gemütlich, wie es gerade so geht und beginne, den Stapel mit losen Blättern zu untersuchen, die Themen bereithalten, die ich wie die Pest leiden kann, wie in Deutsch beispielsweise. Mit einer gefühlsmäßig ausreichenden Anzahl an Blättern aus dem „Lose-Blatt-Stapel“ beginne ich die Suche.
Mit nur kurzem Durchschnippen der Blätter ist es nun aber doch nicht getan. Mich interessieren tatsächlich die Themen noch einmal. Was da alles zu finden ist, und alles ist durcheinander. Neben den Themen im Fach Deutsch, worüber ich mich ja schon ausgiebig ausgelassen habe, finde ich Programmlistings in Basic, der damaligen Programmiersprache im Fach Datenverarbeitung. Dann ist eine Wirtschaftslehre-Klausur dabei, deren Note ich lieber nicht erwähne und eine Liste von Dingen, die wohl für eine Klassenparty besorgt werden sollten. Zwischendurch sind auch tatsächlich mal unterrichtsbezogene Notizen aber auch schon wieder eine weitere schlechte Note. Nun, ich hatte es wirklich nicht leicht! Mit meinem geistigen Auge sehe ich soeben einen meiner ehemaligen Englischlehrer vor mir. Gott sei Dank sind diese Zeiten vorbei, denke ich und lege - mit dem obersten Blatt voran - die Blätter nach der Durchsicht kopfüber auf den Tisch, um weitere Blätter aus dem anderen Stapel aufzunehmen. Ich finde nochmals Notizen zum Fach Deutsch, ansonsten Geschichte und vor allem viel Mathematik. Aber keine Zeichnung. Ebenso im nächsten Papierbündel. Aber dann … Tatsächlich: eine Bleistiftzeichnung. Das war wohl eine Mitschülerin, wenn ich nur noch wüsste, wie sie hieß. Ach, bin ich vergesslich! Und noch eine Skizze, gleich danach: Das war ein Lehrer. Ich glaube, er hat Volkswirtschaftslehre unterrichtet, möchte mich aber nicht festlegen, ist ja auch egal. Zumindest weiß ich nun, dass ich in diesen Unterlagen fündig werden kann. Mit jedem neuen Papierbündel überfliege ich den alten Mist nochmals und wiederhole somit ungewollt stichwortartig den Stoff, den ich inzwischen vergessen habe.
Normalerweise müsste mich das schlechte Gewissen plagen: Habe ich mich doch damals nicht oder nicht ausreichend auf den Unterricht konzentriert und stattdessen die Gesichter anderer Leute skizziert! Hätte ich das aber nicht getan, hätte ich sicherlich keinen Grund gehabt, jetzt stichprobenartig den Stoff von damals noch einmal zu wiederholen. Nur helfen mir die Inhalte dieser Aufschriebe heutzutage überhaupt nicht mehr weiter.
Kunstunterricht übrigens war Mangelware an unserer Schule, zumindest an den berufsorientierten Schulen, die ich besucht habe. Ich weiß ganz ehrlich nicht, warum ich gerade die wirtschaftswissenschaftliche Richtung bis zur Mittleren Reife und danach bis zum Abitur gewählt habe, während meine Begabungen in eine ganz andere Richtung tendierten. „Wer wirtschaften kann, wird niemals Geldprobleme haben“, habe ich noch in den Ohren. Schön. Dazu dürfen sich aber die Zeiten nicht so ändern, wie sie das getan haben. Inzwischen hat sich der Wert der D-Mark mindestens halbiert und heißt jetzt Euro. Das erste, was aber in Euro so viel gekostet hat, wie zu D-Mark-Zeiten, waren Schuhe und der Friseur. Die meisten anderen Güter haben dann nachgezogen. Wie soll ich aber erfolgreich wirtschaften, wenn ich ein paar neue Schuhe benötige und nur noch die Hälfte verdiene? Und die Sandalen vom Sommer im Winter anzuziehen, war nur zu Beginn unserer Zeitrechnung modern.
Kunst gab es von Klasse eins bis neun. Von den in dieser Zeit erstellten „Kunstwerken“ existiert nicht eines mehr. Der Wert solcher Kunstgegenstände wurde damals (und das wird heutzutage in der Regel immer noch so gehandhabt) von den Familienmitgliedern mehr kritisch als wohlwollend beäugt. Die im Kunstunterricht angefertigten Bilder wanderten alle in den Müll. In späteren Jahren hatte ich keinen Kunstunterricht mehr. Umso mehr aber habe ich mich gerade dann für Kunst interessiert, und habe mich selbst künstlerisch betätigt.
Der Kunstbegriff geht ja weit auseinander und unterliegt sehr kontroversen Ansichten und Verständnissen. Auch ich bin eher kritisch als wohlwollend. Ein Streifen und ein „dicker“ Ball oder Kreis mit leichten Farbveränderungen auf dunklem Hintergrund. So sehe ich eines der Kunstwerke, die ich im Internet gerade betrachte. Und sich dazu eine Bezeichnung zu überlegen, die jeden Betrachter umhaut: „Metapher Zahl 6“. Frage: Was um alles in der Welt ist daran Kunst? Vielleicht existieren auch noch die restlichen neun Ziffern in ähnlicher Weise, dass es wenigstens irgendwie zusammenpasst.
Es geht aber noch besser. Man stelle sich zunächst ein leeres DIN A4-Blatt Papier vor und ziemlich genau in der Mitte des Blatts ein kleines ausgemaltes Fünfeck, nicht größer als ein Quadratzentimeter. Was für eine Platzverschwendung! Ein großes Blatt Papier mit einem so kleinen Motiv. Oder ist das „NICHTS“ die Kunst? Diese Leute wollen das verkaufen, für Geld! Da steht doch tatsächlich ein Preis dran, am Original. Ich verzichte hier bewusst auf dessen Nennung, weil ich nicht auch noch Werbung dafür machen möchte.
Typisch für Künstler ist, dass sie permanent in Geldnot verharren. Es sei denn, sie haben sich einen Namen erarbeitet wie beispielsweise Joseph Beuys, Gunther von Hagens (weltweite Kunstausstellungen „Körperwelten“) und einige andere mehr.
Sigmar Polke beispielsweise hatte für so manches künstlerische Werk nicht einmal ein leeres Blatt Papier oder – wie ich – die Rückseite einer Kopie zur Verfügung, um sein Kunstwerk standesgemäß zu erstellen. Er musste aus einem Heft mit karierten Blättern die innerste Seite heraustrennen, um seine Zeichnung machen zu können. Erkennbar sind die von den Metallklammern durchgestoßenen Löcher im senkrechten Falz. Gefunden habe ich das alles unter „www.korff-stiftung.de“.
Einer anderen Form von Kunst bedient sich „Christo“. Schon mal gehört? Das ist derjenige, der alles einpackt, und zwar im ganz großen Stil: den Reichstag in Berlin beispielsweise. Meine Mutter übrigens hatte diese Idee schon viel früher! Sie hat in meinen jungen Jahren täglich das Pausenbrot für mich eingepackt – in Butterbrotpapier. Das sah vielleicht nicht ganz so gewaltig aus, machte aber einen wesentlich größeren Sinn. Ein Bauwerk einpacken… Was für ein Aufwand für nix, aber auch für gar nix! Wie viele Menschen verhungern täglich, weil es ihnen einfach an Essen und Trinken fehlt. Wie viele Menschen erfrieren, weil Umweltkatastrophen oder Krieg ihr Hab und Gut zerstört haben und sie buchstäblich auf der Straße liegen? Und dann kommt einer daher, der sich Künstler nennt, und verhüllt für ein paar Hunderttausend oder Millionen Dollar und Euro irgendwelche Bauwerke, während Krieg, Hunger und Frost Menschen umbringen! Ich verstehe diese Welt nicht mehr. Oder sind es die Menschen, die ich nicht verstehe? Gerade die betroffenen Menschen verstehen sicherlich ihre eigenen Artgenossen, die sich Künstler nennen, nicht. Ich sehe Parallelen zum Turmbau zu Babel, einem Kunstwerk aus Urzeiten, bei dem sich die Menschen untereinander wahrscheinlich aus vergleichbaren Gründen nicht mehr verstanden. Darüber hinaus gibt es dann noch diese Leute, die sich diese Kunst ansehen und dafür auch noch Geld ausgeben, gegebenenfalls sogar irgend so ein Teil des Künstlers kaufen. Nicht gerade den Reichstag, aber vielleicht ein Stück der Hülle, die um den Reichstag gewickelt war. Das sind Leute, die einfach zu reich in einem reichen Land sind und offensichtlich nicht wissen, was sie mit ihrem Geld noch machen sollen. Mir fehlen da einfach die Worte.
Ich habe mal gegoogelt, was überhaupt unter Kunst so verstanden wird. Dazu wird mir bei Wikipedia erklärt, dass es neben der bildenden Kunst noch weitere Gattungen gibt, die sich auch als Kunst verstehen. Musik und Literatur gehören beispielsweise auch dazu. Seitdem ich diese Erklärung gelesen habe, weiß ich, dass ich damals, als es darum ging, eine grundlegende Richtung in meinem Leben einzuschlagen, eine völlig falsche Entscheidung getroffen habe. Ich hätte Künstler werden können, stattdessen wurde meine persönliche Weichenstellung von Seiten meiner Eltern sorgfältig mit Argumenten so vorbereitet, dass ich genau den Weg dann gegangen bin, den sie sich selbst für mich vorgestellt hatten und der halt nun mal nicht in Richtung Kunst gezeigt hat.
Eine weitere dieser Kunstgattungen ist also die Musik. In meinem siebten Lebensjahr habe ich begonnen, Klavierunterricht zu nehmen, das ist bald fünfzig Jahre her. Seitdem übe ich dieses Hobby aus. Mir wurde schon in jungen Jahren oft bestätigt, ich hätte eine hohe musikalische Begabung. Aber niemand wollte mich fördern und niemand zeigte mir, wie ich noch mehr aus mir hätte machen können. Und warum? Dabei wäre ich schon gerne etwas großes Musikalisches geworden. Ich glaube, ich hätte durchaus das Zeug dazu gehabt. Vermutlich aber waren alle meine Bezugspersonen ebensolche Kunstbanausen derart, wie ich auch mich gerade ausgelassen habe.
Aber egal jetzt, ich blättere weiter in meinem Papierstapel auf der Suche nach Kunst aller Art, die während des Unterrichts in Fächern zu kunstfremden Themen entstand und ich wurde wieder fündig. Nicht nur Lehrer waren „Opfer“ meiner künstlerischen Ader. Nur allzu gerne habe ich die schönen Gesichter der Mädchen in unseren Schulklassen versucht zu zeichnen, was mir allerdings zugegebenermaßen nur selten richtig gut gelang. Und neben den Zeichnungen von Personen aus meiner damaligen Umgebung finde ich auch Abstraktes: Bilder, die überwiegend mit dem Zirkel entstanden sind oder Skizzen, deren Grundlage die karierten Kästchen der Blätter waren, auf denen ich meine Aufschriebe während des Unterrichts oder zu Hause hätte machen sollen. Diese Zeichnungen stammen, wie auch die meisten anderen, aus der Zeit während ich das Gymnasium besucht habe. Aus den Zeiten davor existieren keine Zeichnungen.
Plötzlich stoße ich auf eine Zeichnung, die in mir etwas auslöst, was mich letztendlich zum Schreiben dieses Buches veranlasst. Ich weiß bis heute noch nicht, was das für ein Wesen darstellen soll und wo diese Zeichnung entlehnt wurde, Buch, Film, Karikatur oder Comic. Wenn ich meiner Fantasie freien Lauf lasse, könnte ich darin einen Hund mit großen treuen Augen und Schlappohren sehen. Es könnte sich aber auch um ein entenähnliches Wesen handeln, das einer Comicfigur abgeguckt wurde.
Begegnet ist mir dieses Wesen das erste Mal in der fünften oder sechsten Klasse meiner damaligen Schule. Diesen Kopf habe zwar ich gezeichnet, die Idee für diese Zeichnung stammte damals aber von einer Mitschülerin, die später noch die Hauptrolle in diesem Buch spielen wird. Jana, so nenne ich sie hier, konnte diesen Kopf in kürzester Zeit an die Tafel bringen.
Unser Freund hier scheint wohl etwas unglücklich zu glotzen, vielleicht wegen des Knotens im Ohr. Das oder der Frosch im Hals, etwas verursacht jedenfalls sowohl das Stirnrunzeln als auch die weit geöffneten Augen und den verzagten Mund.
Die ursprüngliche Darstellung dieser Figur hat zwei hängende Schlappohren, vergleichbar mit den Ohren eines Dackels, keinen Frosch im Hals und im Gegensatz zu dieser Abbildung einen richtig lächelnden Mund. Der Knoten im Ohr war damals meine Idee, abstammend von einer Figur aus einer Fernsehsendung, die den Titel „Der große Preis“ trug. Die Trickfilmfigur „Wum“, ein Hund mit Knoten im Ohr und Kussmund wünschte den Zuschauern damals viel Glück bei der Fernsehlotterie.
Ich sehe diese Zeichnung und bin in Gedanken sofort wieder da, an der Stelle, wo das begann, was mich in den nächsten Wochen, Monaten und sogar Jahren noch beschäftigen wird. Eine halbe Ewigkeit sehe ich mir dieses Bildchen an. Die Bilder von damals, zuerst verschwommen und undeutlich wie im Nebelgrau, beginnen, sich zu sortieren, deutlicher zu werden und langsam, wie in Zeitlupe, vor meinem geistigen Auge nun als Film abzulaufen.
Bislang nach vorne gebeugt, um möglichst effizient die aufgenommenen Papierblätter durchzuarbeiten, lehne ich mich auf meinem Stuhl zurück und betrachte diesen Kerl, der vom Papier aus in gleicher Weise zu mir zurückstarrt. Was er mir wohl sagen möchte? Vielleicht „warum musste ich so lange warten, bis du mich findest?“
So korrigiere ich meine Haltung in eine noch angenehmere Position und lasse der Vergangenheit die Möglichkeit, die Zellen in den alten und grauen Regionen meines Gehirns sich neu zu orientieren.