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Einleitung:

Pragmatismus und Hermeneutik in der Ethik

Neuzeitliche Ethiken versuchen, die Komplexität sittlich zu bewertender Handlungen durch Rekurs auf jeweils nur einen Aspekt von Handlungen zu reduzieren. Kant z. B. bestimmt die Handlung durch die Regel, nach der sie beschlossen wird, der Konsequentialismus durch die Handlungsfolgen, die Vertragstheorie durch die Zustimmung und die Diskurstheorie durch argumentative Handlungsgründe. Der Ansatz einer Hermeneutischen Ethik gilt der Ermöglichung einer Reflexionskultur des Deutens und Wertens gemeinschaftlicher Praxen, die immer häufiger mehr oder weniger direkt eine technologische Struktur tragen. Hermeneutische Überlegungen sollen den Sachverhalt klären, der zur Entscheidung ansteht, machen unter Umständen Defizite sichtbar, weisen auf möglicherweise grundsätzliche ethische Konflikte hin, die bei einigen Problemen unvermeidbar erscheinen und bereiten Kompromisse bei Interpretationen vor. Erarbeitet werden Interpretationsregeln zur Erhöhung der ethischen Kompetenz für sachgemäße Entscheidungen.

Die Bezeichnung „Hermeneutische Ethik“ verdankt ihre Herkunft dem Erstarken von Problemen praktischer Ethik und anwendungsorientierter Moralphilosophie und einer Abwendung von prinzipienorientierter oder verfahrensorientierter Ethik, ohne sie ganz zu vernachlässigen. Methodisch gesehen wohl am ehesten als Eklektizismus einzuordnen, stellt sie in das Zentrum einer ethischen Untersuchung den handelnden Menschen in seinem situativen Kontext, also menschliche Praxis. Neuzeitliche Ethiken versuchen, wie gesagt, die Komplexität sittlich zu bewertender Handlungen durch Rekurs auf jeweils nur einen Aspekt von Handlungen zu reduzieren. Das soll Interpretationsdivergenzen ausschließen, Unsicherheit beim Verstehen und Bewerten von Handlungen vermeiden. Mit der Wende zur praktischen Ethik ist nun nicht mehr eine Handlung an sich Gegenstand der Ethik, sondern ihre alltägliche Einbettung in einen Praxiszusammenhang und damit verbundene Entscheidungsprobleme, vor allem, wenn sie neu sind und nicht auf Vorbilder zurückgreifen können, aber auch berufsspezifische Konfliktfälle. Differenzen hinsichtlich des Deutens und Bewertens, die Pluralität von Normen und Werten, transkulturelle Bewertungsunterschiede werden nicht heruntergespielt, wobei ein umfassender Relativismus vermieden werden soll. Hermeneutische Ethik bemüht sich um einen Ausgleich zwischen theoretischer und angewandter Ethik und entwickelt grundlegende epistemische Überlegungen für transdisziplinäre Unternehmen unter Einbezug eines reflektierten Common Sense-Standpunktes, versteht sich also als angewandte Philosophie. Tatsachen- und Bewertungsebene werden rekonstruiert und der Versuch unternommen, diese zur Konvergenz zu bringen. Ziel ist pragmatische Konsistenz der Interpretation und Argumentation.

Es sollte nicht verwundern, wenn die Beziehungen zwischen Ethik und Hermeneutik in der Moderne auf eher geringes Interesse stießen. Die Logik der Moderne kapriziert sich zunächst auf Differenzierung. Eine primär normative Ethik fragt nach absoluter Verpflichtung. Ein nicht unbedingt konsequenter und schon gar nicht logisch präziser Verstehensprozess stört solche Bemühungen. Umgekehrt interessierte sich die Hermeneutik ihrerseits lange nicht für Ethik. Daher gilt es, Perspektiven des Verstehens angesichts des Konfliktes der Kulturen, konkurrierender Normen- und Wertsysteme und des Gegensatzes von Gesinnungs- und Verantwortungsethik in hermeneutisch verantwortungsvoller Weise herauszuarbeiten. Zu klären ist die Rolle des Verstehens und Auslegens, also des Interpretierens, innerhalb der Ethik und inwiefern die Hermeneutik selbst ethische Perspektiven enthält und vielleicht sogar selbst eine Ethik entwickelt hat. Die weltdeutende Kraft jeglicher Hermeneutik lässt sich ohne weiteres auf Ethik ausdehnen. Hermeneutik erhält die Aufgabe, die Pluralisierung der Weltbilder zu legitimieren (Schönherr-Mann 2004).

Ethik versucht, Moral aus den Traditionen heraus zu stabilisieren und zwar angesichts des Nachlassens der Akzeptanz der sozialen Ordnung. Der Pragmatismus will auf Dogmen verzichten, auch in der Ethik. Ethik stellt sich damit als hermeneutischer Wille zur Macht dar. Relativismus, Wertepluralismus und ethischer Dekonstruktionismus greifen in einer hermeneutischen Ethik ineinander. Der Dogmatismus hat seine Wurzeln im Manichäismus, die Hermeneutik geht vom Verstehen der Situation aus. Aus der Struktur des Verstehens einer Handlungssituation heraus entspringt notwendigerweise ein ethischer Anspruch. Am Anfang steht der Anspruch, richtig zu verstehen. Hermeneutik als Interpretationskunst ist eine Kunstlehre. Hinzuweisen ist auf das hermeneutische Element aller Rechtsfindung. Dabei ist Entfremdungserfahrung im geschichtlichen Bewusstsein nicht zu leugnen. Im 20. Jh. hat sich ein neuer Begriff von Interpretation herausgebildet, der auf das Selbstverständnis des Menschen rekurriert. Dieses reicht nun bis zum unbewussten Triebganzen unseres Menschseins (Schönherr-Mann 2004).

Der Moralabsolutismus suchte nach einer letzten Begründung für Normen, Werte und Wertinterpretationen. Die Unbedingtheit von Normalnormen, die ihre Form ausmacht, und die Wandelbarkeit, die an ihrem Inhalt auftritt, muss hermeneutisch vermittelt werden. Die Interpretationsethik und moderne Skeptiker haben gemeinsame Ansatzpunkte, z. B. die Kritik am Begründungsparadigma. Die Rechtfertigungsidee wird mit der Idee des Spielens und der Anerkennung von Spielregeln verknüpft. Die Interpretationsethik zielt im Kern auf Fragen der Anerkennung. Die Ethik der Interpretation ist eine frei-lassende Ethik. Es geht um eine Freiheit und Gleichheit der Interpretierenden. Der Abschied von der Letztbegründung führt zur reflektierten Begründung einer Interpretationspraxis. Zugleich ist aber auch ein hermeneutischer Abschied vom Kulturrelativismus erforderlich. Die Kritik verweist auf ihre Möglichkeit, Maßstäbe und Standards zu setzen, und muss Kohärenzanforderungen genügen. Ständige Absicherung ist Aufgabe einer hermeneutischen Ethik. Zugleich kann die Offenheit der Interpretation nicht vollständig aufgehoben werden. Daher ist sie gebunden an eine öffentliche Interpretationspraxis des Sprechens und Handelns. Dogmatische Interpretationen sind quasi ein Widerspruch in sich selbst. Auch der kategorische Imperativ hat eine hermeneutische Dimension, insofern er dazu anleitet herauszufinden, nicht was man wollen soll, sondern wie man wollen soll (Schönherr-Mann 2004).

Gegenwärtig werden der philosophischen Ethik hohe Erwartungen entgegengebracht. Dabei muss es fraglich bleiben, ob diese von ihr erfüllt werden können. Hermeneutik als theoretische und praktische Aufgabe bedeutet eine Zurücknahme der Philosophie ins geschichtliche Leben. Hermeneutische Ethik rückt so in die Nähe einer Sozialtechnologie, einer Klugheitslehre menschlichen Verhaltens wie einer Ethik als Vermittlungsleistung. Es geht um die Herausbildung einer menschlichen Identität. Selbstbefreiung und Selbstverwirklichung wurden zur ethischen Aufgabe in der Moderne. Da die Normen nicht einfach vorgegeben oder irgendwo abzulesen sind, ist Orientierung in Sachen Ethik selbst eine dringliche Aufgabe geworden. Dabei lässt sich ein gewisses sozialphilosophisches Defizit der klassischen Hermeneutik nicht leugnen (Schönherr-Mann 2004).

Die Krise der Ethik basiert auf der Einsicht, dass ethische Ableitung aus einem Prinzip in der Regel nicht zu einem befriedigenden Ergebnis führt. Ein Ausweg besteht in der immer wieder erneuerten Interpretation der Tradition im Licht neuer Aufgabenstellungen. Diese Interpretation muss aber offen bleiben für die Wahrnehmung der Zukunft und die damit verbundenen Probleme. Das Verstehen hat aber auch seine Grenzen. Der Zwang zur Einigung in ethischen Fragen wie zur Unterwerfung unter ein einheitliches Prinzip führen in einen nicht endenden ethischen Bürgerkrieg. Hermeneutischer Ethik geht es um die Einsicht in die Vielfalt unterschiedlicher gegenseitiger Verstehensmöglichkeiten und erlaubter Handlungsmöglichkeiten wie Entwicklungspfaden, also um Toleranz. Alles, was man sagen kann, kann man auch anders sagen. Die Hermeneutik ist nicht nur eine Technik des besseren Verstehens. Das Problem der Interpretation stellt sich vor allem in Konfliktsituationen. Die Grenze der Ethik als Problem der Interpretation stellt vor neue Aufgaben. Und die Ethik des Verstehens nimmt eine wichtige Funktion im Konflikt der Kulturen ein. Sie beinhaltet, dass ein absoluter Standpunkt in der Ethik nicht möglich ist.

Hermeneutische Ethik

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