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Vorwort
Technikethiken werden normalerweise als Standesethiken für Ingenieure konzipiert. In diesem Buch geht es um eine Technikethik ganz anderer Art – die des Techniknutzers, also des Konsumenten. Und in technischen Zivilisationen ist jedermann ein Techniknutzer, auch der Ingenieur und der Handwerker. Angesichts überbordender Angebote immer neuer Formen von Technik, die selbstverständlich jedermann haben muss, der „in“ sein will, stellt sich die Frage, ob sich der allseits verbreitete Grundwert des Cool-Seins tatsächlich als eine Grundform der humanen Selbsterhaltung des Techniknutzers gegenüber moderner Technik erweisen kann. Nach den modernen Forderungen nach Emanzipation und Selbstverwirklichung geht es Hermeneutischer Ethik um bescheidenere Ziele. Technik produziert Unsicherheit und Nichtwissen. Der traditionelle Umgang mit Unsicherheit und Nichtwissen war wissenschaftlich. Und Ethik sollte, wie Philosophie, Wissenschaft sein. Hermeneutische Ethik glaubt, dass sowohl der Umgang mit Unsicherheit wie ethische Reflexion eine Kunst sind. Heute reicht die Anwendung ethischer Grundsätze und Prinzipien für ethische Urteilsbildung nicht mehr aus, Folgenabschätzung ist nur begrenzt möglich und bedarf ihrerseits der Bewertung, die Ergebnisse von Anthropologie und Sozialphilosophie, Philosophie der Praxis und der Ökonomie, Philosophie der Wissenschaft und Technik und vieler anderer philosophischer Teildisziplinen müssen für ethisches Reflektieren herangezogen werden.
Hermeneutische Ethik versteht sich als Fortführung der Kasuistik, der Situationsethik, von existentialistischen und existenzphilosophischen Ansätzen, von Modellen ethischer Orientierung an der Gewissensentscheidung, des Konzeptes des „informed consent“ und des Selbstbestimmungsrechtes (Autonomie des sittlich handelnden Subjektes), stellt aber als ethische Reflexion der Praxis in einer technologisierten Gesellschaft diese in einen sozialen, ja sogar transkulturellen Kontext („eingebettete Autonomie“). Sie kommt damit vielen Forschungsansätzen aus der Phänomenologie, Sozialanthropologie und Ethnomethodologie entgegen als diesen neuen Forschungsrichtungen entsprechender Ansatz ethischer Reflexion in aktuellen Problemfällen. Hermeneutische Ethik beruht auf Konzeptionen sittlicher Kompetenz. Ihre Vorläufer in der Geschichte der Ethik habe ich in einem früheren Buch dargestellt (Irrgang 1998). Hier geht es nun um eine aktuelle Grundlegung und Darstellung der Vorgehensweise Hermeneutischer Ethik sowie Anleitung zu ihrer Durchführung. Sittlichkeit kann nicht wie eine Tatsache beschrieben werden, sie ist Aufgabe und beruht auf einer Zuschreibung sittlicher Kompetenz. Diese kann jedoch nicht ohne wertende Interpretationen vollzogen werden. Dazu muss in methodisch nachvollziehbarer Weise die deutende Interpretation in eine wertende Interpretation überführt werden können.
Dieses Buch ist kein Buch über angewandte Ethik wie sonst üblich. Denn es reflektiert weniger die Ethik, sondern die Anwendungsbedingungen und Einbettungsfunktionen ethischen Argumentierens und Entscheidens. Diese sind heute überwiegend technisch-ökonomischer Natur. Hermeneutische Ethik soll moralisch gutes und sittlich richtiges Handeln und die entsprechende Praxis ermöglichen. Die Erarbeitung einer persönlich guten Moral und seiner richtigen Ethik stellt sich als Aufgabe dar, in die man hineinwachsen muss. Mit einem guten Leben und richtigem Handeln soll eine Verbesserung der gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen erreicht werden. Sie ist im ersten Schritt Phänomenologie und Hermeneutik, in einem weiteren Schritt Ethik. Hermeneutische Ethik basiert daher auf einer Kombination von implizitem und explizitem sittlichen Wissen und Können, von Kompetenz, Habitus, Tugenden, Werten und Regeln, Prinzipien, Verpflichtungen und Normen und der Bewertung der Sittlichkeit bzw. ethischen Qualität von Handlungen, Praxen, Organisationen und Institutionen anhand ethischer Paradigmen. Sie soll eine ethisch qualifizierte Entscheidung und angemessene ethische Urteile im Geist kontextuell eingebundener sittlicher Autonomie und ethisch qualifizierter Selbstbestimmung ermöglichen. Angesichts dogmatischer Ethikansätze zeigt sie Wege auf, eine liberale Ethik überzeugend zu praktizieren, um so ein gutes und qualitätvolles Leben führen zu können. Ethik ist auch Anleitung zur richtigen Praxis und nicht ein System von Imperativen. So versteht sich dieses Buch als Realisierung von professioneller Ethik im Alltag.
Für Anregungen zur Hermeneutischen Ethik danke ich vor allem Walther Zimmerli, Hans Lenk, Hans Poser und Thomas Rentsch sowie meinen Kollegen Nestor Corona in Buenos Aires sowie Fernando Luis Flores und Ricardo Salas (Santiago de Chile), für diverse Hilfestellungen meinem Mitarbeiter Arun Tripathi, für das Korrekturlesen Herrn Lars von Richter und meiner Sekretärin Frau Evelyn Hofmann.
Dresden, im Sommer 2006
Bernhard Irrgang