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Konkrete Ethik jenseits von Kasuistik und Fallgeschichten

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Für die Kasuistik besteht das Ziel nicht in einer moralphilosophischen Reflexions-Arbeit, die für die Lösung von Fällen relevant ist, sondern von vornherein in der Lösung von Fällen. Entsprechend wird nicht von einer (übergreifenden) Theorie der normativen Ethik ausgegangen – solche Theorien erscheinen vielmehr als entbehrlich oder defizient –, sondern von der Analyse von Fällen (Düwell/Steigleder 2003). Dem Projekt einer narrativen Ethik ist von Anfang an eine Spannung eigen, die in jeder Ethik zwischen dem Anspruch auf universelle Gültigkeit und der erhöhten Aufmerksamkeit für den Einzelfall besteht. Die Befürchtung, eine narrative Ethik setze das Interesse am Leiden an die Stelle der Kohärenz der Argumente ist wohl unbegründet, da sich beide Perspektiven wechselseitig ergänzen. Für Kasuistik sind Rahmenbestimmungen für moralische Debatten, also paradigmatische Fälle wichtig. Generelle moralische Regeln dienen als Maximen. Heutzutage können partikuläre moralische Entscheidungen nicht einfach auf eine universelle ethische Regel für einzelne Fälle zurückgeführt werden. Sie müssen angewandt und abgewandelt werden. Bei der Prinzipienethik ist der Rückgriff auf Geometrie und Mathematik fundamental, in der Kasuistik auf praktische Behauptungen. Fragen der Urteilskompetenz verbinden sich mit der Suche nach relevanten Verallgemeinerbarkeiten und Berücksichtigung praktischer Felder wie Gesetz, Medizin und öffentliche Verwaltung (Jonson/Toulmin 1988).

Im Unterschied zu einer wissenschaftlichen Theorie mit zeitlosen Prinzipien treten in der juristischen, ingenieursmäßigen oder medizinischen Praxis berufsständische Probleme auf. Theoretische Argumente sind Ketten von Beweisen, während praktische Argumente Methoden für das Lösen von Problemen darstellen. Das Ideal der Geometrie ist Axiomatisierung. Klinische Medizin z. B. ist aber eine Praxis. Wir wissen aus der Erfahrung, dass Hühnchenfleisch tatsächlich nahrhaft ist. Medizin verbindet Theorie und Praxis, intellektuelle Aufgaben und technische Fähigkeiten auf eine eigentümliche und charakteristische Art und Weise. Klinische Medizin ist wissenschaftlich nur in diesem Sinn, dass die Behandlung einer Krankheit in der Regel auf einem verallgemeinerten wissenschaftlichen Wissen beruht, das aufgrund von Generalisierung über Generationen von forschenden Medizinern und Biologen ausgebildet wurde. Medizin ist mehr als nur angewandte biomedizinische Forschung. Bestimmte Heilungs- und Erkrankungsmuster sind zu erkennen (Jonson/ Toulmin 1988).

Eine Diagnose ist das Wiedererkennen eines Syndroms. Das setzt die Fähigkeit zur Wiederidentifikation voraus. Dazu ist eine Argumentation aus der Analogie erforderlich. Kasuistik hat viel mit Diagnose zu tun. In der Praxis geht es um angemessene Behandlung. Diagnostisches Überlegen schreitet analog voran und benutzt die medizinische Taxonomie als Quelle, um paradigmatische Fälle herauszufinden, auf die sich alle Vergleiche zurückbeziehen können. Klinische Argumente lassen jeweils Platz für verantwortungsbewusste Mediziner, um unterschiedliche Diagnosen erstellen zu können. Außerdem ist es möglich, über marginale und zweifelhafte Fälle unterschiedlicher Meinung zu sein. In diesem Zusammenhang wird die Relevanz von taxonomischen Prozeduren für die Ethik deutlich. Lösungsansätze müssen darauf zurückgreifen. Paradigmen und typische Fälle sind für die Analogiebildung unerlässlich (Jonson/Toulmin 1988).

Klinische Probleme individueller Patienten und problematische Situationen führten zur Suche nach geeigneten Paradigmen für die medizinische Ethik und zu einem Wiederaufleben der Kasuistik. In der Medizin entstanden moralische Konflikte typischerweise aus der Tatsache, dass klinische Interventionen verschiedenartige Konsequenzen haben können. Insofern erschien eine Generalisierung hinsichtlich der Konflikte moralischer Verpflichtungen erforderlich. Solche Konflikte können gelöst werden. In der Ethik wie in der Medizin gibt es praktische Erfahrung und diese ist zumindest genauso kollektiv wie persönlich. Ein praktisches sittliches reflektierendes Argumentieren kann erheblich besser auf die Situation eingehen als eine formale oder geometrische Demonstration. Die Debatte über Wahrscheinlichkeitsgründe hat an Bedeutung verloren. Moralisches Wissen ist in zentralen Punkten partikulär. Statt ethischer Deduktion ist unsere affektive Sensibilität für Moral zu schulen. Es geht um die zentralen praktischen Felder der Ethik (Jonson/Toulmin 1988). In der Bioethik wie in der medizinischen Ethik kommt es zu einer Wiederbelebung der Kasuistik. Hermeneutische Ethik profitiert von den Erfahrungen, die die Bioethik gemacht hat.

Wo immer es darum geht, konkrete Erscheinungen oder Fälle (casus) unter allgemeine Formen bzw. Prinzipien zu fassen, zu ordnen, sie abzugrenzen und zu beurteilen, erhält Kasuistik als Methode ihren Ort. Vor allen die auf Handeln ausgerichteten Normwissenschaften versuchen mit ihrer Hilfe komplexe Situationen zu erhellen, widerstreitende Interessen und Pflichten zu lösen, Weisungen zum Handeln in Konflikten zu geben. Dabei kann es sich um konstruierte Fälle oder um praktisch drängende Aufgaben handeln. Kasuistik kann im allgemeinen Sinn schon ein empirisches Vergleichen nach Analogie und Ähnlichkeit meinen, besagt im Engeren aber die Subsumption nach streng logisch-rationaler Gesetzmäßigkeit. Es geht kasuistischem Denken darum, im konkreten Fall das Allgemeingültige zu erfassen.

Kasuistik besitzt ihren Ursprung im Recht. Beide Weisen ihres Vorgehens sind dort zu Hause. Das ursprüngliche römische Recht gewinnt vom Einzelfall aus die Regel, die dann für ähnlich gelagerte Fälle Maßstab wird. So das „Ius Honorarium“, das aus dem Erlassen des jeweiligen Prätors erfließt, oder das „Edictum Perpetuum“, die gemeingültige Sammlung früherer Edikte der Prätoren, der jeder Prätor weitere Bestimmungen hinzufügen kann. Ähnlich ist das englische Recht bis heute Case Law. Das Naturrecht der Aufklärung und der Rechtspositivismus des 19. Jahrhunderts entwickelten die Kasuistik zur rationalen Deduktion als abstraktem Normativismus. In außerchristlichen Religionen häng Kasuistik weithin zusammen mit rituellen Vorschriften, die in Tabus wurzeln, und damit verbundenen Vorstellungen von Reinheit und Unreinheit. In der Ethik entwickelt erst die mittlere Stoa eine ausführlichere Kasuistik. Die sittliche Pflicht wird vom ewigen Logos des Naturrechtes abgeleitet, ihm entspringt die Recta Ratio; sie fordert naturgemäßes Leben. Erörtert wird auch schon, ob im Falle einer Kollision das Tugendhafte (Honestum) oder das Nützliche (Utile) gewählt werden sollte.

Eine stark schematisierte Form der Kasuistik kommt mit der Entwicklung der Bußdisziplin und der ihr dienenden Bußbücher auf, die ihren Ursprung seit dem 6. Jahrhundert im iroschottischen und angelsächsischen Raum haben. Dies führt zu einer Verrechtlichung der Ethik, in den nominalistischen Gesetzespositivismus wie in die betonte Beschäftigung mit praktischen Einzelfragen. Erst in der katholischen Theologie des 17./18. Jahrhunderts trennt sich ein eigenes Fach der praktischen Casus Conscientiae von der systematischen Grundlage ab. Als reine Kasuistik sollen durch rationale Deduktion aus allgemeinen Prinzipien Einzelfälle gelöst, in Grenzfällen das unbedingte sittliche Minimum festgelegt und Gewissenszweifel mit Hilfe besonders entwickelter Moralsysteme behoben werden. Die so systematisierte und verselbstständigte Kasuistik wird Moraltheologie genannt und hat als solche bis ins 19. Jahrhundert Geltung in den Schulen, obwohl sie für ihre Grundlegung die systematische Theologie voraussetzt. Eine terminologische Frage bleibt schließlich offen. Kasuistik stellt typische Fälle, mehr oder weniger wiederkehrende Situationen, heraus und leitet für sie zur sittlichen Entscheidung an. Sie ist dann im engeren Sinn als Methode legalistischer Deduktion verstanden. In umfassenderem Sinn wird sie aber zur Situationsethik ausgeweitet (Hauser 1976).

Drei verschiedene Ansätze der Kritik an der Kasuistik sind zu unterscheiden: (1) die mehrfache Vermittlung von Regel und Einzelfall, die die Kasuistik vollzieht, lasse die Beurteilung eines gegebenen Falls schließlich zu einer Frage des Geschmacks werden; (2) sie verkehre die heiligsten Vorschriften des christlichen Lebens in ihr Gegenteil; (3) ihre Institutionalisierung in der kirchlichen Bußpraxis hebe die Autonomie des Individuums auf: Das Gewissen ist der beste Kasuist. All dies zu berücksichtigen läuft auf die Forderung hinaus, dass die Kasuistik zu einer echten ethischen Forschung ausgearbeitet werden muss (Wolf 1976). In der Medizin bedeutet Kasuistik die Beschreibung und Sammlung einzelner Krankheitsfälle. Dabei gibt es zwei Ansatzpunkte: (1) die Beschreibung von typischen Verlaufsformen von Krankheiten und (2) die Analyse seltener oder komplizierter Einzelfälle (Bleker 1976). Das philosophische Auslegen auch im Rahmen hermeneutischer Ethik ist dabei in noch stärkerem Ausmaß als bei der Kasuistik keine Beschreibung eines Konkreten, sondern ein Auslegen eines Konkreten im Lichte eines Allgemeinen (Horizonts).

Das Gewissenskonzept ist verbunden mit einer Wende in erkenntnistheoretischen Fragen. Es geht in diesem Zusammenhang um Zustimmung und Glauben als Dispositionen. Das impliziert eine neue Einsicht, dass es keine angeborenen Hinneigungen zur Wahrheit gibt. Die scholastische Diskussion blieb akademisch und fand nicht den Weg ins Volk. Der Skeptizismus des 17. Jahrhunderts betonte die Unsicherheit der Meinungsbildung. Es gab beträchtliche Verschiedenheiten der Interpretationen und Perspektiven. Zwischen Renaissance und Aufklärung wurden neue Regierungsmodelle diskutiert. Die traditionelle Aufgabe der Regierung war es, ein gutes Leben zu ermöglichen. Der Grundbegriff in diesem Zusammenhang ist der des Glaubens bzw. Meinens. Der Skeptizismus förderte insgesamt den Autonomiegedanken (Leites 1988).

Die Kasuistik wurde im 17. Jahrhundert pejorativ gebraucht und für subtile Unterscheidungen verwendet. Liberalität und jesuitische Moral wurden zusammengebracht. Außerdem wurde sie mit Sophistik gleichgesetzt und als Verwandlung der Sünde in ihr Gegenteil betrachtet. Diese Sichtweise der Kasuistik ist die Folge der Jansenistischen Propaganda gegenüber der Kasuistik. In ihr war die Analyse der Umstände von zentraler Bedeutung. Es gibt eine Analogie zwischen legalistischem und kasuistischem Denken. Die Kasuistik war nahe verbunden mit dem römischen und englischen Recht. Es handelte sich aber letztendlich um eine Methode der Urteilsfindung. Die Kasuistik entwickelte Expertenlösungen in schwierigen moralischen Fällen. Entscheidend war dabei die Übung des Urteils und der Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen. Dabei traten unterschiedliche Mentalitäten auf. Es war eine Frage der dominanten Kultur. Die Kasuisten wollten das konservative traditionelle moralische System transformieren (Leites 1988).

Kant wendet sich gegen allen Probabilismus in Moral, aber selbst Kant kommt nicht ohne Kasuistik aus. Dies dokumentiert Kant in seiner Schrift „Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“. Die rationalistische Kasuistik betrachtete das Gewissen als Syllogismus. Darin manifestiert sich eine intellektualistische Sicht des Gewissens. Aber die Kasuistik hatte auch eine soziale Funktion. Dies manifestiert sich in den großen kasuistischen Zungen des 17. Jahrhunderts. Hauptwerk in dieser Zeit der Spitze der Kasuistik war Andreas Kestlers „Theologia casuum conscientiae“ (1658). Johann Peter Miller (1725 – 1789) in Helmstedt, Halle und Göttingen beschäftigte sich mit Ausnahme und Regel. Ausnahmen müssen bereichsspezifisch verallgemeinerbar sein (Epikie). Kasuistik dient damit als Orientierung für das Gewissen und hat sich gewandelt zu einer Rechtfertigung vor Gott. Dahinter stand also letztlich das Problem der Verantwortlichkeit. Die Verallgemeinerungsregel postuliert die Übereinstimmung des Individuums mit dem Ganzen der Gesellschaft. Das liegt in gewisser Weise auch der Kasuistik zu Grunde (Leites 1988). Gegen die Kasuistik richtete sich ein missverstandenes Naturrechtsdenken. Allerdings sprachen sich die skeptische Tradition, die kein Wahrheitskriterium kannte, und die fideistische Position für das kasuistische Denken aus. Der skeptische Angriff auf den Aristotelismus führte zu kasuistischem Denken. Gassendi galt als Überwinder des Skeptizismus und reiht sich damit in die Tradition gegen die Kasuistik mit ein. Letztendlich führte der Skeptizismus zu einem gewissen moralischen Relativismus im Detail. An diese kasuistisch-skeptische Tradition knüpft Hermeneutische Ethik an.

Eine Kasuistik bedarf der Richtlinien, mehr oder weniger exakt formuliert. Bei der Hermeneutischen Ethik ist dies etwas anders. Dort tritt der Paradigmenbegriff an die Stelle der Richtlinien. Paradigmen sind Vorbilder für methodisches Vorgehen in der Ethik. Die trainierte Anwendung und Demonstration interpretativer Verfahren setzt den Verweis auf Methodik voraus. Mit dem Paradigmenbegriff wird die Suche nach ethischer Interpretation offener gestaltet. Ethik wird entrechtlicht. Eine ins Soziale erweiterte Kasuistik der Bewertungspfade in weiteren Kontexten, ein experimenteller Weg in die Ethik führt zu einer korrekturoffenen Ethik des Suchens und des Findens (zetetische Ethik) ethischer Bewertungen in Abhängigkeit von Gedankenexperimenten. Eine forschende Ethik, eine Experimentalethik, eine Ethik für innovative Entwicklungspfade überschreitet die Grenzen bisheriger Urteilsbildung, Tatsachenbestimmung und Situationserfassung zugunsten eines tieferen, ganzheitlichen Verständnis der zu beurteilenden Praxis, vor allem der Weiterführung des eingeschlagenen Entwicklungspfades. Berücksichtigt wird die Unsicherheit über das, was getan werden soll. Die zetetische Methode beruht auch in der Ethik auf der Suche nach Heuristiken und Interpretationshorizonten.

Der Situationsbegriff ist weiter aufzufassen als der Fall in der Kasuistik, in der alles auf eine Situation, nämlich die der Entscheidung isoliert wird. Hermeneutischer Ethik geht es um die Situation des Menschen, um sein Dasein im Sinne Martin Heideggers, um die Konzeption des Daseins, um die hermeneutische Situation, in der wir uns gegenüber der Tradition befinden, letztlich um die menschliche Praxis. Die Freiheit des Menschen ist kein punktueller Willkürakt, sondern ein Sichverhaltenkönnen im Kontext einer Praxis. Daher soll hier neben der fallbezogenen Kasuistik der Pragmatismus für die Interpretation einer menschlich-technischen Praxis im Sinne einer Hermeneutischen Ethik herangezogen werden. Durch die Konfrontation beider Methodiken wird ihr Ansatz präzisiert, bevor die Praxisanalyse weitere Klärung zur Vorgehensweise der Hermeneutischen Ethik bringen wird.

Hermeneutische Ethik

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