Читать книгу Hermeneutische Ethik - Bernhard Irrgang - Страница 10

Ethik des „Sowohl – als auch“ zwischen Postphänomenologie und Pragmatismus

Оглавление

Paul Thompson weist darauf hin, dass der Pragmatismus immer eine auf Gelegenheiten bezogene Philosophie darstellt. Die gegenwärtige Gesellschaft greift technologische Innovationen in Risikobegriffen auf. Die pragmatische Rekonstruktion der Philosophie involviert eine ganze Reihe von spezifisch epistemologischen, metaphysischen und methodologischen Thesen, wobei jede von ihnen ausführlich debattiert werden kann und zwar auch in der Form, in der die traditionelle Philosophie diese Punkte diskutiert hat. Eine pragmatische Philosophie legt Wert auf Verbesserung und schrittweise Erarbeitung von Antworten auf Probleme eher als auf universelle und ewige Wahrheiten, die als Lösung für alle Probleme herangezogen werden können (Thompson 2002). Gemäß James’ Konzept der Erfahrung, die er als existentiell begreift, ist es vernünftig, die Konzeption einer Wissenschaftsgemeinschaft (hier von Ethikexperten) einzuführen, die mit einer Alltagssprachenkonzeption von Wahrheit ihre experimentellen Untersuchungen interpretieren, diese dann als Vorschein für eine praktisch bislang nicht realisierte Konvergenz versteht, um dann zu unterstellen, dass sie in die richtige Richtung weist.

Fortschritt und Risiko sind die traditionellen Paradigmen des Deutens und Wertens technologischer Praxis und technisch-ökonomischer Entwicklung. Es handelt sich um immer unfruchtbarer werdende Deutungsschemata. Wir brauchen heute eine stärker inhaltlich fixierte Deutung und Bewertung dessen, was wir machen, und welchen Visionen wir im Hinblick auf Technik und Technologie folgen wollen. Bei den Paradigmen Fortschritt und Risiko kommt erst die Bewertung und dann die Deutung – und das hat in die Krise der technologischen Zivilisationen geführt. Die Dominanz der Ethik (vor allem der pseudoethischen Perspektive der Herrschaftsunterstellung einerseits, die mangelnde Sensibilität für Ethik auf Seiten der Ingenieure andererseits) hat dazu geführt, dass wir Technik immer weniger verstehen und analysieren können. Der Pragmatismus impliziert den Verzicht auf die großen Rahmenerzählungen Fortschritt oder Risiko, er begreift sich viel mehr als Anleitung zum genauen Hinsehen. Die Risikogesellschaft ist Ende des letzten Jahrzehntes zum einzigen Mythos der Moderne geworden, das letzte Aufbäumen des ideologischen Zeitalters vor dem Durchbruch des Pragmatismus. Eine pragmatisch orientierte Ethik ist eher Interpretations-Dissensmanagement und Umgang mit Unsicherheit als Diskursethik. Paul Thompson plädiert für eine situationsgebundene Definition von Risiken (Thompson 1986). Der entscheidungstheoretische Risikobegriff ist unzureichend, er sollte aus dem Praxishorizont heraus relativiert und neu interpretiert werden. Jede nicht vollständig routinisierte Praxis ist ein Wagnis, das allerdings irgendwann auch einmal Routine wird und damit an Risikocharakter verliert. Dieses Problem wird später noch ausführlich diskutiert werden müssen.

Die postanalytische Philosophie steht vielfach unter dem Signum eines Neopragmatismus. Ein Problem dabei ist die Eingangshürde der pragmatistischen Wahrheitstheorie. Für den Pragmatismus ist das Wahre nur das Förderliche im Prozess unseres Denkens, ebenso wie das Richtige und das Förderliche Ergebnisse unseres Handelns sind. Der Hauptfehler bei der verbreiteten Gleichsetzung von Wahrheit und Nützlichkeit besteht darin, dass die von James vorgenommene Zuordnung verschiedener Typen von Nützlichkeit zu verschiedenen Typen von Aussagen nicht zur Kenntnis genommen wird. Nützlichkeit hat demnach unterschiedliche Ausprägungen oder Dimensionen, es bezeichnet nicht einfach das, was in irgendeiner willkürlich gewählten Hinsicht zweckdienlich oder befriedigend ist (James 2001). Bei allen Unterscheidungen, die James anführt darf jedoch nicht übersehen werden, dass es zu den wichtigsten Kennzeichen des James’schen Pragmatismus gehört, das rigide „Entweder-oder“, wo immer es geht, durch ein flexibles „Sowohl – als auch“ zu ersetzen. Gerade aufgrund dieser handlungstheoretischen Fundierung kann es in James’ Darstellung der unterschiedlichen Rationalitäten keine Hierarchie geben.

James vertritt einen handlungstheoretisch begründeten Pluralismus verschiedener Betrachtungsweisen. Intellektuelle, ästhetische, moralische und praktische Zugänge zur Welt bilden eine untereinander gleichberechtigte Pluralität, und der Erfolg der einzelnen Zugänge ist weniger eine Frage der Abbildungsgenauigkeit einer nie ganz objektiv feststellbaren Wirklichkeit, sondern vielmehr – gut pragmatisch – eine Frage des Erreichens menschlicher Ziele und der Befriedigung menschlicher Interessen (James 2001). So umfasst der Pragmatismus also eine Methode und eine genetische Theorie darüber, wie Wahrheit entsteht. Die Orientierung am Konkreten und seine Nähe zu den Tatsachen ist charakteristisch für den Pragmatismus. Er verwandelt die vollkommen leere Idee einer statischen Korrespondenz-Beziehung zwischen unserem Geist und der Realität in die eines reichen, aktiven Austausches, den jeder im Detail nachvollziehen kann, zwischen unseren jeweiligen Gedanken und dem großen Universum anderer Erfahrungen, in dem diese ihrerseits eine Rolle spielen und ihren Nutzen haben. Das Wahre ist die Bezeichnung für alles, was sich im Rahmen von Überzeugungen und aus exakten, klar angebbaren Gründen als gut erweist.

Das einzige Kriterium für potentielle Wahrheiten, das der Pragmatismus gelten lässt, ist die Frage, was uns am zuverlässigsten anleitet, was zu jedem Teil des Lebens am besten passt, sich mit der Gesamtheit der Forderungen aus der Erfahrung verbindet und nichts davon auslässt. Man kann sich getrost darauf verlassen, dass Instinkt und Nutzenorientierung unter den Menschen ausreichen, die sozialen Aufgaben von Bestrafung und Belohnung zu erfüllen. Die populäre Auffassung ist, dass eine wahre Vorstellung ihre Realität abbilden muss. Der Pragmatist dagegen stellt seine übliche Frage: Angenommen, eine Vorstellung oder eine Meinung sei wahr, sagt er, welchen konkreten Unterschied bewirkt diese Wahrheit im tatsächlichen Leben von irgendjemandem? Wie wird die Wahrheit erfahren? Wie unterscheiden sich die Erfahrungen von denen, die sich einstellen, wenn die Annahme falsch wäre? Kurz gesagt: Was ist der Barwert der Wahrheit in Bezug auf die tatsächliche Erfahrung? Was aber bedeuten die Wörter Verifikation und Validierung? Für den Pragmatismus ist der allgemeine Begriff der Wahrheit wesentlich mit der Art und Weise verbunden, in der uns ein bestimmtes Moment unserer Erfahrung zu anderen Momenten führen kann, die zu erreichen der Mühe wert sind (James 2001, 132 –135).

Wahrheit lebt tatsächlich zum größten Teil vom gegenseitigen Kredit. Indirekte oder auch nur potentielle Prozesse der Verifikation können deshalb ebenso wahr sein wie vollständige Verifikationsprozesse. Trotzdem tun wir die ganze Zeit über so, als entfalte sich das Ewige, als offenbare sich blitzartig die eine bereits bestehende Gerechtigkeit, die eine Grammatik oder die eine Wahrheit, und als würde dies alles nicht von uns selbst gemacht. Der wesentliche Gegensatz ist der, dass die Welt für den Rationalisten bereits abgeschlossen und von Ewigkeit vollendet ist, während sie für den Pragmatisten immer noch gemacht wird und er ihre endgültige Ausgestaltung erst von der Zukunft erwartet. Es ist ein Missverständnis des Pragmatismus, ihn mit positivistischer Robustheit zu identifizieren (James 2001).

Einer pragmatistischen Ethik wie der von Larry Hickman geht es darum, eine neue Terminologie zu entwickeln, die sich mit den Fortschritten der Technologie auseinandersetzen kann. Hickman verteidigt eine Version eines experimentellen Naturalismus bzw. Instrumentalismus, der sich um den Begriff der Technologie im weitesten Sinne des Wortes zentriert, wie Dewey diesen Terminus benutzte insbesondere als Studium unserer Werkzeuge und Techniken. Der Pragmatismus ist weniger interessiert an den Endergebnissen der Forschung, sondern mehr am Forschungsprozess und Fortschritt der wissenschaftlichen Aussagen und moralischen Urteile, die diesen Forschungsprozess selbst betreffen. Der Pragmatismus ist gekennzeichnet durch Antifundamentalismus, Antidualismus und Antiskeptizismus. Eine pragmatistische Ethik ist mehr prozess- als produktorientiert, sie ist weniger an Lösungen interessiert, sondern versucht, die öffentliche Debatte und die politische Entscheidungsfindung im Hinblick auf drängende moralische Probleme zu ermöglichen, zu managen bzw. zu erleichtern. Dabei wendet sich der Pragmatismus gegen Versuche, neue Probleme mit alter Terminologie und alten Theorien lösen zu wollen. Es geht insbesondere darum, Übersetzungen für Probleme zu finden, um zukünftig mögliche Szenarien zu formulieren, vor allem aber ein neues sittliches Vokabularium bzw. Terminologie zu entwickeln (Keulartz u. a. 2002).

Um eine neue Terminologie zu entwickeln, sind insbesondere potentielle Aspekte herauszuarbeiten. Außerdem enthält der Gedanke der Potentialität das Konzept einer Gradualisierung. Der Pragmatismus ist konsensorientiert und verweist daher in vielfältiger Form auf Diskursethiken. Hier liegen auch die Unterschiede zwischen einer Hermeneutischen Ethik und einer pragmatistischen Ethik. Der Diskurs alleine hilft nicht, er muss vielmehr professionalisiert werden, wofür bestimmte Kriterien und methodische Verfahren entwickelt werden müssen. Relativ neu ist die Einsicht, dass technologische Entwicklung nicht einfach durch unpersönliche übermenschliche objektive und autonome Kräfte ausgerichtet wird, sondern in einem hohen Maße das Ergebnis von Prozessen ist, in denen Präferenzen von Menschen artikuliert, reformiert, Beschäftigungen ergänzt werden, in denen Kämpfe gewonnen und verloren werden, in denen Kontroversen aufkommen und wieder abklingen und in denen Entscheidungen getroffen werden. Technologie ist von Menschen gemacht. Die weltgestaltende Kraft der Technologie ist besonders deutlich in dem Bereich der Medizin zu spüren. Insgesamt gibt es nicht so etwas wie eine pragmatistische Ethik. Der philosophische Pragmatismus selbst ist eine relativ ungenaue Bezeichnung, die sehr unterschiedliche Zugänge zu Fragen und Antworten umfasst. Pragmatistische Ethik kombiniert traditionelle Ethik, zukunftsorientierte Diskursethik sowie das Konfliktmanagement (Keulartz u. a. 2002).

Der Pragmatismus hat keine eigenen Unterscheidungsebenen und keine eigene Methodologie. Das unterscheidet ihn von der Hermeneutischen Ethik. Hier gibt es Argumentations- und Interpretationsebenen und unterschiedliche Kompetenzen. Also ist ein ethischer Pragmatismus keineswegs zu verwechseln mit einer pragmatistischen Ethik. Die Hermeneutische Ethik sucht nach Orientierungen auf der Basis einer eher skeptischen Grundeinstellung. Nicht ein naiver Pragmatismus kann für angewandte Philosophie der Ausgangspunkt sein, sondern ein skeptisch-aufgeklärter Pragmatismus, der gegenüber Totalerklärungen skeptisch bleibt. Ein pragmatistisch-ethischer Zugang zur ethischen Bewertung von Problem- und Fragestellungen (bzw. Lösungsansätzen und Möglichkeiten) und ethisch-pragmatischer Bewältigung von Aufgaben der Dissensbewältigung in Interpretationskonflikten und Bewertungsvorschlägen im Sinne der Erarbeitung von Ideen, Leitbildern und Visionen für Praxisentwürfe mit Zukunftsperspektive. Dabei führt die pragmatische Alternative zum Interpretations-Konstruktivismus (z. B. Lenk 1998). Die skeptische Reformulierung des Pragmatismus impliziert eine Kritik am Naturalismus und erhöht die Notwendigkeit der Reflexionskompetenz.

Ein naiver Pragmatismus, der Skepsis bekämpft, ist noch zu sehr eine Philosophie der Alltagsmoral, bestenfalls Handwerk, während Hermeneutische Ethik beansprucht, zur Kunst anzuleiten, Meisterschaft und Expertentum erreichen zu können. Für den Kunstcharakter jedweden Reflektierens ist m. E. die skeptische Selbstvergewisserung unverzichtbar. Was möglich ist, ist gut zu wissen, aber es ist vielleicht noch wichtiger, zu wissen, was gut ist, und wenn es möglich ist, dies auch durch Praxis zu erreichen. Das Wertwort „gut“ ist ein zentrales Paradigma, denn es bezeichnet (1) eine funktionale Dimension (Perspeptive des Gelingens), (2) eine nutzenorientierte Dimension (Perspektive des Brauchbaren und Dienlichen) und (3) eine sittliche Dimension (Perspektive der Ethischen und Visionären) an menschlicher Praxis im Sinne des „Sowohl – als auch“. Die Perspektive des „Sowohl – als auch“, und zwar in jeweils verschiedenem Sinne, erlaubt die Unterscheidung in mehr oder weniger gut begründete Urteile und rechtfertigt damit gradualistische Argumentationen. Sie hilft auch als Paradigma für Grenzwerte, bei der Bewertung der potentiellen Folgen einer Praxis, bei der Ausleuchtung des Möglichkeitsraumes bestimmter Praxen wie bei der Schaffung einer neuen Terminologie für angewandte Philosophie, wo sie erforderlich erscheint.

Hermeneutische Ethik als Kunstlehre wertet den Laien nicht auf, sondern stellt ihn vielmehr vor eine Aufgabe. Auch hier unterscheidet sich Hermeneutische Ethik vom Pragmatismus. Er zeigt dem Laien, wo er im Hinblick auf sein eigenes Ziel steht, nämlich am Anfang. Sie plädiert nicht für Bürgerforen und dergleichen Formen partizipatorischer Demokratie, sondern für deren Aufrüstung durch Expertenwissen und Expertenkompetenz. Über Ethik kann man nicht abstimmen, bestenfalls über Gruppenmoralen und Gruppenegoismen. Nicht Partizipation löst das Bewertungsproblem von Technik, sondern Kompetenzerwerb und Kompetenzerhöhung. Im Sinne des „Sowohl-als auch“ sind aber auch Laienurteile nicht per se uninteressant, wobei differenziert werden muss. Im Sinne der angewandten Philosophie löst Partizipation das Legitimationsproblem nicht.

Die Verselbstständigung der Technik ist ein spezifisch neuzeitliches Phänomen. In der Neuzeit bringt der kollektive Technikgebrauch völlig neue Chancen und Gefahren mit sich. Die wissenschaftlichen und technischen Revolutionen der Neuzeit führten zur fortschreitenden Fusion von Wissenschaft, Technik und Ökonomie. Hierdurch verselbstständigte sich der technische Fortschritt gegenüber der Technik als einer ideengeleiteten Praxis. Spätestens seit der industriellen Revolution im 18. Jh. ist die Technik höchstens noch indirekt Dienerin der gesellschaftlichen Entwicklung (Falkenburg 2004). Der kollektive Technikgebrauch hat oft Nebenwirkungen, die ursprünglich nicht eingeplant waren, die, wenn er aufgrund des kollektiven Nutzens extrem schädlich wird, nicht mehr gestoppt werden können. Dieser kollektive Technikgebrauch ist zwar nicht quasi naturwüchsig, gefährlich macht ihn die gesellschaftliche Routine und die kulturelle Einbettung, die von massenhaft akzeptierter Technik ausgeht. Diese quasi Naturwüchsigkeit ist nur in einer Hinsicht gerechtfertigt, nämlich unter dem Aspekt, dass es extrem schwer ist, eingeführte und routinierte Technik, deren Nutzen akzeptiert ist, durch neue innovative Technik, und sei sie z. B. nachhaltiger, zu ersetzen.

Dies muss eine auf Realisierbarkeit abzielende hermeneutische Ethik berücksichtigen. Andererseits sind Folgenabschätzung und Güterabwägung nicht selbst Ethik, wohl aber ein unverzichtbarer empirischer Bestandteil einer Verantwortungsethik. Deren Aufgabe wiederum ist, nicht nur Nutzens- oder Nicht-Schadensaspekte bei der ethischen Entscheidungsfindung zugrunde zu legen, sondern es ist eine Abwägung der unterschiedlichen Verpflichtungen erforderlich, die sich aus ethischen Grundsätzen, Regeln und Kriterien ergeben. Hinzu kommt die Abwägung der Verpflichtungen, die sich aus bestimmten Konsequenzen ergeben. Die Abwägung hat zur Aufgabe, bestimmte Verpflichtungen in ihrer Dringlichkeit gegenüber anderen Verpflichtungen einzuordnen. Hier sind keine objektiven Urteile möglich. So empfiehlt sich zur Klärung der in einer bestimmten Situation auftretenden Verpflichtungen der Diskurs insbesondere der Beteiligten.

Die traditionelle Wertebasis schwindet. Hinzu kommt die Krise auch des ethischen Fundamentalismus. Der Wandel von Normen und Werten wird immer deutlicher, außerdem gibt es so etwas wie ein naturwissenschaftliches Deutungsmonopol. Die Aufgabe einer hermeneutischen Ethik besteht in der Vermittlung traditionellen Philosophierens über Ethik mit naturwissenschaftlich-technischem Denken und Machenkönnen. Die Dominanz der Philosophie oder Ethik gehört längst der Vergangenheit an. Wir brauchen einen bescheideneren Grundgestus. Globalisierung und Wertkonflikte empfehlen statt einer Menschenrechtsethik die Ethik humaner Selbsterhaltung und statt einer Ethik der Tauschgerechtigkeit mit ihrer Dominanz des Ökonomischen eine eher skeptisch orientierte Ethik. Hermeneutische Ethik schließt sich an Anthropologie und an Geschichtsphilosophie an.

Hermeneutische Ethik verknüpft die Ethik mit der moralischen Empfindung aus der Ersten-Person-Perspektive (1PP; Ethik als Lebensform bzw. konkret erfahrene Verpflichtung, als Gewissenserlebnis, als emotional eingefärbte Motivation zu einer bestimmten Praxis) mit einer Ethik aus der Dritten-Person-Perspektive (3PP, Wissenschaft oder Kunst), in der sowohl eine naturalistische Reduktion vorgenommen werden kann wie eine Analyse der Anatomie der sittlichen Verpflichtung stattfindet, und aus der Ersten-Person-Perspektive Plural (1PPP), in der implizites Wissen, der Verpflichtungszusammenhang der Common Sense – Moral, Verpflichtungsanalysen, Metaethik, Expertise aufgrund des professionellen Ethikdiskurses und seine Institutionalisierung diskutiert werden. Trotz deskriptiver Elemente gibt es keine deskriptive Ethik, denn Ethik ist immer normativ (Quante 2003, 19). Zu unterscheiden sind Sollte-Aussagen über Weltzustände und über Handlungsanweisungen. Die Aussagen über „ought-to-do“ (Handlungsanweisungen) beziehen sich auf Handlungen, „ought-to-be“ (Leitbilder für Weltzustände) auf Situationen. In diesem Zusammenhang kann ethisch geboten und ethisch richtig unterschieden werden. Das Wertwort gut kann für Zustände und für Handlungen verwendet werden (Quante 2003, 31). Außerdem können Ethiken als idealorientiert (zielorientiert) und realorientiert unterschieden werden.

Hermeneutische Ethik verbindet einen schwachen ethischen Realismus mit einem schwachen ethischen Subjektivismus, in dem Deuten und Werten unter dem Paradigma eines „Sowohl – als auch“ betrachtet werden. Der zweite Schritt sind die unterschiedlichen Aspekte von Deuten und Werten. Sie umfassen (1) die alltägliche sittliche Erfahrung und hermeneutische Ethik als Kunst, (2) den Moral sense und eine wissenschaftliche Ethik, (3) Traditionen und Institutionen bzw. Organisationen, in denen es um Anwendungsfragen der Ethik geht. Letztlich lassen sich vier unterschiedliche methodische Ebenen voneinander abgrenzen:

1 Ebene allgemeiner Prinzipien und Leitbilder;

2 Ebene bereichsspezifischer und temporaler Handlungsregeln (Normen und Werte; Maximen);

3 Ebene der Anwendungsregeln im Sinne von Handlungsregeln und

4 Ebene der Anwendungsregeln für Handlungskriterien durch Etablierung ethisch relevanter empirischer Kriterien.

Mithilfe dieser stufentheoretischen Konstruktion soll der Übergang von Sein zu Sollen und vom Deuten zum Werten methodisch abgesichert werden (Irrgang 1998).

Im Rahmen einer hermeneutischen Ethik müssen eine deutende und eine wertende Interpretation in einer angewandten Ethik Hand in Hand gehen. Die Werte der Interpretation bedürfen der metaethischen Absicherung. Die alltägliche Erfahrung (1PP) unterstützt den Nonkognitivismus. Der Wissenschaftsansatz hingegen, die 3PP, geht von wissenschaftlicher Erklärung aus. Umgriffen wird das Ganze durch die 1PPP, in der Institutionen, Traditionen und Common Sense ineinander greifen. Der Kunstcharakter entsteht auf dem Boden der Tradition und ist durch Kohärenz (metaethische Kriteriologie) gekennzeichnet, d. h. Ethik demonstriert ihr Gelingen durch methodische Verknüpfbarkeit (Kohärenz und Konvergenz). Folgende vier Ebenen spielen eine zentrale Rolle im Rahmen einer hermeneutischen Ethik:

1 alltägliche sittliche Erfahrung;

2 wissenschaftliche Ethik;

3 Tradition, Moral Sense, Institutionen und

4 Kunst und Methode.

Kohärenz setzt eine Konzeption relationaler evaluativer Eigenschaften voraus, das, was Kant mit seiner Konzeption des Reiches der Zwecke möglicherweise intendiert hat. Das Konzept eines Sets evaluativer Eigenschaften bzw. Relationen und Perspektiven knüpft an an den Gedanken evaluativer Eigenschaften Quantes (Quante 2003, 103). Dieses Set evaluativer Eigenschaften umfasst:

1 Sein und Sollen;

2 Verallgemeinerung, empirisch und allgemein;

3 Sittlichkeit und Nützlichkeit;

4 Strategie und Sittlichkeit;

5 Subjektivität und Objektivität und

6 Idealität und Realisierbarkeit.

Irrtum und Versuch bringen fallible und reflexive Elemente für die Begründung zusammen. Insofern handelt es sich bei einer hermeneutischen Ethik um einen metaethischen Relativismus und Konnektionismus, der im Sinne eines methodischen Kohärentismus (Quante 2003, 157) verstanden werden kann.

Hermeneutische Ethik interpretiert das allgemeine Set evaluativer Regeln und Einstellungen in einem etwas anderen Sinn. Kohärenz und Rekursivität, Rückverknüpfbarkeit und Konvergenz müssen sich erweisen im Zusammenhang von:

1 Moralischem Gefühl und ethischer Theorie;

2 Zirkularität: Ineinandergreifen von Induktion, Abduktion und weichen Formen der Deduktion im Sinne einer Begründungs- und Interpretationsspirale zur Präzisierung des Prozesses von Deuten und Werten; Bevorzugung des hypothetischen und experimentellen Denkens und der Gradualität;

3 Einzelnem und Allgemeinem: Bereichsspezifische (regional wie temporal abgestufte, d. h. gradualisierte Formen von) Universalisierung und Generalisierung; Regelorientierung und Minimalethik;

4 Sein und Sollen: Kritik der naturalistischen Ethiken und Moralphilosophien;

5 Idealorientierung und ihrer Realisierbarkeit: Ideal und Erreichbarkeit von Zielen und Visionen; Leitbilder.

Kohärenz alleine ist nur ein immanent methodologischer Rechtfertigungsgesichtspunkt, es bedarf also noch weiterer Kriterien für richtiges Deuten und Werten. Deuten und Werten liegen viel näher beieinander, als Hume dies glaubte, allerdings nicht in einem naturalistischen Sinn, wie dies Nietzsche und die evolutionäre Erkenntnistheorie meinen. Hermeneutische Ethik versteht sich im wesentlichen als Anleitung zur ethischen Reflexion. Hermeneutische Ethik ist angesiedelt zwischen der natürlichen Moral der Selbsterhaltung, der Kooperation und einer kulturell kodierten universellen Moral. Auch beim Common Sense und in der Expertenethik empfiehlt sich ein Standpunkt des „Sowohl – als auch“, eine gegenseitige Durchdringung von reflektiertem Moral Sense und professionellen Ethikansätzen. Eine jeweilige Verabsolutierung der einen Perspektive erscheint als nicht weiterführend. Die Minimalethik umfasst den Wert des menschlichen Lebens und die Verpflichtung, möglichst vielen Menschen ein lohnendes Leben zu verschaffen. Dies impliziert eine Ethik der Lebensrettung, der Heilung und des Helfens. Dies impliziert auch ein Würde- und ein Wertkonzept des menschlichen Lebens. Der Fehler herkömmlicher Konzeptionen ist allerdings, dass sie Menschenwürde als Tatsache moralischer Art interpretieren und nicht als eine zu realisierende Aufgabe. Die kleine gesellschaftlich letztlich akzeptierte Lüge dient häufig dem Schutz der eigenen Innerlichkeit und Privatheit und gelegentlich auch der Selbstverwirklichung. Es beinhaltet einen Schutz gegen Zwänge von außen und seien es nur Rollenerwartungen. Der Schutz der eigenen Innerlichkeit und Subjektivität bzw. Persönlichkeit erlaubt Güterabwägungen und Abstriche von sogenannten absoluten Verpflichtungen.

Traditionell wurde der Begriff des Verstehens dem Begriff des Erklärens entgegengesetzt. Verstehen stand für Geisteswissenschaften, für die Erfassung von Ziel, Bedeutung und Sinn bzw. von Zweck und Nutzen, während Erklären für Naturwissenschaften, für Ursache und Grund stand. Verstehen galt als unmittelbares, intuitives Verständnis, als Abschluss eines implizit vollzogenen oder logischen Verstehensprozesses (als Prozess ständiger Rekursivität, als „hin und her“ zwischen Einzelfall und Allgemeinem, als hin und her zwischen Horizont und Situation). Erklären hingegen galt als explizieren, auseinanderlegen, analysieren im Sinne der Theorieentwicklung. Eine moderne Interpretationskunst betont die pragmatische Ausrichtung dieses Gegensatzes von Erklären und Verstehen nicht als eines Gegensatzes (entweder oder), sondern im Sinne eines Komplementärverhältnisses (sowohl als auch), d. h. Phänomene der Natur wie des menschlichen Geistes müssen sowohl im Sinne des Erklärens wie im Sinne des Verstehens interpretiert werden. Zudem betont die Interpretationskunst den Modellaspekt menschlichen Geistes. Die Intelligenz steht für Synthese und für Totalität, während die Mathematik für diskursive Rationalität und Gestalt steht. Das Grundprinzip der Interpretation ist Komplementarität und Konvergenz. Eine Hermeneutik hat dabei eine pragmatisch-technische und eine dogmatisch-inhaltliche Seite.

Die strikte „Wahr-Falsch“-Unterscheidung bzw. das strikte „Entweder-Oder“ war das klassische logische bzw. naturwissenschaftliche Deutungsmuster der Moderne und ist Kennzeichen für das naturwissenschaftliche Deutungsmonopol. Trotz der grandiosen Leistungen dieses Interpretationsansatzes bedarf dieses zumindest dort der pragmatischen Ergänzung, wo die Erste-Person-Perspektive (1PP) im Interpretationsansatz eine wichtige Rolle spielt. Hermeneutische Ethik versteht sich als komplementärer Interpretationsansatz zu einer neuen Epistemologie der Natur- und Geisteswissenschaften inklusive Anthropologie und Sozialanthropologie, wie ich sie für Fragen des moralischen Status des menschlichen Embryos und des Gehirntodes in meiner „Einführung in die Bioethik“ (Irrgang 2005b) bereits entwickelt habe.

Ausgangspunkt von Don Ihdes Konzeption einer nicht fundamentalistischen und nicht letztbegründenden Phänomenologie ist eine wahrnehmungsorientierte und leibgebundene Intentionalität. Zugrunde gelegt wird dabei eine Art von instrumentellem Realismus. Wie können wir nur so leicht erfinden, dekonstruieren und wiedererfinden? Unsere Lebenswelt heute hat eine zutiefst technologische Textur. Diese ist subtil, oft virtuell, ein unsichtbarer Einfluss der Technologie auf unsere Lebenswelt (Ihde 1993, 12 f.). Die wesentlich unvorhersehbare und ambivalente Art und Weise der Beziehung zwischen Mensch und Technologie, die Unmöglichkeit, diese Beziehungen zu kontrollieren, führt letztendlich dazu, dass Technologien in ihrer Gesamtheit wahrscheinlich mehr Kulturen als Werkzeuge sind (Ihde 1993, 42). Dies verändert die Konzeption sowohl der Phänomenologie wie der Naturalisierung. Technoscience ist ein Kulturprodukt und Technokultur ist ein anderes Wort für Technologie. Moderne Wissenschaft ist wesentlich eingebettet in ihre Instrumentation, d. h. in ihre Technologien (Ihde 1993, 56 f.).

Wahrnehmung ist eine tief eingebettete Praxis. Heute stehen die Kulturen unter dem Leitgedanken des Schriftlichen, wobei eine Wiederbesinnung auf die Wahrnehmung erfolgen müsste. Kunst und Technologie sind die dinglichen Seiten an der Technik. Don Ihdes Konzept der Postphänomenologie impliziert eine methodisch reflektierte empirisch orientierte Phänomenologie und eine technologisch-kulturalistische Naturalisierung zur Überwindung des untergründigen Positivismus sowohl in den sog. Naturwissenschaften wie in den Humanwissenschaften. Die herkömmliche materiale Naturalisierung des Positivismus greift zu kurz. Während Philosophen lange über die Theoriegeladenheit der Beobachtungen debattiert haben, wird neuerdings die Technik- oder Kompetenzgeladenheit der Beobachtung diskutiert. Die bisherigen Zugänge zur Wissenschaft waren zunächst in dem Punkt verfehlt, da sie den bemerkenswerten Anteil des Technischen an den Resultaten sowohl der experimentellen wie theoretischen Wissenschaften nicht anerkannt haben, insofern sie nämlich Produkte der Konstruktion und Rekonstruktion sind. Die neueren Analysen zeigen, dass das Experiment eine Quelle konzeptuell tiefer Entdeckung und von theoretischer Bedeutung ist. Das Experiment liegt sowohl den begrifflichen wie den technischen Transformationen der Natur zugrunde (Irrgang 2003b). Die doppelte Hermeneutik, die in der Interpretation des Verhaltens von Biologen unterstellt wird, die Natur interpretieren, wurde lange übersehen. Die dreifache Hermeneutik, die unterstellt, dass das soziale Leben das ist, was es bedeutet, und dass es nichts gibt, was in dieser Hinsicht hinter dieser Bedeutung liegen kann, ist eine spezifische Ausprägung soziologischer Art. Sie ist der Grund für die Forderung einer pragmatisch-hermeneutischen bzw. perspektivischen Naturalisierung unter Einbezug des Beobachterstandpunktes (McMullin 1992, 89 –115) genauso wie nach einer Hermeneutischen Ethik.

Postphänomenologie beschäftigt sich mit Naturalisierung und setzt die Positivismuskritik von Husserls Phänomenologie fort, allerdings in konstruktiver Weise. Fundamental bleibt die technologische Ausrichtung. Die Selbstreflexion von Technoscience als Fundament moderner Naturalisierung führt zur Reflexion des Beobachterstatus und zum Paradigma beobachterbezogener Naturalisierung. Die Postphänomenologie mündet so in die Epistemologie, Wissenschaftstheorie und Metaphilosophie. Shaun Gallagher und Francisco Varela sprechen von der Bedeutsamkeit der Phänomenologie für die Cognitive Sciences. Beide setzen aber eher an der Intersubjektivitätsanalyse sowie an der Phänomenologie von Raum und Zeit, d. h. klassisch phänomenologisch an, während die Postphänomenologie an der Analyse des Beobachterstandpunktes, der Perspektivität, der Synperspektivität und der Bedeutung von Horizont bzw. Paradigma für eine Postphänomenologie des Verstehens aus verschiedenen Formen der Praxis (insbesondere von Technoscience) heraus ansetzt. Die Beobachterrolle und die darin begründete Praxis der Erkenntnis von Natur und Kultur implizieren eine Philosophie des menschlichen Leibes (Gallagher/Varela 2001).

Die Naturwissenschaft betont zurecht die Dritte-Person-Perspektive (3PP). Wenn sie aber philosophische oder gesellschaftlich relevante Aussagen machen will, muss sie die Dritte-Person-Perspektive verlassen. Außerdem gibt es in einem Menschen keine der drei Perspektiven in Reinkultur. Die Einführung des Beobachterstandpunktes und der Perspektivität in die Epistemologie der deskriptiven und der ethisch-normativen Wissenschaften führt für die Hermeneutische Ethik zu folgender Unterscheidung:

1 Expertenethik; objektive ethische Urteile; 3PP auch in der Ethik;

2 Emotional begründete Moral, „moral sense“ und „sympathy“; 1PP als alleiniger Ausgangspunkt der Ethik (Emotivismus);

3 Moralische Systeme und Ethikkonzeptionen als kulturelle Gebilde; 1PPP-Perspektive.

Mit diesem kurzen Essay wurde die Interpretationsleitlinie des „Sowohl – als auch“ nicht nur pragmatisch, sondern postphänomenologisch-hermeneutisch begründet. Die alte Ethik wollte meist objektiv-wissenschaftlich sein und vergaß die moralphilosophische Dimension an der Ethik. Der synoptische Blick der Hermeneutischen Ethik verpflichtet dazu, alle drei Perspektiven in die ethische Beurteilung konkreter Situationen einzubeziehen. So lässt sich eine neue Kasuistik nicht nur pragmatistisch, sondern auch methodisch begründen.

Hermeneutische Ethik

Подняться наверх