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Fundamentale methodische Paradigmen ethischer Interpretationskunst aus der Perspektive des „Sowohl – als auch“
ОглавлениеInterpretation bedarf auf der Suche nach dem richtigen Weg des Verstehens methodischer Hilfe und Interpretationsanleitung, im professionellen Kontext wie im Alltag. Um richtig interpretieren zu können, sind Leitlinien, methodische Anleitung und Interpretationsregeln erforderlich. Dies ist auch bei der Hermeneutischen Ethik nicht anders. Nur lauten sie anders. Während in einer logisch und wissenschaftlich begründeten Ethik methodische Verbote im Vordergrund stehen, wie die Vermeidung von Zirkularität oder das Verbot des naturalistischen Fehlschlusses, oder Gebote, wie die Verallgemeinerungsforderung z. B. im Kategorischen Imperativ (untergliedert in die nicht-empirische Verallgemeinerung bei Kant und empirische Verallgemeinerung im Utilitarismus), steht die methodische Generalanweisung in einer Hermeneutischen Ethik im Zeichen des „Sowohl – als auch“ (Synoptik) und läuft auf die Aufforderung hinaus, jede der zur Verfügung stehenden Strategien auszuprobieren, um zu sehen, welche der Argumentationsschleifen sich schließen lassen. Die Interpretationsparadigmen sind erprobt und stammen aus verschiedenen neuzeitlichen Ethiktypen. Nur die Realisierbarkeitsforderung ist eher unüblich, steht aber einer auf Anwendung zielenden Ethik gut an, denn häufig vertreten wir eine hochstehende Ethik oder Moral, die wir sowieso nicht erfüllen können, oder die, wie bei der Einwilligungslösung im deutschen Transplantationsgesetz, tausende Menschen zum Tode verurteilt, weil sie das benötigte Spenderorgan nicht erhalten. Folgende fünf Interpretations-Paradigmen sollen helfen, moralische Probleme oder ethische Streitfälle zunächst im Problemgehalt zu schärfen, um die anstehenden Konflikte einer Lösung näher zu bringen:
1 Moralisches Gefühl und ethische Theorie;
2 Zirkularität: Ineinandergreifen von Induktion, Abduktion und weichen Formen der Deduktion im Sinne einer Begründungs- und Interpretationsspirale zur Präzisierung des Prozesses von Deuten und Werten; Bevorzugung des hypothetischen und experimentellen Denkens und der Gradualität;
3 das Einzelne und das Allgemeine: Bereichsspezifische (regional wie temporal abgestufte, d. h. gradualisierte Formen von) Universalisierung bzw. Generalisierung; Regelorientierung und Minimalethik;
4 Sein und Sollen: Kritik der naturalistischen Ethiken und Moralphilosophien;
5 Realisierbarkeit: Ideal und Erreichbarkeit von Zielen und Visionen; Leitbilder.
(1) Moralisches Gefühl und ethische Theorie: Hinsichtlich der Genese des moralischen Gefühls bemerkt Schöpf, dass alle Anthropologien inhaltlich-ontologischer Art gescheitert sind. Es stellt sich allerdings die Frage der impliziten Anthropologie im Zusammenhang mit dem Begriff der bedingten Freiheit. Kann man also für das moralische Gefühl (Perspektive des Verantwortungsgefühls) heute noch eine gewisse unmittelbare Gewissheit annehmen (Schöpf 2001, 120 –123)? Die Psychoanalyse geht im Rahmen der Frage nach den Konstitutionsbedingungen einer realisierbaren Moral von der Beobachtung aus, dass moralische Forderungen im therapeutischen Kontext auftauchen und manchmal auch argumentativ gut vertreten werden, die beabsichtigte normative Regelung der zwischenmenschlichen Beziehung jedoch misslingt. Ja es zeigt sich, dass die moralischen Forderungen, die der Einzelne an sich und an die Mitmenschen stellt, krankmachende Lasten beinhalten können (Schöpf 2001, 133). Im Hinblick auf die Ethik müssen wir von einem widersprüchlichen Ergebnis ausgehen. Zum einen ist da die Auffassung, dass wir einen Bedarf an Ethik haben, und dass wir viel zu wenig über das Gewissen sprechen. Auf der anderen Seite haben wir uns mit der Überzeugung auseinander zu setzen, dass die Gesichtspunkte der Ethik und Moral zu hoch gespielt würden (Schöpf 2001, 146). Für das Gewissen zentral ist die Perspektive des sich Sehens mit den Augen des anderen (Schöpf 2001, 150). Erwartungen und Verpflichtungen haben etwas miteinander zu tun. Dabei gibt es eine ganze Reihe von unbewussten Missdeutungen des Gewissens, so dass die Gewissensprüfung keineswegs eine eindeutige Sache ist (Schöpf 2001, 157). Dabei kann man das autoritäre Gewissen und das autonome Gewissen unterscheiden (Schöpf 2001, 173).
Auf der anderen Seite steht die ethische Theorie und Metaethik, dass ethisches Argumentieren in Wert-Konflikten der richtige Weg zu einer angemessenen Lösung ist. Von Moral und Ethos zu unterscheiden ist die Ethik als wissenschaftliche Reflexion auf Moral und Ethos mit dem Ziel, Verhaltensvorschriften, sittliche Verpflichtungen und Handlungsregeln für Entscheidungen argumentativ auszuweisen und zu rechtfertigen. Während das Wort „Ethos“ der griechischen Alltagssprache entlehnt ist, ist der Begriff Ethik ein Kunstwort, geprägt von Aristoteles. Dieser bezeichnet mit dem Wort „ethische Theorie“ (Aristoteles, Anal. post. 89b 9), kurz „Ethik“ genannt (Aristoteles, Pol. 1261a 31), die Wissenschaft, die das Problem reflektiert, welches von Sokrates und Platon in der Auseinandersetzung mit der Sophistik aufgeworfen wurde. Dieses besteht darin, dass die Legitimierung der Sitte und die Rechtfertigung der Institutionen der griechischen Polis durch die Herkunft von den Vätern, also durch Tradition, fragwürdig geworden ist.
Ethik beschäftigt sich daher mit dem Maß sittlicher Normierung, der Normgebung und ihrer Rechtfertigung. Sie zählt nicht Normen und Weisungen auf, sondern versucht, für den Prozess der Normgebung und -festlegung ihrerseits Kriterien anzugeben. Sittliche Überzeugungen gehören in die Bereiche von Moral und Ethos; Gegenstand der Ethik ist die argumentative Rechtfertigung des Verpflichtungscharakters von Normen und Werten auch für andere. Sie ist zudem die Lehre von Vernunft und Freiheit, von Norm und Gewissen im Hinblick auf die sittliche Grundhaltung eines Menschen. Ethik kann daher unter zwei sehr unterschiedlichen Perspektiven betrieben werden. Sie lässt sich zum einen als Reflexion von Moral und Ethos, zum anderen als systematische Untersuchung ihrer eigenen Voraussetzungen und ihrer Möglichkeit verstehen. Letztere Aufgabe fällt der Metaethik zu. Der engere Begriff von Metaethik beschränkt diese auf die Analyse der moralischen Sprache, insbesondere auf die Trennung von beschreibend-deskriptiven und normativ-vorschreibenden, also verpflichtenden Sätzen. Der weitere Begriff versteht unter Metaethik jede Reflexion über die Methoden der Ethik (Ricken 1983, 15). Sie muss klären, ob normative Ethik überhaupt möglich ist. Hierzu analysiert sie das Hume’sche Gesetz, die grundsätzliche, intuitiv einleuchtende Unterscheidung von Sein und Sollen zumindest unter methodischer Rücksicht sowie den ,naturalistischen Fehlschluss‘ von George Edward Moore, der eine Ableitung von normativen aus deskriptiven Sätzen untersagt. Hier zeigt sich eine Schwierigkeit in der Begründung normativer Ethik. Ethikbegründung muss Moralität oder Sittlichkeit bereits voraussetzen.
Eine andere Frage ist, ob anwendungsorientierte Ethik richtige Philosophie sei und ob ihr nicht das Kennzeichen einer Profession fehle (Höffe 1991, 233). Sie sei zwar philosophisch möglich, aber nicht nötig (Höffe 1991, 237). Nach Höffe ist es Aufgabe der anwendungsorientierten Ethik, unparteilich den Streit zwischen Lebensschutz und Wissenschaftsfreiheit oder zwischen Tierschutz und Wirtschaftsfreiheit zu schlichten. Sie gehört daher in die Rechtsethik (Höffe 1989, 118 f.). Eine sachgerechte angewandte Ethik bietet sich als Sammelname für einzelne Fallstudien an und muss auf den Gestus der „großen Theorie“ verzichten (Höffe 1989, 121). Da angesichts der von Aristoteles formulierten Grenzen der Ethik als theoretischer Disziplin (Aristoteles 1975; Ethica Nicomechea 1095a 10 –15) generell bezweifelt werden darf, ob Ethik „große Theorie“ sein kann, so mag es für eine anwendungsorientierte Ethik ausreichen, kritische Reflexion zu sein. Gleiches gilt selbstverständlich auch für Hermeneutische Ethik. Diese aber bemüht sich gerade um eine Synopse von moralischem Gefühl und ethischer Theoriebildung.
Zentraler Ansatz einer hermeneutischen Ethik ist daher das sittliche Umgangswissen, die sittliche Erfahrung (Irrgang 1998). Sittliches Umgangswissen als Verfahrenswissen etabliert eine Konzeption, in der Tatsachenwissen und Verpflichtungswissen ineinander greifen. Dazu wird im Rahmen einer hermeneutischen Ethik ein Vier-Stufen-Modell anwendungsorientierter Ethik entwickelt, das es erlaubt, empirisches Wissen ohne naturalistische Fehlschlüsse in die Formulierung konkreter sittlicher Verpflichtungen einzubeziehen. Es überwindet die „Zwei Kulturen“, führt aber nicht zum Aufweis apodiktisch gültiger Verpflichtungen. Es werden vielmehr Interpretationsvorschläge einer sittlichen Verpflichtung in konkreten Situationen erarbeitet. Durch reflektierte Anwendung sittlichen Umgangswissens werden so moralische Vorurteile überwunden und sittlich-normative Prinzipien geklärt. Der Prozess der Klärung unterscheidet dabei verpflichtende oder verbietende Urteile von weiter zu klärenden Fragen. Insbesondere bei Verpflichtungen, die weiter zu klären sind, ist ein Diskurs erforderlich, der sich am Leitbild des sokratisch-platonischen Dialogs orientieren kann. Es wird gefragt, bis der Logos des Fragens zum Stillstand, zu einer partiell gültigen Grenze geführt hat. So manifestiert sich der Prozess des Suchens und Findens als hermeneutische Methode auch in Frage und Antwort, im Suchen und Finden Heraklits. Entscheidend ist der Zusammenhang oder der Konflikt der Argumente, wobei Kohärenz und Konvergenz der Argumente ebenso eine Rolle spielen wie der Dissens. Hier hat sich insbesondere John Henry Kardinal Newman Verdienste erworben (Irrgang 1998).
Ein Autor, der für die Analyse des methodischen bzw. verfahrensmäßigen Umgangs mit sittlichen Verpflichtungen von außerordentlicher Bedeutung ist, ist Aristoteles. In seiner Explikation des praktischen Wissens, der Phronesis, geht es um die Erfassung und sittliche Bewältigung der konkreten Situation angesichts allgemeinverbindlicher sittlicher Verpflichtung. Phronesis manifestiert sich bei Aristoteles z. B. in der „Subsumtion“ des Gegebenen der Situation unter ein Allgemeines. Der aristotelische Vorschlag scheint dabei auf ein implizites Umgangswissen zu verweisen. In den explizit gewussten Term der sittlichen Verpflichtung geht implizit das nie vollständig explizierbare Wissen um die konkrete Situation ein und manifestiert sich im Wissen um die Realisierbarkeit eines bestimmten Sollens.
Hilfestellung bei der „Subsumption“ können dabei sog. „Faustregeln der Verallgemeinerung“ liefern, wobei es sich nicht um Verallgemeinerungen im Sinne der Induktion handelt, sondern um die Interpretation des impliziten Anteils am Umgangswissen mit Verpflichtungen in konkreten Situationen. Weitere Hilfestellungen bietet Aristoteles in seiner Konzeption des Sittlichen als Mitte zwischen zwei Extremen an, als Verfahren der Konstruktion und Interpretation der Extremalpunkte und das anschließende Verfahren der Ausmittelung (Aristoteles 1975). Dieses Verfahren nicht nur der Abwägung von Extremen, sondern auch von konkurrierenden sittlichen Verpflichtungen gehört zu den wichtigsten Beiträgen von Aristoteles zu einer Hermeneutischen Ethik.
Ein bedeutsamer Beitrag zu einer hermeneutisch begründeten praktischen Ethik ist auch das auf Aristoteles zurückgehende Verfahren der Epikie, der zumindest teilweisen Außerkraftsetzung einer allgemeinen sittlichen Verpflichtung in einer ganz bestimmten Situation, um eine konkrete sittliche Verpflichtung begründen zu können. Auch das aristotelische Verfahrenswissen der sog. „zweitbesten Fahrt“ ist zentral für eine hermeneutische Ethik, d. h. der Verpflichtung zu folgen, andere nicht zu schädigen, wenn der Ausmittelungsprozess kein konkretes Ergebnis herbeiführen sollte. Weitere Formen des impliziten Verfahrenswissen, die sich mathematisch strenger Objektivierung entziehen, die Aristoteles bereits ausgeführt hat, sind Formen der empirischen Verallgemeinerung im Horizont von Folgenabschätzungen, wie sie später vom Utilitarismus propagiert wurden. Dieses Verfahren untersucht, welche Konsequenzen sich ergeben würden, wenn alle Handelnden einer spezifischen Maxime (Handlungsregel) folgen würden. Selbstverständlich erkennt eine hermeneutische Ethik auch den Kategorischen Imperativ als metaethische Regel für die Überprüfung sittlicher Maximen an.
Andererseits bleibt der verstehende Umgang mit sittlichen Verpflichtungen subjektiv-personal eingefärbt. Dies ist aber für eine hermeneutische Ethik im Gegensatz zu Positionen des ethischen Objektivismus nicht negativ zu bewerten, da die Perspektivität und Endlichkeit bei der Realisierung sittlicher Verpflichtungen und der Beurteilung von Handlungsmaximen unvermeidlich erscheint. Und da hermeneutische Ethik nie von einem Nullpunkt oder einer „tabula rasa“ ausgehen kann, ergibt sich der Ausgang von einer kurzen Rekonstruktion wichtiger Positionen in der Geschichte der Ethik quasi von selbst. Die Realisierbarkeitsregel fordert den Einbezug der Empirie für handlungsleitende Regeln in bestimmten Handlungsbereichen. So impliziert die Realisierbarkeitsregel die Forderung einer Beschränkung der Verantwortungsübernahme für vorhersehbare Folgen. Eine auf instrumentelles Verstehen und instrumentell-sittliches Handeln und deren Reflexion aufgebaute anwendungsorientierte Ethik wird daher bereichsspezifisch, plural, empirieoffen und der eigenen Grenzen bewusst sein.
Praktisch-ethisches Verstehen ermöglicht die Realisierung einer sittlichen Verpflichtung. Im Handeln selbst geschieht praktisch-ethisches Verstehen als Realisieren einer sittlichen Verpflichtung. Ihre theoretische Reflexion macht einen Rückbezug auf ethische Prinzipien erforderlich, was beim sittlichen Verstehen allein nicht erforderlich ist. Im Gegensatz zu kognitivistischen Ethiken habe ich gemäß der Konzeption des sittlichen Verstehens eine sittliche Verpflichtung nur dann verstanden, wenn ich sie zu realisieren bereit bin, sofern nicht andere sittliche Verpflichtungen dagegen sprechen. Das bloß theoretische Reflektieren bzw. Wahrnehmung ist kein Verstehen, sondern metatheoretische Reflexion. Um sittliche Verpflichtungen realisieren zu können, muss ich zunächst wissen, worin sich eine sittliche Verpflichtung von einer nicht-sittlichen Verpflichtung unterscheidet und worin sie besteht. Traditionell wurde diese Frage mit der Begründbarkeit sittlicher Verpflichtungen verknüpft. Ich möchte diese Frage jedoch zuspitzen durch die Formulierung einer weiteren Frage: Warum soll ich überhaupt sittlich handeln? Ein solcher Ansatz verbindet Geltungsprobleme mit Fragen der Realisierbarkeit.
Moralische Intuitionen beschränken sich auf Standardsituationen. Sie haben nur einen scheinbaren Intuitionscharakter. Derartige Intuitionen sind fest eingeprägte und lange eingeübte Regeln. Ein moralisches Experiment besteht darin, nach neuen Leitbildern aufrichtig zu leben, sie nicht nur zu lehren. Eine Moral hat dann Stärke, wenn die Leute sich entschieden haben, nach welchen Prinzipien sie leben wollen und welche Prinzipien sie ihren Kindern lehren sollten. Das Lehren geschieht durch Beispiele und Richtlinien, die Prinzipien erläutern. Eine frühe starke Moralerziehung erzeugt unflexible Intuitionisten (Hare 1992, 101–103). Daher ist für eine hermeneutische Ethik der Rückgriff auf ein Umgangswissen und Verfahrenswissen mit sittlichen Verpflichtungen und auf ein moralisches Verstehen erforderlich. Es manifestiert sich in Kriterien wie der Verallgemeinerbarkeitsregel und in der Sein-Sollen-Unterscheidung. Zur Explikation des Umgangswissens sittlicher Art knüpft eine hermeneutische Ethik an die Konzeption von instrumentellem und sittlichem Verstehen an.
Ein Beispiel für sittliches Verstehen eines narrativ vermittelten Sollensanspruchs bietet das Neue Testament. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10, 29 – 36) ist eine Anleitung zum sittlichen Verstehen und Realisieren des moralischen Wertes der Barmherzigkeit. Jesus gibt an dieser Stelle keine Definition des moralischen Wertes, sondern führt Fälle vor, in denen gegen diesen Wert gehandelt wird, beschließt aber das Gleichnis mit dem gelungenen Vorbild einer Realisierung dieses moralischen Wertes. Der Priester und der Levit helfen dem Ausgeraubten und Verletzten am Straßenrand nicht, wohl aber der Ungläubige. Der Zuhörer des Gleichnisses realisiert an einem Einzelfall nicht zuletzt aufgrund einer Kontrasterfahrung die moralische Tatsache der „Barmherzigkeit“. Diese fordert dazu auf, positive Folgen für in Not Geratene hervorzubringen, auch wenn dieses für den Helfer mit Kosten verbunden sein kann. So veranlasst dieses Gleichnis Jesu, im Hörenden eine sittliche Verpflichtung zu realisieren, in diesem Falle die moralische Tatsache des sittlichen Wertes der Barmherzigkeit wahrzunehmen, um dann richtig handeln zu können, wenn die Situation dies erforderlich macht. Das Gleichnis Jesu ist ein Beispiel dafür, wie sittliches Verstehen gelehrt und gelernt werden kann.
Sittliches Verstehen manifestiert sich in theoretischer Form im moralischen Urteil oder in Wertprädikaten wie „mutig“ oder „gerecht“, die aus subjektiver Perspektive als moralisch richtig unterstellt werden. Moralische Urteile beziehen sich dabei auf Wertaussagen, quasi auf moralische Tatsachen, während ethische Urteile regelgeleiteten Umgang mit moralischen Urteilen voraussetzen. Die moralische Perspektive impliziert für eine Handlungsempfehlung, dass sie nicht-eigennütziger Art ist, wobei das ethische Urteil Kriterien für die Nicht-Eigennützigkeit angeben können muss. Damit legt eine hermeneutische Ethik einen moralischen Realismus zugrunde, wie er sich auch im Common Sense findet. Der moralische Realismus geht von der Idee einer richtigen Lösung moralischer Probleme aus (Schaber 1997, 35), wobei die hermeneutische Ethik diese Aussage auf ein „meistens“ einschränkt. Für den moralischen Realismus ist die Annahme moralischer Tatsachen, auf die auch der vortheoretische Glaube im Sinne des Common Sense rekurriert, unverzichtbar. Für die hermeneutische Ethik ist dieses Gedankenmodell akzeptabel, wenn man moralische Tatsachen als Interpretationskonstrukte begreift. Auch sogenannte „gute Folgen“ im Sinne von moralischen Tatsachen stellen Interpretationskonstrukte dar.
(2) Zirkularität: Im Hinblick auf die Methode ist zunächst die Zirkularität bewertender Interpretationen und die Abhängigkeit der Interpretation von einem Vorverständnis unabdingbar. Einer hermeneutischen Ethik geht es um die Realisierung einer konkreten sittlichen Verpflichtung in einer bestimmten Situation. Voraussetzung ist die zutreffende ethische Bewertung einer Praxis. Damit steht nicht die Autonomie des egoistischen Individuums im Zentrum einer praktischen Ethik wie im Präferenzutilitarismus oder im Emotivismus, sondern der Versuch, die Situation des Menschen im Horizont einer sozialen Praxis zu analysieren, der eine sittliche Verpflichtung realisiert, d. h. gemäß dieser handelt und nicht nur, die entsprechende sittliche Verpflichtung erkennt, ohne sie in die Tat umzusetzen. Sie geht nicht von moralischen Heroen aus, die eine sittliche Verpflichtung unabhängig von der Widerständigkeit der Situation realisieren, sondern von der begrenzten Kompetenz des endlichen Menschen zur Realisierung sittlicher Verpflichtung. Die Frage nach Bedingungen der Möglichkeit anwendungsorientierter Ethik führt gemäß dem hier vorgeschlagenen Konzept zur Aufklärung der hermeneutischen Grundsituation, in der anwendungsorientierte Ethik steht. Diese umfasst zunächst die Zirkelstruktur wertender Urteile, in denen sich sittliche Verpflichtungen artikulieren. Sittlich verpflichtende Urteile müssen immer bereits voraussetzen, dass der Adressat Verpflichtungserfahrungen gemacht hat und über ein zumindest implizites Wissen im Umgang mit Verpflichtungen verfügt. Hier liegt eine Grundstruktur vor, die Ähnlichkeiten mit dem hermeneutischen Zirkel des Verstehens aufweist.
Kant spricht in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (Kant 1975) in BA 104 von einer Art von Zirkel, in BA 110 von einem „geheimen Zirkel“ in der Begründung von Ethik, indem der Verpflichtungscharakter sittlicher Sollenssätze und Freiheit durch wechselseitigen Verweis aufeinander begründet werden. Für Kant ist dies jedoch kein wirklicher Zirkel, sondern eher eine Art von wechselseitigem Implikationsverhältnis. Für ihn muss eine Beschränkung vorgenommen werden: Auf transzendentaler Ebene ist die Bedingung der Möglichkeit, Freiheit zu denken, die unumgängliche Annahme sittlicher Verpflichtung, und umgekehrt: Freiheit zu unterstellen ist unumgänglich, um sittliche Verpflichtung denken zu können. Hier liegt die Grundstruktur einer hermeneutischen Ethik offen: Sowohl Freiheit (Autonomie) wie kategorischer Imperativ (sittliche Verpflichtung) sind erforderlich, um konkrete Sittlichkeit denken zu können.
Dieser Zirkel in der Begründung sittlicher Verpflichtung hat nicht nur eine transzendentale Dimension, sondern verweist auf eine hermeneutisch begründete Ethik, denn dieser Zirkel weist eine Strukturähnlichkeit mit dem des hermeneutischen Verstehens auf. Wenn jemand nicht immer schon über ein Umgangswissen mit sittlichen Verpflichtungen verfügt, kann diesem die ethisch-philosophische Reflexion eine sittliche Verpflichtung nicht andemonstrieren. Dieses Umgangswissen hat auch der „Böse“, der die sittliche Verpflichtung realisiert, indem er die Verpflichtung übertritt (Kant 1975; Grundlegung zu Metaphysik der Sitten; BA 113). Dies ist gemäß Kant auch nicht weiter verwunderlich. Die Begründung ethischer Prinzipien aus dem Grundansatz der Heteronomie stellt nach Kant einen Widerspruch in sich selbst dar. Die Begründung der Sittlichkeit auf ein natürliches Gesetz oder auf ein moralisches Gefühl wäre eine Ableitung einer sittlichen Verpflichtung aus etwas Natürlichem und damit der Sittlichkeit Fremdem, ebenso eine Ableitung aus dem Willen Gottes, der anderen Klasse von heteronomen „Ethiken“. Die Sittlichkeit kann nur dann in ihrer Dignität angemessen verstanden werden, wenn sie allein aus sich selbst heraus verstanden wird. Wir sind nur dann moralisch verantwortlich, wenn nicht die Natur oder Gott in uns handelt und wenn es so etwas wie sittlich relevante Verpflichtung gibt. Nur dann macht es überhaupt Sinn, von Moral im Sinne von Verpflichtung und Freiheit zu sprechen. Eine Begründung von sittlicher Verpflichtung im Sinne einer Letztbegründung legt Kant hier nicht vor, macht allerdings plausibel, warum es nicht sinnvoll ist, Ethik aus der Natur oder aus der Religion abzuleiten. Vielmehr ist bei der Kantischen Letztbegründung von Ethik der Rückgriff auf das Faktum der Erfahrung sittlicher Verpflichtung unumgänglich.
Bei einer Erschließung der philosophischen Bewertung der Praxis kann darauf hingewiesen werden, dass gelungene Praxis nur auf der „Wahrheit“ der ihr zugrundeliegenden theoretischen Annahmen gründen kann, also auf pragmatische Wahrheit. Auch hier liegt die Denkweise der Hermeneutischen Ethik zugrunde: Theorie und Praxis sind keine Gegensätze, sondern verweisen aufeinander, wobei es Formen der Praxis gibt, die der Theorie nicht bedürfen, weil implizites Wissen und Können ausreicht, die Routine-Situationen zu bewältigen. Konflikt-Situationen aber – und sie sind Ausgangspunkt der Hermeneutischen Ethik – verlangen nach Theorie. Andererseits bedarf die Theorie zu ihrer Realisierung der Praxis, nämlich des Lesens, Schreibens, Rechnens usw. Die Vorstellung, eine falsche Aussage könne trotzdem zum gewünschten Ergebnis des Handelns führen, muss demnach als grundsätzlich abwegig erscheinen, oder es zeigt sich im Nachhinein, dass diese Aussage gar nicht falsch gewesen ist, sondern nur für falsch gehalten wurde. Mit anderen Worten: Nützlichkeit setzt grundsätzliche Richtigkeit voraus (Gallee 2003). Sie ist rational und nicht irrational, aber darum noch nicht unmittelbar sittlich.
Der Begriff der Hypothese wird bei Peirce zwar beibehalten, allerdings ist darunter jetzt nur noch das sprachliche Ergebnis des abduktiven Prozesses zu verstehen. Beim Begriff der Abduktion geht es wesentlich darum, auf Mögliches zu verweisen (Gallee 2003). Die induktive Logik der Entdeckung, zu der auch die Abduktion gehört, ist auch eine Frage der Organisation. Unbeschadet der gerade verwendeten Terminologie, muss man nicht Logiker oder Wissenschaftstheoretiker sein, um ethische Konflikte zu entschärfen. Bestätigung, Vergewisserung, Verifikation von Theorien liegt in den Werken, in den Konsequenzen. Für Werke sind ein Plan oder Aufforderungen zu einem spezifischen Handeln erforderlich. Die Notwendigkeit der Ausführung von Handlungen stellt objektive Kriterien bereit. Die Hypothese, die sich bewährt, ist wahr, wenn Wahrheit als Nützlichkeit definiert wird. Jede moralische Situation ist eine einmalige Situation. Um sie zu bewerten, gibt es eine pragmatische Regel: Um die Bedeutung einer Idee zu finden, muss man nach ihren Konsequenzen fragen. Dazu ist eine sorgfältige Untersuchung der ausführenden Handlungen erforderlich. Es geht nicht um die Befolgung moralischer Regeln, sondern um die Aufdeckung von Übeln, die in einem besonderen Fall der Abhilfe bedürfen. Wichtig ist die Beseitigung der Ursachen für diese Übel, nicht die Diskussion von ethischen Prinzipien. Dewey weist auf die pragmatische Bedeutung der Logik individualisierter Situationen hin. Es geht um Methoden, um die Ursachen menschlichen Leidens zu entdecken. Technisches Erfinden ist aber als Kreativität und nicht bloß im Sinne des Erwerbsstrebens zu interpretieren. Der Utilitarismus und der ökonomische Materialismus sind keineswegs identisch (Dewey 1989, 200 – 225). Nicht Begriffe sind zu diskutieren, sondern die wirkliche Ordnung des Sozialen. Individualität ist nicht ursprünglich gegeben, sondern wird unter dem Einfluss des vergesellschafteten Lebens geschaffen.
So ergibt sich im Sinne des „Sowohl – als auch“ die Verknüpfung von „Top – down“ und „Buttom – up“-Verfahren zu einer Interpretationsspirale, die ständig selbstkritisch durchlaufen werden und durch eine Interpretationsgemeinschaft abgesichert werden sollte. Hermeneutischer Ethik geht es um die Strukturierung der Bewertung von Handlungen oder Handlungsbereichen als Ineinander von Deuten und Werten im Sinne des „Sowohl – als auch“. Um den Übergang von Deuten zum Werten methodisch abgesichert durchführen zu können, bedarf es einer Rahmenordnung. Diese umfasst mindestens vier Ebenen:
1 auf der Ebene allgemeiner Prinzipien und Leitbilder;
2 auf der Ebene bereichsspezifischer und temporaler Handlungsregeln (Normen und Werte; Maximen);
3 auf der Ebene der Anwendungsregeln im Sinne von Handlungsregeln und
4 auf der Ebene der Anwendungsregeln für Handlungskriterien durch Etablierung ethisch relevanter empirischer Kriterien.
Für die medizinische Ethik würde die erste Stufe im ethischen Prinzip der Menschenwürde zu sehen sein, die zweite Ebene hätte als Leitbild die Patientenautonomie, in einer dritten Ebene müsste die Kompetenz zur sittlichen Entscheidung näher geklärt werden. Auf der vierten Ebene sind empirische Kriterien zur Bestimmung der Entscheidungskompetenz einzelner Menschen bei Demenz, psychischen Erkrankungen usw. erforderlich. Bei dem konkreten Fall einer Bewertung ist es dabei zunächst gleichgültig, von welcher Ebene ausgegangen wird. Bei der Bewertung einer sittlichen Verpflichtung in einer konkreten Situation wird man zunächst in der vierten Ebene anfangen. Lässt sich die Frage mit den hier zur Verfügung stehenden Mitteln nicht lösen, ist ein Rückgang auf eine fundamentalere Ebene erforderlich. Lässt sich auf der fundamentalsten oder ersten Ebene keine Einigkeit erzielen, ist Toleranz erforderlich. Zumindest der zur Diskussion stehende Wertkonflikt kann herausgearbeitet werden, es können aber auch gesellschaftliche Entscheidungs- bzw. Abstimmungsprozesse erforderlich sein. Hermeneutische Ethik beruht so auf einer abgestuften ethischen Argumentation von der Prinzipienreflexion bis zur ethisch reflektierten Empirie und umgekehrt. Es handelt sich dabei nicht um eine Deduktion von oben herab. Es gibt höchstens Verfahren der „Herleitung“ in einem schwachen Verständnis, in dem Argumentationszusammenhänge zwischen den einzelnen Stufen, also zwischen Prinzipienreflexion und ethisch reflektierter Argumentation entwickelt werden müssen.
(3) Das Einzelne und das Allgemeine: Regionalisierung und Temporalisierung des Universalisierungsparadigmas. Dieses Kriterium führt zu einer regelgeleiteten Ethik. Die Universalisierungsregel als Überprüfungsinstrument der Sittlichkeit zielt darauf ab, ein Unbedingtes im Sittlichen festzustellen. Was sich universalisieren lässt, ist notwendig und unbedingt sittlich verpflichtend. Kant kennt zwei Formeln der Verallgemeinerung, zum einen die Naturgesetzanalogie, die dem Wissenschaftsmodell nahe steht und der Metaphysik der Natur entlehnt ist, zum anderen das Reich der Zwecke, das sich der Konzeption der Selbstzweckformel verdankt und damit handlungstheoretisch bestimmt ist (Kant 1975). Das handlungstheoretische Modell weist die Form von Zirkularität auf, die auch Ausgangspunkt einer hermeneutischen Ethik ist. Hier liegen die Grenzen einer Parallelisierung des Kategorischen Imperatives in Gestalt der Allgemeinheit und der Selbstzweckformel. Die Form der Zirkularität liegt beim handlungstheoretischen Ansatz vor, nicht beim Universalisierungsverfahren. Dies liegt daran, dass die handlungstheoretische Interpretation des Kategorischen Imperatives, die Selbstzweckformel, nicht nur formal ist, sondern anthropologische Grundannahmen über den Menschen voraussetzen muss, die nicht allein aus der Struktur der reinen Vernunft abzuleiten sind. Das Universalisierungsverfahren könnte als rein formal ausgelegt werden, obwohl eine Maximenbildung rein formal nicht möglich ist. In der „Kritik der praktischen Vernunft“ geht Kant nur noch vom Universalisierungsverfahren aus, so dass seine spätere Position insgesamt stärker auf eine formale Ethik hinausläuft.
Seit Immanuel Kant gehört der Kategorische Imperativ zu den Grundlagen der neuzeitlichen Ethik. In besonderer Weise charakterisiert Höffe den Kategorischen Imperativ als Form der nichtempirischen Verallgemeinerung von Handlungsmaximen. Bereits in der „Grundlegung“ (Kant 1975) bietet Kant in der Begründung von vier moralischen Pflichten – den Eckpfosten des späteren Systems der Moral – eine exemplarische Anwendung des Kategorischen Imperativs an. Anhand der Begründung des Verbots des falschen Versprechens lässt sich der Grundlagenstreit zwischen Kant und dem Utilitarismus aufzeigen und darlegen, dass auch in Kants Ethik Folgenüberlegungen eine Rolle spielen können. Auffallend ist Kants kritische Spitze gegen den Empirismus (Höffe 1989, 206 – 210). Nach Kant lässt sich nicht nur der Kategorische Imperativ, sondern auch das System der moralischen Pflichten a priori aus der Vernunft herleiten.
So ist der Verpflichtungscharakter z. B. im Lügenverbot gemäß Kant nur erfahrungsfrei zu bestimmen (Höffe 1989, 213). Unterziehe ich meine Handlungsmaxime: „Lüge immer, wenn dir dadurch ein Nutzen entsteht“ einem nicht-empirischen Verallgemeinerungstest, so ist unschwer einzusehen, dass die Maxime, ständig zu lügen, der Kommunikationsfunktion der Sprache widerspricht, die auf Offenlegung der Wahrheit abzielt. Sprache wäre kein Kommunikationsorgan, wenn jeder jederzeit vermuten müsste, er werde ständig angelogen. Ein Rückgriff auf die Empirie ist für die Bewertung des Lügens nicht erforderlich, auch wenn ein intuitives Wissen um Sprache implizit vorausgesetzt ist. Das Lügen stellt einen Widerspruch in sich selbst dar, wenn man die Kommunikationsfunktion der Sprache beachtet.
Wenn man Kants Ethik konkret anzuwenden sucht, ergeben sich eine Reihe von Interpretationsproblemen, mit denen sich die Hermeneutische Ethik beschäftigt. Höffe betont die Mehrstufigkeit des Verallgemeinerungstestes (impliziert damit das Konzept der Gradualität) bei Kant und unterscheidet (1) einen Verallgemeinerungstest zur Begründung moralischer Pflichten von (2) einer situationsgerechten Konkretisierung einer moralischen Pflicht. Dabei ist das Moralprinzip Kriterium der Lauterkeit der Gesinnung. Auch die Pflichtenkollision ist kein Einwand gegen Kants Konzeption, denn sie betrifft nicht die Verbindlichkeit des Verpflichtenden, sondern stellt eher ein handlungstheoretisches Problem dar. Der Rigorismus Kants ist nicht so ausgeprägt wie häufig unterstellt. Dabei muss Kants Verallgemeinerungsverfahren auch kritisch von der empirisch-pragmatischen Deutung der Verallgemeinerung im Regel-Utilitarismus abgegrenzt werden (Höffe 1989). Der Utilitarismus geht von einer Verallgemeinerung der – empirisch feststellbaren bzw. prognostizierbaren – Folgen aus und unterstellt, dass nach der Antwort auf die Frage, welche Folgen eintreten würden, wenn z. B. alle Menschen lügen würden, es klar sei, dass diese Folgen nicht wünschenswert sind.
Dies gilt auch dann, wenn Kant z. B. bei der Begründung des Verbots des falschen Versprechens auf einen Glaubwürdigkeitsverlust und damit auf einen Begriff rekurriert, der für eine empirisch-pragmatische Interpretation höchst offen ist. Kants Ethik konzentriert sich auf das, wofür der Mensch voll verantwortlich ist. Denn um z. B. die Widersprüchlichkeit der Zwecksetzungen in einem falschen Versprechen zu erfassen, bedarf es keiner Empirie (Höffe 1989). Die empirisch-pragmatische Deutung der Verallgemeinerung von Handlungsregeln aufgrund von Folgenbetrachtungen im Regel-Utilitarismus würde das Lügenverbot folgendermaßen bewerten: Angesichts einer Handlungsregel, die mich zum Lügen anhält, wenn es mir nutzt, müsste eine Folgenabschätzung vorgenommen werden für den Fall, dass alle diese Handlungsregel befolgen. Dann müsste ich bei jedem anderen unterstellen, dass er lügt, wenn ihm dies nützt, d. h. in der Regel. So kann keine Gemeinsamkeit und kein Vertrauen entstehen. Also sind die Folgen dieser allgemeinen Befolgung der Lügen-Handlungsmaxime nicht wünschenswert. Daher ist Lügen in der Regel gemäß der empirischen Verallgemeinerung nicht erlaubt, es sei denn, die Lüge hätte Nutzen für die Allgemeinheit zur Folge oder entspräche einer sittlichen Verpflichtung, etwa um einen Menschen vor dem Tode zu retten.
Allerdings lassen sich gegen die empirische Form der Verallgemeinerung Einwände formulieren. Richard Hare weist darauf hin, dass die Universalisierbarkeit moralischer Urteile das Vorkommen von zeitlichen Bezügen in moralischen Prinzipien verbiete (Hare 1992). Dann wendet sich Hare gegen Mackies Behauptung, dass es verschiedene Stufen der Universalisierung gibt. Auch der andere übliche Vorschlag, moralische von nicht moralischen Werten zu unterscheiden, die Orientierung an Präferenzen, befriedigt gemäß Hare nicht, da sich Präferenzen schlecht miteinander vergleichen lassen. Der unparteiliche Standpunkt, der Präferenzen gleich gewichtet, der hier oft gefordert wird, kann aber durchaus zu kontraintuitiven Ergebnissen führen. Hare konstruiert das Beispiel eines alleinstehenden Obdachlosen, dessen Tötung zwecks Organentnahme zwei Familienväter retten könnte. Er müsste gemäß dem Präferenzutilitarismus getötet werden.
Universalisiertes Glück oder Freude, also das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl, ist als das, was absolut und ohne jede Spezifikation gut oder wünschbar ist, also als Prinzip des rationalen Wohlwollens Grundlage eines universalisierten Utilitarismus (Sidgwick 1981). Der Common-Sense der Menschheit kommt zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie der universalisierte Utilitarismus, allerdings bei weit unsichereren und nur halbbewussten Gründen derselben Art. Unter den Begriffen von Wohlwollen, Selbstverleugnung etc. preist der Common-Sense eine Form der Unterdrückung des Egoismus, die hinter dem, was Utilitaristen als wichtig erscheint, zurückfällt. Schon bei David Hume oder John Stuart Mill gilt als Ursprung der Gerechtigkeit der Nutzen. Und dies ist die generelle These, die auch Sidgwick vertritt. Wir haben moralisch zu sein, weil dies nützlich ist für die Gesellschaft, in der wir leben. Der Utilitarismus erzeugt keine neue Moral, er verbessert und systematisiert sie. Der Utilitarismus macht damit Moral und sittliche Verpflichtung im Sinne der Utilität noch vollkommener. Deutlich ist jedoch die Unterscheidung zwischen dem individuellen Nutzen und dem allgemeinen Nutzen im Sinne des Gemeinwohls. Im Konfliktfall haben wir uns am Gemeinwohl zu orientieren. Wir sollen moralisch handeln, weil sich dieses im Sinne des Common Sense bewährt hat und im Sinne des Utilitarismus nützt.
Eine Hermeneutische Ethik kennt aber nicht nur universell gültige moralische Regeln an, sondern auch Ausnahmen für Sonderfälle und spezielle Situationen. Auch hier kann der Verallgemeinerungstest als Prüfverfahren herangezogen werden. Um als sittlich gelten zu können, muss sich eine Handlungsmaxime verallgemeinern lassen in dem Sinne: „immer dann (und nur dann), wenn diese spezifische Ausnahme auftritt, ist diese Ausnahme von der Regel gerechtfertigt (konkret: immer dann, wenn ich durch eine Lüge ein Menschenleben retten kann, ist eine Lüge sittlich zu rechtfertigen). Auch Ausnahmen von der Regel müssen sich verallgemeinern lassen (Epikie).
Moralische Regeln bzw. Handlungsmaximen besagen, was normalerweise oder in den meisten Fällen richtig oder nicht richtig ist (Singer 1975). Marcus Georg Singer unterscheidet drei Arten von moralischen Regeln: (1) fundamentale moralische Regeln, (2) lokale Regeln und (3) neutrale Normen wie etwa Verkehrsregeln, wo wie beim Links- oder Rechtsverkehr mit genau der entgegengesetzten Regel das gleiche Resultat zu erzeugen ist. Ausnahmen untergraben moralische Regeln nicht, da Regeln nur im Allgemeinen von Nutzen sind. Rechtfertigung moralischer Regeln ist nach Singer durch Verallgemeinerung oder durch Hinweis auf die Art von Folgen, die eine Nichtbefolgung aller Wahrscheinlichkeit nach haben würde, möglich. Singer fasst das ethische Urteil als Anwendungsfall einer Verallgemeinerung auf, wodurch ethischen Urteilen Allgemeinheit zukomme. Die Anwendung des Verallgemeinerungsverfahrens legt nicht fest, dass die Folgen davon, dass jeder in einer bestimmten Weise handeln würde, nicht wünschenswert wären. Was nicht wünschenswert ist, wird vielmehr vorausgesetzt. Das verallgemeinerte Prinzip der Folgen impliziert, dass jeder (im kollektiven und nicht im distributiven Sinne) die Folgen für nicht wünschenswert halten muss.
Die Anwendung des Verallgemeinerungsverfahrens ist nicht immer gleich einfach, denn Situationen sind verschieden und erlauben keine Prognose über das Handeln (Singer 1975). Obwohl das Argument der Verallgemeinerung und das Prinzip der Nützlichkeit nicht gänzlich unverwandt sind, läßt sich das Verallgemeinerungsprinzip nicht in das Nützlichkeitsprinzip umformulieren. Die Unparteilichkeitsforderung und das Universalisierungsverfahren verstehen sich wie der Regelbegriff im Sinne moralischer Regeln (traditionell gesprochen Normen) als Ausdruck praktischer Vernunft. Regeln definieren und regulieren Verhaltensweisen und konstituieren so Handlungen. Doch soll dies keineswegs zu dem Glauben führen, dass sich mit der Formulierung von Regeln die Hauptarbeit einer anwendungsorientierten Ethik erschöpft. Vielmehr muss die Kompetenz der Regelanwendung beim einzelnen durch die exemplarische Bewertung von Fallbeispielen eingeübt werden.
Regelbefolgung hilft beim Gruppenzusammenhalt, erleichtert das Funktionieren von Institutionen und trägt so dazu bei, soziales Handeln zu ermöglichen. Daher haben moralische Regeln in einer angewandten Ethik vor allem Überprüfungsfunktion für die moralische Intuition und Anleitungsfunktion für Entscheidungen in unüberschaubaren oder unsicheren Situationen. Regeln und Kriterien, entwickelt von einer professionellen anwendungsorientierten Ethik, dienen dazu, ethische Güterabwägungen und Folgenbewertungen im Sinne praktischer Vernunft als ethische Expertise zu konzipieren und damit zur Maximenbildung derjenigen beizutragen, die entscheiden müssen. Im Zeitalter der Experten wird auch der Ethiker zum Experten (Sass 1991). Praktisch-ethische Fragen sind nicht aus der Hüfte mit generalisierenden Theorien zu beantworten, sondern durch Differenzierung der Umstände und Folgen des entsprechenden Handelns. Daher lässt eine hermeneutisch orientierte praktische Ethik das Verallgemeinerungsverfahren in beiden Versionen zu, nämlich die Überprüfung einer Handlungsmaxime auf innere Stimmigkeit hin (Nicht-empirische Verallgemeinerung), aber auch die Überprüfung einer Handlungsmaxime anhand der erwartbaren Folgen bei der generalisierten Anwendung dieser Maxime. Dabei wird deutlich, dass unterschiedliche Ebenen der Anwendung des Verallgemeinerungstestes von Handlungsmaximen und damit ethischer Argumentation erforderlich sind.
Mit dieser sowohl transzendentalphilosophischen wie pragmatisch-utilitaristischen Interpretation des Universalisierungsparadigmas lassen sich die ethischen Leitbilder der ethisch eingebetteten Autonomie bzw. Selbstverwirklichung wie einer umfassenden Langzeitverantwortung begründen, insbesondere wenn diese mit der Interpretations- und Rechtfertigungsspirale verbunden werden. Auch der Begriff der ethischen Regel lässt sich so begründen, der für die Rechtfertigung einer Minimalethik von besonderer Bedeutung ist. Hermeneutische Ethik reduziert sich zwar nicht auf die Aufstellung von Regeln. Dennoch sind Regeln ein nützliches Hilfsmittel beim ethischen Urteil, welche den Kunstcharakter von Ethik betonen. Regeln wie (geprüfte) Ausnahmen sind Bestandteile ethischen Interpretierens in einer Hermeneutischen Ethik.
(4) Sein und Sollen. Naturalistische Ethiken begründen ihre normativen Forderungen direkt auf die Natur. Der Ansatz einer evolutionären Ethik scheitert bereits an der Frage, welche natürlichen Eigenschaften moralische Relevanz haben. Die Sein-Sollen-Unterscheidung geht auf David Hume zurück. In seinem „Traktat über die menschliche Natur“ umschreibt Hume den Denkfehler folgendermaßen: „In jedem Moralsystem, das mir bisher vorkam, habe ich immer bemerkt, dass der Verfasser eine Zeitlang in der gewöhnlichen Betrachtungsweise vorgeht, das Dasein Gottes feststellt oder Betrachtungen über menschliche Dinge vorbringt. Plötzlich werde ich damit überrascht, dass mir anstatt der üblichen Verbindungen von Worten mit ,ist‘ und ,ist nicht‘ kein Satz mehr begegnet, in dem nicht ein ,sollte‘ oder ,sollte nicht‘ sich fände. Dieser Wechsel vollzieht sich unmerklich; aber er ist von großer Wichtigkeit. Dieses sollte oder sollte nicht drückt eine neue Beziehung oder Behauptung aus, muss also notwendigerweise beachtet und erklärt werden. Gleichzeitig muss ein Grund angegeben werden für etwas, das sonst ganz unbegreiflich scheint, nämlich dafür, wie diese neue Beziehung zurückgeführt werden kann auf andere, die von ihr ganz verschieden sind“ (Hume 1973, 211).
Humes „Is-Ought-Thesis“ stellt den Unterschied von deskriptiven und präskriptiven Argumentationen fest. Sie wendet sich jedoch nicht grundsätzlich gegen eine Ableitung des Sollens aus dem Sein, sondern kritisiert eine Praxis, die unterschiedliche Begründungsebenen einfachhin vermischt. Erst in der späteren Fachdiskussion wurde bei George Edward Moore daraus das Verbot des „naturalistischen Fehlschlusses“. Dieses richtete sich gegen den Versuch, logisch von einem Sein auf ein Sollen zu schließen, wie dies vor allem die Verwendung des Prädikates „gut“ im Sinne von „funktionstüchtig“ gleich „sittlich wertvoll“ nahezulegen scheint (Ricken 1983, 47). Das Verbot des naturalistischen Fehlschlusses ist daher eine methodologisch weitergehende Forderung als das Humesche Gesetz.
Ausgangspunkt von George Edward Moores Überlegungen ist, dass das Wertwort „gut“ nicht definiert werden kann (Moore 1984, 36). Aus dieser Intuition ergibt sich folgende Konsequenz: „Es mag sein, dass alle Dinge, die gut sind, auch etwas anderes sind, so wie alle Dinge, die gelb sind, eine gewisse Art der Lichtschwingung hervorrufen. Und es steht fest, dass die Ethik entdecken will, welches die anderen Eigenschaften sind, die allen Dingen, die gut sind, zukommen. Aber viel zu viele Philosophen haben gemeint, dass sie, wenn sie diese anderen Eigenschaften nennen, tatsächlich ,gut‘ definieren; dass diese Eigenschaften in Wirklichkeit nicht ,andere‘ seien, sondern absolut und vollständig gleichbedeutend mit Gutheit. Diese Ansicht möchte ich den ,naturalistischen Fehlschluss‘ nennen“ (Moore 1984, 40 f.). Zur Unterscheidung von anderen Arten von Fehlschlüssen bezeichnet Moore damit diejenigen Theorien, die glauben, „,gut‘ könne mit Bezug auf einen natürlichen Gegenstand definiert werden“ (Moore 1984, 76). Der naturalistische Fehlschluss liegt vor, wenn aufgrund von Zweckmäßigkeiten und Funktionalitäten in der Natur auf ihren sittlichen Wert geschlossen wird.
Wenn Vertreter dieser Theorie auf ein Gefühl verweisen, so bleibt immer noch die Frage, ob das Gefühl selbst gut sei (Moore 1984, 79). Auch Gesundheit und Krankheit im Sinne des biologisch Normalen sind keine sittlichen Kriterien. Denn es ist nicht ausgemacht, dass das Normale gut sein muss“ (Moore 1984, 81). Moore zieht sein Fazit unter Hinweis auf das „open-question-Argument“: „Somit bleibt es stets eine offene Frage, ob etwas, das natürlich ist, auch gut ist“ (Moore 1984, 82). So sind für Moore weder Evolutionismus noch Hedonismus Grundlage für eine tragfähige Ethik, denn: „Kein Verhalten ist besser, weil es weiter entwickelt ist. Die Entwicklungsstufe kann allenfalls Kriterium ethischen Wertes sein; und das auch nur, falls wir die äußerst schwierige Verallgemeinerung beweisen können, dass das mehr Entwickelte im ganzen immer das Lustvollere ist“ (Moore 1984, 91). Es müsste erst einmal die Frage beantwortet werden: Ist das Leben lebenswert?
Neben dem „naturalistischen Fehlschluss“ und seiner evolutionär-genetischen wie psychologischen Variante behandelt Moore auch die Metaphysik ähnlich wie Hume. Auch Metaphysik kann nach Moore keinen Einfluss auf die Frage haben, was „gut“ sei. Er argumentiert folgendermaßen: „Zunächst steckt schon in der Frage: Was ist gut? ein Doppelsinn, dem offenbar ein gewisser Einfluss zukommt. Die Frage kann entweder bedeuten: Welche unter den existierenden Dingen sind gut? oder aber: Welche Art von Dingen sind gut, welches sind die Dinge, die – ob sie nun wirklich sind oder nicht – wirklich sein sollen?“ (Moore 1984, 174 f.) Denn nur auf die Frage, ob etwas wirklich ist, kann Metaphysik eine Antwort geben. Häufig werden in diesem Rahmen Werte aus dem Gewolltwerden, d. h. aus Bedürfnissen oder Interessen abgeleitet, aber „Gutsein ist […] ebensowenig identisch mit irgendwie Gewollt- oder Gefühltwerden, wie Wahrsein identisch ist mit irgendwie Gedachtwerden“ (Moore 1984, 197). Die einzige Rolle, die Moore der Metaphysik zubilligt, ist eine psychologische, nämlich auf Dinge, die wertvoll sein mögen, hinzuweisen (Moore 1984, 202). Von einer Begründung im spezifischen Sinne könne nicht die Rede sein. Um dem naturalistischen Fehlschluss zu entgehen, müsse man ganz klar zwischen Mittel und Zweck unterscheiden (Moore 1984, 243).
John Searle dagegen beharrt darauf, dass nicht bei allen methodischen Übergängen von Deskriptionen zu Präskriptionen naturalistische Fehlschlüsse vorlägen. Er geht davon aus, dass „ought“ ein schlichtes englisches Hilfsverb ist, „is“ eine englische Kopula. Und „genauso schlicht wie diese Wörter selbst ist auch die Frage, ob vom Sein aufs Sollen geschlossen werden kann“ (Searle 1971, 263). Searle geht es nicht um das moralische Sollen, sondern um Verpflichtungen und Imperative überhaupt. Daher sieht er z. B. eine Ableitung des Sollens aus einem Sein in der Institution des Versprechens gegeben. Institutionen sind mit Verpflichtungen verbunden. Und derartige „institutionelle Tatsachen“ (Searle 1971, 275) beschreibt beispielsweise auch die Soziobiologie. Für Searle hängt die strenge Unterscheidung von Sein und Sollen mit einer bestimmten Wissenschafts- und Wirklichkeitsauffassung zusammen, die er nicht teilt. Für Searle kann ein sittlicher Wert zumindest aus einer institutionellen Tatsache wie dem Versprechen, das einzuhalten ist, geschlossen werden.
Trotzdem muss es für Searle so etwas wie eine dritte Ebene geben, in der präskriptive mit deskriptiven Aussagen verbunden sind: „Wenn die von mir vertretene Ansicht richtig ist, hat die Unterscheidung zwischen deskriptiven Äußerungen und Wertäußerungen nur insofern Sinn, als damit die Unterscheidung zwischen zweierlei Arten von illokutionären Rollen, beschreibenden und bewertenden, gemeint ist. […] Übrigens bin ich der Ansicht, dass die Verpflichtung, ein Versprechen zu halten, nicht notwendig etwas mit Moralität zu tun hat. […] Es gehört zum Begriff des Versprechens, dass derjenige, der ein Versprechen gibt, sich damit verpflichtet, das und das zu tun. Aber ob die Institution des Versprechens als solche gut oder schlecht ist und ob die mit dem Versprechen übernommenen Verpflichtungen durch andere, davon unabhängige Erwägungen aufgehoben werden können, sind Fragen, die nicht zur Institution selbst gehören“ (Searle 1971, 278 – 281).
Verpflichtung ist außer an Sprache wesentlich auch an Verträge gebunden, hat also eher etwas mit Recht als mit Sittlichkeit zu tun. Ein Versprechen, gegeben um einen Mord zu decken, mag zwar eine Verpflichtung gegenüber einer anderen Person implizieren, sittlich jedoch darf es nicht genannt werden. Für Searle ist, eine Sprache zu sprechen, „untrennbar verknüpft mit der Übernahme von Verpflichtungen, dem Akzeptieren von Festlegungen, der Anerkennung zwingender Schlüsse“ (Searle 1971, 294). Damit leuchtet allerdings von selbst ein, dass mit dieser Ebene noch nicht notwendigerweise Sittlichkeit verbunden sein muss. Vielmehr stellt diese einen von institutionellen Tatsachen noch einmal verschiedenen Bereich dar, obwohl institutionelle Tatsachen Anknüpfungspunkte für sittliche Werte darstellen können. Die Beachtung der Sein-Sollen-Differenz ist daher eine wesentliche Minimalbedingung für die Unterscheidung von sittlichen und nicht-sittlichen Verpflichtungen.
Gemäß dem Ansatz von Deuten und Werten (Lenk 1993, Lenk 1995, Irrgang 1998) handelt es sich auch bei der Interpretation von Natur um Interpretationskonstrukte, die wir an die Natur herantragen. Der Wertansatz wird im Sinne einer inhaltlich zu konkretisierenden ethischen Argumentation im Hinblick auf Werte bzw. Normen und Werte ausgeführt. Ein nüchterner empirischer wie ethischer Blick kombiniert phänomenologische und hermeneutische Aspekte wie der Gebrauchs- und Anwendungspraxis. Dabei gibt es Werte, die durch konkrete Bedürfnisse generiert werden, also auch biologisch fundierte Werte und – ethisch gerechtfertigte – Wünsche von Individuen bzw. Organismen, also die subjektive Seite des Wertens, auf der anderen Seite konkrete Verpflichtungen, die Werte konstituieren, also die objektive Seite der Werte und einer Ethik, in der Argumentation das angemessene Medium ethischer Aussagen darstellt.
Die zu bewertenden ethischen Problemfälle sind häufig Konsequenzen wissenschaftlicher und technischer Innovation. Insofern Technik eine zentrale Rolle im Rahmen einer hermeneutischen Ethik spielt, ist auch die Ethik etwas anders zu strukturieren. Sie hat zwei Perspektiven, die in komplementärer Art und Weise miteinander zusammengebracht werden müssen. Es handelt sich zum einen um die Dimension des Nutzens und des Gelingen Könnens wie der Effizienz. Die zweite Dimension ist die des Guten, des Gerechten, der Autonomie, kurzum des Ethischen. Erforderlich ist eine komplementäre Betrachtungsweise. Der Natur, wenn sie sich in Koevolution als funktional effizient und im Hinblick auf Auswirkungen als sinnvoll erwiesen hat (viel mehr noch bei rekonstruierter oder gar konstruierter „Natur“), kann eine Bedeutung, ein Sinn, möglicherweise ein Nutzwert zugesprochen werden, der eine ethische Wertung nahe legt. So kann man aus der Perspektive der Hermeneutischen Ethik zumindest in übertragenem Sinn von einer „Moralität der Dinge“, genauer von einer moralischen Bedeutsamkeit der Dinge sprechen. Bruno Latour spricht in seinem Werk „Wir sind nie modern gewesen“ vom Handeln der Dinge, gemäß Langdon Winner schlagen die Dinge zurück. Dies ist eine zu starke Metaphorik, denn das kann bestenfalls ein Handeln von Zombies darstellen. Dinge handeln nicht selbst, erhalten aber Bedeutung im Kontext menschlicher Praxis. In gewisser Weise spricht auch Albert Borgmann (1984) von aktiven Potenzen insbesondere technischer Mittel. Und dass technische Mittel, die zu einem ganz speziellen Zweck konstruiert wurden, eine aktiv vermittelnde Rolle in der technischen Praxis spielen können, würde auch ich zugestehen. Ganz sicher aber gilt das „Sowohl – als auch“ für menschliche Praxis, auch technische Praxis.
Betrachtet man die Diskussion um Moral, Ethos und Ethik und die neuzeitliche Diskussion um Ethik als Reflexion und Rechtfertigung ethischer Urteile, so schlage ich vor, für die Diskussion von Ethik und Moral sechs Untersuchungsebenen zu unterscheiden, auf denen Fragen sittlicher Natur analysiert werden können. So wird klar, dass in der Ethik sowohl ethische wie empirische Aussagen eine zentrale Rolle spielen, und das in enger Verzahnung:
1 Die Frage nach der Herkunft von Normen und Werten, die sich biologisch, kulturgeschichtlich, psychologisch oder soziologisch beantworten lässt und einen Beitrag zur Erhellung der sozialen Geltung und faktischen Anerkennung von bestimmten Leitlinien darstellt.
2 Davon zu unterscheiden ist die Ebene der argumentativen Begründung und Rechtfertigung von Sollensansprüchen, die bei einer nicht bloß formalen Ethik von einem Menschenbild abhängig ist und eine Bestimmung des Subjekt- und Personbegriffs voraussetzt. Hier stellt sich die Frage nach der Möglichkeit einer anthropologischen „Fundierung“ der Moral und ihrem Verhältnis zur reflektierenden Disziplin, der Ethik, bzw. die Frage nach der Notwendigkeit des Rückgriffs auf Aussagen anthropologischer Art bei der Rechtfertigung materialer und normativer Ethik. Dieser Rückgriff kann in empirischer, metaphysischer oder in transzendentaler Weise geschehen.
3 Dazu kommt eine Analyse der Strukturen von Handlungen und Entscheidungen. In diese gehen ebenfalls empirische Elemente ein. Eine spezifische Handlungstheorie und eine jeweils dazu passende Ethik implizieren sich gegenseitig.
4 Aus der Perspektive einer Hermeneutischen Ethik besonders wichtig ist letztlich die Reflexion auf die Durchsetzungsstrategien und Einlösungschancen von Sollensansprüchen, die ihrerseits wieder von einem Menschenbild abhängig sind.
5 Eine entscheidende Dimension neuzeitlicher Ethik ist Ethikbegründung durch Verfahren, z. B. durch Abschluss von Verträgen, durch Begründungsdiskurse oder durch transzendentale Deduktionen im Rahmen praktischer Vernunft.
6 Die Explikation des sittlich Normativen durch Analyse der moralischen Verpflichtung, der Moralsprache und des moralischen Urteils (Irrgang 2001b).
In der Rechtfertigungsebene sollten ethisch-normative und empirisch-deskriptive Argumentationen unterschieden und nicht vermischt werden. In der Anwendungsebene müssen aber immer ethische Normen auf empirische Tatbestände meist anthropologischer Art hin befragt werden und daher in wechselseitige Beziehung gebracht werden. In einer Hermeneutischen Ethik bedarf es also des Deutens und Wertens in einer Synoptik. Sowohl empirische Argumentationen wie ethische oder metaethische Argumente sind erforderlich, um Fragen angewandter Ethik beantworten zu können. Synoptik bedeutet nicht Synthese, sie sollen nicht in einer „höheren Einheit“ verschmelzen (das käme dem naturalistischen Fehlschluss gefährlich nahe), sondern Zusammenschau der Argumente unterschiedlicher Ebenen und unterschiedlicher Valenz, um ein Problem adäquat deuten und bewerten zu können.
(5) Ideale Sittlichkeit und Realisierbarkeit umschreiben das fünfte methodische Paradigma im Zeichen des „Sowohl – als auch“, das sich direkt auf die wertende Interpretation menschlicher Praxis wendet. Die Realisierbarkeit als wichtiger methodischer Gesichtspunkt einer anwendungsorientierten hermeneutischen Ethik bedeutet: Die Analyse des Anteils instrumenteller und sittlicher Rationalität bei der Durchführung von Handlungen ergibt, dass instrumentelle und sittliche Rationalität nicht als Gegensatz begriffen werden sollten, jedenfalls nicht unter allen Umständen. Auch hier brauchen wir eine Synoptik. Eine Entgegensetzung von hypothetischen und kategorischen Imperativen erfolgt auch bei Kant nicht, außer in methodischer Hinsicht, um den sittlichen Verpflichtungscharakter von Aufforderungen hervorzuheben. Hermeneutische Ethik verknüpft den instrumentellen strategischen Anteil an Handlungen mit dem sittlichen Verpflichtungscharakter in der Zielbewertung, unter dem Handlungen stehen. Anders als in der Kantischen Ethik sind Situationsanalyse, Mittelanalyse und Folgenabschätzung konstitutive Rahmenbedingungen für die Bewertung einer Handlung. In zunehmendem Maße werden technisch-ökonomische Rahmenbedingungen für die Eruierung und Formulierung einer sittlichen Verpflichtung in einer konkreten Situation relevant. Geltungsfragen müssen mit der Analyse der Realisierbarkeit verknüpft werden. Es sind realisierbare sittliche Verpflichtungen für konkrete Situationen zu erarbeiten. Zwar ist die Realisierbarkeit kein Kriterium für die Geltung einer Norm an sich, zur Beurteilung der Anwendbarkeit einer sittlichen Verpflichtung sind aber Situation- und Mittelwahl, potentielle Folgen und nicht intendierte Folgen ganz entscheidend und dürfen nicht übersehen werden.
Ein konkretes Beispiel. Das Transplantationsgesetz der Bundesrepublik schreibt für die Freigabe der Spenderorgane die Zustimmungslösung vor. Patienten bestimmen vor ihrem Tod, ob ihre Organe unter geeigneten Umständen nach ihrem Tod als Transplantate verwendet werden dürfen. Dies scheint im Sinne der Ethik der Patientenautonomie auch ganz in Ordnung. Und ich habe dies selbst lange so gesehen. Heute ist das für mich ein Beispiel für eine supererogatorische Ethik. Wenn wir alle moralische Helden wären, wäre diese Position kein Problem. Dann hätte ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung einen Organspendeausweis. Da wir aber offenbar keine moralischen Helden sind (man kann dies an der tatsächlichen Anzahl der Organspenderausweisen in der Bevölkerung ablesen), werden aufgrund dieses unrealistisch hohen ethischen Standards tausende von Menschen zu einem vorzeitigen Tod verurteilt, die man sonst retten könnte. Die Nichtwiderspruchslösung, praktisiert in Österreich, könnte so der Verpflichtung einer Hermeneutischen Ethik eher gerecht werden, eine Synopse zwischen sittlicher Idealität und Realisierbarkeit anzustreben. Vielleicht kommt dabei ja dann auch eine ethisch befriedigendere Lösung heraus?
Sittliche Verpflichtungen so zu formulieren, dass ihre Anwendungsbedingungen nicht geklärt werden, läuft darauf hinaus, normative Ethik als Sonntagsmoral mit moralinsaurem Zeigefinger zu betreiben. Sachzwänge, unter denen Handelnde in bestimmten Bereichen stehen, z. B. ruinöse Dilemma-Situationen, wie sie die ökonomisch orientierte Spieltheorie beschreibt, sind zu berücksichtigen und in einer Form aufzulösen, die dem Handelnden einen persönlichen Ausweg in seinem Handeln eröffnet. Die Hoffnung auf Auflösung theoretischer Konfliktsituationen im konkreten Handeln vermittelt das Umgangswissen mit sittlichen Verpflichtungen trotz des Bewußtseins, dass in bestimmten Situationen eine allseits befriedigende Handlungsmöglichkeit nicht besteht. Bei der Entscheidung von Eltern über die Abtreibung von Feten mit schwersten Behinderungen z. B. können solche Verpflichtungskonflikte auftreten, dass eine glatte ethische Lösung nicht möglich erscheint. Eine Hermeneutische Ethik erkennt diese Möglichkeit an im Gegensatz zu den meisten Prinzipienethiken.
Hermeneutische Ethik stellt die Realisierung sittlicher Verpflichtung in den Mittelpunkt einer anwendungsorientierten Ethik. Sie entwickelt damit für das Verhältnis von instrumentellem und ethischem Umgangswissen eine neue Beziehung. Seit Kant werden hypothetische und kategorische Imperative, strategisches Umgangswissen, nämlich wie ein bestimmtes Ergebnis erzielt werden kann, und eigentliche sittliche Verpflichtung als Gegensätze gesehen. Und nur letztere sind für Kant Gegenstand der Ethik. Es ist nicht zu leugnen: Effektivität kann unsittlich sein. Perfekte Kooperation einer mafiösen Organisation ist effizient im Sinne des Gruppenegoismus, keinesfalls darum schon sittlich. Vielleicht gibt es den edlen Räuber wie Robin Hood, aber auch in diesem Falle manifestiert sich Sittlichkeit nicht in der Maximierung des geraubten Gutes, sondern höchstens im Hinblick auf die Verteilung des erbeuteten Gutes an Arme und Ausgebeutete. Strategisches Verhalten kann unsittlich sein, aber wenn jemand überhaupt nicht versteht, etwas zu erwerben, kann er auch nichts abgeben oder verteilen. Dann ist er auch nicht in der Lage, sittlichen Verpflichtungen nachzukommen. Also ist strategische Vernunft keineswegs irrelevant für die Realisierung sittlicher Verpflichtungen. Koppelt man Realisierungsfragen von Geltungsfragen sittlicher Verpflichtungen vollständig ab, dann ist strategisches Umgangswissen irrelevant für Ethik. Für eine anwendungsorientierte Ethik kann dies aber nicht der Fall sein.
Homann und Pies behaupten sogar, die Geltung einer Norm hänge von ihrer Realisierbarkeit ab. Allerdings wird mit Geltung hier wohl vor allem die soziale Geltung einer Norm gemeint sein. Unter den Bedingungen der Moderne schlägt die Implementierung einer Norm auf ihre Geltung durch. Die durchaus normativ verstandenen Produktivitäts- und Freiheitspotentiale moderner Gesellschaften lassen sich nur durch strategisches Handeln und durch institutionelle Arrangements so kanalisieren, dass dieses zu allgemein wünschenswerten Ergebnissen führt. Das Gewissen sei nicht in der Lage, das Versagen der Institutionen zu kompensieren. Strategische Rationalität stelle das zentrale Problem für jede praktische Ethik dar (Homann/Pies 1994, 5 f.). Zwar kann eine ökonomisch diktierte Wirtschaftsethik nicht zum Maßstab von praktischer Ethik schlechthin werden, zu nahe liegt ein naturalistischer Fehlschluss, dennoch sind Realisierungsbedingungen ein zentrales Bestimmungsmoment für die Formulierung sittlicher Verpflichtungen. Das Realisierbarkeitsparadigma greift auf die Kompetenz zurück, sittliche Verpflichtungen in bestimmten Situationen aufzufinden und zu realisieren. Dabei sind spezifische Formen des verstehenden Umgangs mit sittlichen Verpflichtungen herauszuarbeiten. In ethischen Faustregeln bzw. sittlichen Prinzipien mittlerer Reichweite manifestiert sich ein implizites Umgangswissen mit sittlichen Verpflichtungen, dessen verschiedene Formen und Strategien und somit auch Ethiktypen in eine hermeneutische Ethik eingehen. Für diese muss eine hermeneutische Ethik den methodischen Rahmen erarbeiten.
Eine hermeneutische Ethik legitimiert nicht de facto geltende Normen oder spezifische Interpretationen der Lebenswelt, da dies deskriptivistische Fehlschlüsse implizieren würde. Sie geht vielmehr davon aus, dass bereits der Alltagsverstand ein bestimmtes Verfahrenswissen entwickelt hat, wie sittliche Verpflichtungen erkannt und realisiert werden können. Dabei gilt auch hier das Kriterium ethischer Reflexionskunst: Grundlegend für eine hermeneutische Verfahrensweise in der Ethik ist die Hin- und Herbewegung zwischen Einzelfall und den faktisch geltenden Normen (Rückverknüpfung), die dabei einer wechselseitigen Kritik unterworfen werden. Der Einzelfall wird insbesondere durch Situationsanalyse im Sinne eines Handlungsentwurfes im Möglichkeitsfeld anderer Handlungen und Folgenanalyse im Sinne eines Potentialitätsfeldes analysiert und zwar im Hinblick auf ein Handlungsziel, in dem konkret zu Erreichendes mit allgemeinen sittlichen Verpflichtungen in Einklang gebracht werden muss. In den ständig durchzuführenden Prozessen wechselseitiger Kritik der Einzelverfahren manifestiert sich die kritische Funktion einer Hermeneutischen Ethik. Diese wird insbesondere bei Interpretationskonflikten ansetzen, fragt nach der Legitimation sittlicher Verpflichtungen und legt dabei einen praktisch-normativen hermeneutischen Zirkel zugrunde.
Die Realisierbarkeitsregel besagt, dass jedes Sollen ein in-der-Lage-Sein impliziert und niemand über sein Können hinaus zu etwas zu verpflichten ist. Die Realisierung sittlich zurechenbaren Handelns aber verweist auf menschliche Dispositionen, Einstellungen, Haltungen, traditionell Tugenden genannt. Damit hat die Frage, warum wir überhaupt moralisch handeln sollen, in einen Bereich menschlichen Handelns geführt, in dem Normatives und Deskriptives ineinander greifen. Sie können hier nur noch unter methodischer Rücksicht voneinander unterschieden werden. Ausgangspunkt für eine hermeneutische Ethik sind daher realisierte sittliche Verpflichtungen, konkrete Verpflichtungserfahrungen und konkretes sittliches Verstehen. Instrumentelles Umgangswissen ist durch den Gebrauch von Artefakten verursacht, wobei dieses Umgangswissen nicht willkürlich gewählt werden kann. Nützlichkeitserfahrungen und Erfolg sind Kriterien für die Richtigkeit eines instrumentellen Umgangswissens. Moralisches Umgangswissen wird durch Tradition und Vorbild verursacht, wobei ein Umgangswissen sich ebenfalls an Nützlichkeitskriterien und am Erfolg, der Anerkennung durch andere Menschen orientiert. Um Erfolg und Anerkennung „einplanen“ zu können, ist ein Regelwissen hilfreich, das auch theoretisch expliziert werden kann. Dies ist insbesondere auch für den Übergang vom moralischen zum ethischen Urteil von Bedeutung.
Die Realisierbarkeitsregel ist spezifisch für eine anwendungsorientierte Ethik. In ihr geht es darum, das strategische, auf Folgen orientierte Handeln so zu kanalisieren, dass es zu allgemein wünschenswerten, konsensfähigen Ergebnissen führt, also zu Ergebnissen, die sittlichen Verpflichtungen in ihrer Realisierung entsprechen. Die Realisierbarkeitsregel als Verfahrensregel verpflichtet, sittliche und strategische Vernunft aufeinander zu beziehen und damit die Umstände, überhaupt die Situation und die Folgen zu einem zentralen Beurteilungsgesichtspunkt für die Formulierung sittlicher Verpflichtungen werden zu lassen. Die Realisierbarkeits-Regel wird in der klassischen philosophischen Ethik vergeblich gesucht. Vorläufer dieser Regel finden sich in der juristischen und moraltheologischen Kasuistik, aber auch bei Aristoteles in seiner Konzeption der Epikie oder der Güterabwägung. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass hier empirische Tatbestände zum Maßstab ethischer Urteile werden. Die Realisierbarkeitsforderung ist Ausdruck praktischer Rationalität. Praktische Rationalität ist daher in der Lage, eine Klammer zwischen deskriptiven Aussagen und präskriptiven Imperativen anzugeben. Dies liegt daran, dass die Rationalitätstheorie offenbar sowohl eine normative wie eine empirische Theorie ist. Theorien der praktischen Rationalität sind viel schwieriger als die der theoretischen Rationalität, weil sie eben umfassender sind als letztere (Eckensberger 1993, 154 –157). Plausibilisierungsargumente für ethische Imperative sind da gefragt.
Es gibt drei Typen empirischer Argumente im Rahmen praktischer Rationalität, nämlich das Möglichkeitsargument sowie die negative und die positive Rationalitätsvermutung. Das Möglichkeitsargument in der Ethik korrespondiert dem Satz „Sollen impliziert Können“. Dieser Satz wurde jedoch eher im moralischen oder im juristischen Sinne denn als genuin ethischer Satz aufgefasst. Eine metaethische oder metatheoretische Klärung dieses eher anwendungsorientierten Satzes könnte allerdings einen Beitrag leisten zur Theoriebildung der anwendungsorientierten Ethik. Das Möglichkeitsargument legt einen ersten normativ empirischen Zusammenhang nahe. Die Frage ist, ob man den Inhalt einer Norm als rational qualifizieren kann oder nicht. Für Handlungen kann man nach Ursachen und Gründen fragen. Rationalität gilt dann als eine Form mentaler Kausalität, nämlich als Schluß von moralischen Tatsachen auf ihren Verpflichtungsgehalt und auf den von ihm ausgehenden zwanglosen Zwang der Einsicht in eine sittliche Verpflichtung, die auf Realisierung drängt. Moralische wie ethische Urteile verweisen aber auf Tatsachenzusammenhänge. Mentale Verursachung impliziert, dass Kausalität in diesem Zusammenhang genauer als eine Form intramentaler Kausalität zu bestimmen ist. Rationalität ist diejenige Form intramentaler Kausalität, bei der ein Grund das Begründete gerade über die zwischen ihnen bestehende Begründungsbeziehung begründet (Eckensberger 1993). Handlungsgrund ist dann die Einsicht in die Plausibilität einer sittlichen Verpflichtung wie in die Realisierbarkeit einer Handlung.
„Sollen impliziert Können“: Bei einem schwachen Sinn von Können besagt diese Formel, dass moralische Normen insgesamt widerspruchsfrei bzw. für die Fälle, in denen sie widersprechende Anweisungen geben, mit Prioritätsregeln versehen sein müssen. Denn logisch unerfüllbaren Anforderungen lässt sich nicht genügen. Versteht man „Können“ allerdings im Sinne einer adressatenbezogenen Position als „für uns Menschen möglich“, so besagt die Formel, dass Heroismus und andere moralische Überforderungen, denen wir nicht genügen können, sich nicht zur moralischen Norm erheben lassen. Dies impliziert eine Rehabilitation der praktischen Rationalität. Auch die zweite Traditionslinie, die moralisches Sollen an die Kompetenz zur Handlungsausführung zurückbindet, entstammt eher der juristischen Tradition. Ausgehend von dem juristischen Diktum „ultra posse nemo obligatur“ kommt Hoche zu dem Schluß, Wollen schließe Können pragmatisch mit ein, das Müssen impliziert das Bestehen einer moralischen Verpflichtung. Hoche geht es nicht darum, die implizite Allgemeinheit in einer formalsprachlichen Verpflichtungssatz-Analyse deutlich zu machen. Universelle ich-will-Sätze sind nicht objektiv, sondern nur subjektiv begründbar, obwohl sie allgemeingültig sind. Universelle ich-will-Sätze erweisen sich als die eigentliche Grundlage von Verpflichtungssätzen. Diese lassen sich in die Goldene Regel übersetzen: Was ich dem Nächsten zum Vorwurf mache, werde ich selber nach Kräften nicht tun. Damit wird das Gebot so verstanden, andere so zu behandeln, wie man hier und jetzt, und zwar ein für alle Mal will, dass andere einen in einer hypothetischen Situation dieser Art behandeln sollen. Die Goldene Regel ist somit ein bedingter, universeller Verpflichtungssatz (Hoche 1992).
Hoches Überlegungen eröffnen einen interessanten Weg der Analyse moralischer Verpflichtung. Er will noch schärfer als Hare das „Muss“ der Moral vom „Sollte“ der Klugheit abgrenzen (Hoche 1992, 303). Im Unterschied zu „muss“ – oder Verpflichtungssätzen der Moral und „sollte“-Sätzen der Klugheit stellen uns „soll“-Sätze bei dem Versuch ihrer logischen Analyse vor zusätzliche Probleme. Mit den Vokabeln „muss“, „sollte“ und „soll“ ist nicht bereits das gesamte moralisch-praktische Wortfeld abgedeckt (Hoche 1992). Und so ist die Vermutung erlaubt, dass z. B. die Analyse des sittlich Erlaubten und seiner Abgrenzung vom Nicht-Erlaubten ein vielleicht dringlicheres Desiderat metaethischer Überlegungen darstellt als die Analyse der moralischen Verpflichtung. Die Direktive methodischer Art „Sollen impliziert Können“ postuliert somit einen Zusammenhang von kategorischen und hypothetischen Imperativen und impliziert eine Aufwertung des Erlaubten im Rahmen einer Klugheitsethik, die strategisch-praktische Vernunft mit ethisch-praktischer Vernunft verknüpft. Damit allerdings wird Empirie zum Maßstab für bestimmte ethische Theorie. Und letztlich könnten sich dann zumindest einige ethische Theorien empirisch falsifizieren lassen.
Das Realisierbarkeitskriterium führt damit zu einem moralischen Realismus, zu einer Orientierung auch am äußeren Erfolg. Dieser moralische Realismus macht es z. B. erforderlich, Verfahren zu entwickeln, mit deren Hilfe Kooperation trotz unterschiedlicher Risikobereitschaft möglich ist. Vor allem aber fordert es Ethiker auf, Übersetzungsregeln von sittlichen Verpflichtungen in die Logik von Recht, Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Kultur zu explizieren oder zu konstruieren, insbesondere wenn es sich um innovative Bereiche handelt, in denen noch kaum Erfahrung und Umgangswissen vorliegen. Gemäß dem Realisierungskriterium schlägt die Implementierung moralischer Ideen auf ihre Geltung durch. Wer Verantwortung für eine mit Risiken verbundene Praxis übernehmen möchte, sollte dies tun dürfen, sofern das Schadensausmaß in vernünftigem und überschaubaren Maße bleibt, sofern die Praxis misslingt.
Für eine Hermeneutische Ethik spielen Realisierungen und die Realisierungsrichtung eine zentrale Rolle. Aus dem Gedanken der Realisierbarkeit sittlicher Verpflichtung ergibt sich der Gedanke und das Konzept der Gradualität praktisch von selbst. Eine Möglichkeit der Hermeneutik sittlicher Verpflichtung ist der Aufweis der Gradualität der Verpflichtung, der Aufweis einschränkender Geltungsbedingungen und Ausnahmen im Sinne der Epikie. Im Unterschied zur Kasuistik beschränkt sich hermeneutische Ethik nicht auf die Lösung von Fällen und verzichtet nicht auf ethische Theorie. Vielmehr entwickelt sich hermeneutische Ethik als eine ethische Theorie, die aufgrund des Realisierbarkeitskriteriums immer schon das Lösen von Fällen im Auge hat. Hermeneutische Ethik ist nicht die Praxis selbst, sondern eine Erwägungskultur und Reflexionskultur der Praxis, mithin Theorie. Hermeneutische Ethik stellt damit eine Verknüpfung von Fragen der anwendungsorientierten Ethik mit normativ-materialer Ethik dar, verbindet situationsangemessener Ethik mit metaethischen Fragestellungen, mit Fragen menschlicher Praxis und einer phänomenologisch-hermeneutischen Anthropologie.
Für diese leitend ist das Konzept des ethischen Paradigmas, das an die Stelle des Prinzipbegriffes in der Ethik tritt. Es umschreibt das methodische Zentrum einer hermeneutischen Ethik. Ein ethisches Paradigma kann folgende Aspekte erfassen:
1 grundlegende Perspektiven, die beim Übergang vom Deuten zum Werten beachtet werden müssen;
2 Beispiele für grundsätzliche Bewertungsperspektiven;
3 Leitlinien für den methodisch abgesicherten Übergang vom Deuten zum Werten; und (4) Horizonte für Deutungen und Wertungen, die letztlich auch Kohärenz in der ethischen Argumentation erlauben;
4 Leitbilder für kollektive Praxen;
5 ethisches Ideal, Visionen usw.
Ein solches zentrales Paradigma ist das der „ethisch eingebetteten Autonomie“ oder der sozial verantwortbaren Selbstverwirklichung. Adressat einer Hermeneutischen Ethik kann ein Individuum bzw. eine menschliche Person sein, in indirekter Weise auch eine Institution bzw. eine Organisation.