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Verstehen und Interpretation: Hermeneutische Ethik als Kunst des Sich Orientierens
ОглавлениеTraditionell definiert sich eine Kunst durch Regeln, deren Einhaltung den Kunstcharakter garantiert. Der Regelbegriff ist verwandt mit den Begriffen Norm, Vorschrift, Richtschnur, Richtlinie. Das Wort „regula“ stammt von handwerklicher Terminologie ab und meint ursprünglich Richtholz, Richtschnur, Maßstab, Regel und ist verwandt mit dem lateinischen Begriff „regere“, der „geraderichten“, „lenken“, „herrschen“, „in Ordnung bringen“, „verordnen“ und „Richtlinien erlassen“ bedeutet. Es bezeichnet auch Regelmäßigkeit wie z. B. im Begriff der Regelblutung. Regeln können soziale Institutionen charakterisieren (z. B. Ordensregeln), Vorschriften zur Herstellung von technischen Apparaten oder wissenschaftlicher Erkenntnis umfassen, aber auch als kategorische Imperative moralischen Charakter annehmen. Der Regelbegriff spielte in der Geschichte der praktischen und theoretischen Philosophie eine nicht unerhebliche Rolle. Cicero verwendete „regula“ im Sinne eines Handlungs- oder Beurteilungsmaßstabes. Das aristotelische rechte Maß als Mitte zwischen zwei Übertreibungen läßt sich als Regel auffassen und im römischen Recht war „regula“ ein kurz formulierter, allgemeingültiger Rechtsgrundsatz. Verwendung findet der Begriff vor allem im Rahmen der „Künste“, der „artes“, und der Techniken.
In der Neuzeit erhielt der Regel-Begriff moralische Bedeutsamkeit im Sinne der moralischen Maxime und durch Kants praktische Regel der Vernunft genauso wie durch seinen Begriff der Regeln der Geschicklichkeit. Zwei Merkmale moralischer Regeln und moralischer Urteile haben sich in der metaethischen Diskussion herausgebildet, nämlich Präskriptivität und Universalisierbarkeit. Aus handlungstheoretischer Sicht stellen sich moralische Regeln als Wert- und Beurteilungsmaßstäbe einer individuellen wie gesellschaftlichen Praxis dar. Regeln sind besonders bei Entscheidungen unter Unsicherheit oder unter Ungewißheit hilfreich und dienen der Maximenbildung. Sie erlauben Folgenbewertungen im Rahmen praktisch-rationaler Argumentation selbst dort, wo nicht alle Folgen genau zu prognostizieren sind. Zu unterscheiden sind beschreibende und vorschreibende, konstitutive und regulative Regeln. Dabei sind Faustregeln von vorschreibenden Regeln durch den moralischen Druck abgegrenzt, den letztere ausüben. Regelorientierung dient rationalisierter Entscheidungsfindung, wobei zwischen deskriptiven und präskriptiven Regeln nicht immer ein scharfer Trennstrich gezogen werden kann. Regeln liegen Verallgemeinerungen zugrunde, die auch probabilistischer Natur sein können. Verallgemeinern ist nicht notwendigerweise mit Universalisierung und damit mit Unparteilichkeit zu identifizieren, sondern kann sich auf bestimmte Bereiche, etwa Handlungsfelder beschränken.
Viele empirische Verallgemeinerungen sind nicht abschließbar und stehen daher nicht auf gleicher Ebene wie universalmoralische Grundsätze. Genau hierin kann aber ihr Wert für eine in spezifischen Bereichen anwendbare Ethik liegen. Gibt es auch in den sittlichen Grundsätzen keine eigenen bereichsspezifischen Ethiken, so können bereichsspezifische moralische Regeln in einzelnen Handlungsfeldern gut begründet sein. Regeln in diesem Sinne sind Anleitungen für Interpretationsverfahren, die in eine Handlung münden. Immerhin dienen Regeln dazu, Entscheidungen durchsichtiger zu machen. Sie lassen sich so andern gegenüber besser rechtfertigen. Faustregeln definiert Frederick Schauer (Schauer 1991) als direkte Anwendung von Hintergrundrechtfertigungen, Leitbildern oder eines Sets von Rechtfertigungen auf Handlungssituationen. Damit haben sie nicht nur instrumentellen Charakter und dürfen auch nicht als überflüssig gelten, wie gelegentlich unterstellt wird. Insbesondere für Bewertungen bei unvollständigem Wissen, z. B. über Folgen bestimmter Handlungen, sind Faustregeln als probabilistische Verallgemeinerungen und Bewertungen aufgrund von Hintergrundrechtfertigung ein praktikables Instrumentarium einer anwendungsorientierten Ethik.
Faustregeln können aber auch als deskriptive Handlungsregeln im Sinne der Wenn-Dann-Beziehung und der Zweck-Mittel-Struktur interpretiert werden. Allerdings erhalten diese Faustregeln nur dann sittliche Relevanz, wenn der Obersatz des daraus folgenden Syllogismus ein sittlich ausgewiesenes Urteil enthält. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn eine Faustregel so formuliert ist wie der Satz: „Wenn du dieses bestimmte technische Verfahren anwendest, musst du mit diesen oder jenen unerwünschten Nebenwirkungen rechnen!“ Faustregeln sind im strengen Sinne keine moralischen Regeln, sie können dazu aber je nach Obersatz in einem praktischen Syllogismus mit gemischten Prämissen werden. Es kommt auf die Materialität der Prämisse an, unter der die Wenn-Dann-Beziehung steht. Fasst man Faustregeln als hypothetische Imperative auf, so sind sie deskriptiv und nehmen als praktische Syllogismen die Form von Kalkulationen an. Strategisches Handeln aber kann gut oder schlecht sein.
Regeln sind traditionell Bestandteil instrumenteller Vernunft. Sie können daher der Steuerungsaufgabe einer angewandten Ethik gerecht werden. Auch der Kriterienbegriff klingt instrumentell. Doch beide Arten nicht-sittlicher Regeln sind wie hypothetische Imperative oder Faustregeln entweder in moralische Regeln oder in sittliche Hintergrundrechtfertigungen einzubinden. Moralische Regeln gelten in der Regel, Hintergrundrechtfertigungen beziehen sich auf bestimmte Bereiche. Daher sind moralische Regeln und Hintergrundrechtfertigungen als Ausdruck eines eingeschränkten Universalismus zu interpretieren und zu transformieren. Moralische Regeln basieren auf einem bereichsspezifischen Universalismus und nicht wie der Kategorische Imperativ oder ethische Prinzipien auf einer generellen, nichtempirischen Verallgemeinerung. Eine bereichsspezifische Universalität ist jedoch nicht ohne Rückgriff auf die Bereiche, für die sie formuliert wird, also nicht ohne Rückgriff auf die Empirie möglich.
Regelbefolgung allein garantiert jedoch nicht hermeneutischen Kunstcharakter. Weder Neo-Aristotelismus noch Neo-Kantianismus, Utilitarismus oder Pragmatismus, Vertragstheorie oder sonst einer der bislang vorliegenden traditionellen Ansätze wird voranhelfen, sondern nur radikal problemorientiertes, d. h. praxisorientiertes Deuten und Werten unter Bezug auf sozialanthropologische Horizonte. Das Konzept der technischen Praxis und der technologischen Kultur transformiert den Begriff der sittlichen Autonomie durch den starken Einbezug des Nutzenelementes gemeinschaftlicher Praxis. Gegenstand des Deutens und Wertens sind Werte, Verpflichtungen (Normen) und Nutzengesichtspunkte. Ethische Reflexion des sittlichen Umgangswissens mit sittlichen Verpflichtungen und Verfahren, ist genauso erforderlich wie diese in bestimmten Situationen aufzufinden und zu realisieren. Dazu bedarf es der Entwicklung eines ethischen Verfahrens, das eine konkrete Situation im Lichte von verschiedenen ethischen Prinzipien, Werten, Normen, Faustregeln und Anwendungskriterien interpretiert, wofür ein bestimmtes Stufenschema zu entwickeln ist.
Ausgangspunkt ist das sittliche Umgangswissen mit Verpflichtungen im Hinblick auf bestimmte Handlungen. Je komplexer Handlungen durch den technisch-ökonomischen Kontext werden, desto professioneller muss das Verfahren der Präzisierung der sittlichen Verpflichtung für eine konkrete Situation sein. Das Vorgehen der hermeneutischen Ethik ist hermeneutisch-explikativ, kritisch rekonstruktiv, phänomenologisch-hermeneutisch hinsichtlich naturaler Phänomene verknüpft mit explikativ-fundierenden Argumentationsverfahren. Argumentative Plausibilisierungsstrategien treten an die Stelle von Letztbegründungen kategorischer Verpflichtungen. Eine gewisse Skepsis gegenüber Letztbegründungen materialer Werte und Verpflichtungen kategorialer Art verbindet sich mit Skepsis gegenüber „intrinsice“ (an sich gut oder an sich schlecht)-Zuschreibungen, die auf naturrechtliche Argumente hinweisen.
Der Einzelfall (Handlungen im Kontext, Praxis) wird durch Situationsanalyse im Sinne eines Handlungsentwurfes im Möglichkeitsfeld anderer Handlungen und durch Folgenabschätzung des Feldes von potentiellen Folgen einer Handlung im Hinblick auf ein Handlungsziel in seiner Kontur herausgearbeitet. Dieses Handlungsziel wird im Hinblick auf konkrete Handlungsverpflichtungen sittlicher Art präzisiert und überprüft. So können Handlungsentwurf und Handlungsziele reflexiv präzisiert und modifiziert werden. So lässt sich z. B. eine Theorie ethisch-reflexiver Urteilsbildung und eine, die Technikentwicklung begleitende Form der Technikgestaltung begründen, die präskriptive Urteile (Verpflichtungen) für bestimmte Formen von Technikentwicklung herausarbeitet.
Dabei sind angesichts der Pluralität ethischer Prinzipien, Werte und Normen im Verfahren der Aufstellung und Begründung sittlicher Verpflichtungen für Einzelhandlungen oder für Felder bestimmter Handlungen (Handlungsbereiche), insbesondere Interpretationskonflikte bei der Bewertung von Handlungen zu bearbeiten und akzeptierbare bzw. realisierbare Interpretationsvorschläge zu entwickeln. Der Prozess der Klärung unterscheidet verpflichtende oder verbietende Urteile von weiter zu klärenden Fragen, für die ein Stufenschema entworfen werden soll. Diese weitere Klärung kann im Dialog oder im Diskurs erfolgen, da präskriptive Urteile für Handlungen der Rechtfertigung oder Begründung bedürfen. Bei der Klärung des Verpflichtungsgehaltes eines ethischen Urteils für eine konkrete Situation sind im Sinne der hermeneutischen Ethik einige methodische Verfahrensregeln und ein Stufenschema zur Klärung bestimmter Verpflichtungsgehalte für konkrete Situationen heranzuziehen und herauszuarbeiten (Irrgang 1998, 24 – 30).
Ein zentrales methodisches Kriterium ist die Konvergenz der Argumentation (Newman 1961) zugunsten einer bestimmten sittlichen Verpflichtung in einer konkreten Entscheidungssituation. Dabei betont hermeneutische Ethik die Geschichtlichkeit des Handelns wie die Geschichtlichkeit des Prozesses der Interpretation und der Bewertung. Sie ist eine Ethik für sich wandelnde Probleme und deren ethische Bewertung. Ihre Kritiker halten dies für Erosion der sittlichen Prinzipien, für Werteverfall und sittliche Dekadenz. Aber wir leben schon längst nicht mehr in einer Welt, in der metaphysisch begründete sittliche Normen Anerkennung finden. Hermeneutische Ethik ist eine Ethik für die Welt, in der wir heute leben. Man mag dies bedauerlich finden. Aber auch diese Meinung lässt sich konkret nicht begründen, es sei denn, man hätte einen absoluten, material formulierbaren Maßstab. Hermeneutische Ethik geht aber von der Vermutung aus, dass es für Philosophierende einen solchen Maßstab nicht gibt, und hält dieses gerade nicht für einen Nachteil.
Einer Hermeneutischen Ethik geht es nicht nur um zielorientierte, sondern auch um geneseorientierte Bewertungsperspektiven im Sinne des pragmatischen „Sowohl – als auch“ – Paradigmas. Die Beschleunigung der Problementwicklung und der Druck bei der Interpretation und Bewertung haben zugenommen. Insofern macht hermeneutische Ethik deutlich, dass Erwägungskultur und dezentrale Technikgestaltung ineinander greifen. Angesichts der neuen Unübersichtlichkeit auf Grund von Globalisierung wird es zunehmend unmöglich, noch Vorstellungen eines Allgemeinwohls, einer Weltgerechtigkeit, einer weltweit gültigen Konzeption des guten Lebens zu formulieren. Was erreicht werden kann, ist Schulung der Dispositionen, Kompetenzen und Fähigkeiten des Interpretierens, Erwägens und des Vermögens, ethisch bewerten zu können. Dies läuft nicht auf eine Rehabilitation der Tugendethik hinaus, denn Tugenden wurden auch universalistisch formuliert. Der philosophische und ethische Universalismus muss heute viel umsichtiger formuliert werden.
Handlungsgründe liegen in der Regel nicht in mentalen Ereignissen, ethischen Urteilen, ethischen Prinzipien oder Sollenssätzen, sondern in anderen Ereignissen oder Handlungen. Wenn mein Leben bedroht ist, suche ich nicht nach einem ethischen Prinzip, sondern handle quasi automatisch. Wenn ich überlebt habe, kann ich immer noch über die Rechtmäßigkeit meines Tuns nachdenken. Routine und Gewohnheit sind zentrale Elemente menschlicher Handlungen und Praxis. Dann muss die gesamte Praxis ethischen Standards genügen. Sie geben auch ein Präjudizium für unsere Freiheit. Routinemäßige Handlungen sind kein Einwand gegen Freiheit, sondern vielmehr Ausdruck unserer Freiheit, die sich sehr häufig in routinisierter Form manifestiert (aber auch von der Routine abweichen kann, wenn es dafür Anlass gibt). Allerdings muss auf Befragung unsere Routine auch über ihre ethische Berechtigung Rechenschaft ablegen können. Oft stellen wir erst im Nachhinein fest, dass so manche Routine und Gewohnheit ethischer Reflexion nicht standgehalten hätte, wenn wir sie denn angestellt hätten. Dies macht deutlich, dass die Routine zwar den menschlichen Alltag entlastet, oft genug jedoch um den Preis, eine gefährliche moralische Scheinsicherheit über das eigene Tun aufrecht zu erhalten.
Leiblich konstituierte Handlungsgründe sind neben denen der menschlichen Praxisanforderung die weitaus häufigsten Handlungsgründe und damit Anlässe für menschliche Freiheit und ihre Realisierung. Die Ethik hat sich mit Handlungsrechtfertigung, aber auch mit Handlungsmotivationen zu beschäftigen. Vor allem aber spielen die Rahmenbedingungen und die möglichen Folgen eine zentrale Rolle. Die Trennung der Ethik von Handlungen und Lebensvollzugsprozessen hat zu einem abstrakten Formalismus der Ethik geführt. Die Ethik ist damit in die Praxis des Handelns als ethisches Problemlösen zu integrieren. Sie ist keine vorgeschaltete Praxis, schon lange nicht der Dompteur, der mit der Peitsche knallt. Insofern bedarf es der ethischen Kreativität, der Problemlösungskompetenz und der ethischen Intuition, wobei ethische Kompetenzen und ethische Bewertungsfähigkeiten ein ethisches Expertentum begründen, aber auch das Gegenteil, nämlich ethischen Dilettantismus.
Dabei steht die Ausbildung ethischer Kompetenz im Vordergrund. Moralerziehung und ethische Bildung im Sinne der Vermittlung ethischer Kompetenz stellt selbst eine Konsequenz aus dem Fraglichwerden von Werten und Normen dar. Es handelt sich um die Ausbildung einer Reflexions- und Argumentationskompetenz. Ethische Kompetenzen umfassen die Fähigkeit, etwas als eine ethische Problemstellung wahrnehmen und benennen zu können; die Fähigkeit, eine Entscheidung oder einen Fall überlegend oder argumentierend zu bedenken, die Fähigkeit und Bereitschaft, auf andere moralische Positionen einzugehen und sich mit ihnen auseinander zu setzen; die Fähigkeit, eine ethische Sensibilität für Personen und Situationen auszuprägen. Dazu ist es erforderlich, über eine ethische Begrifflichkeit und ethische Argumentationsweisen zu verfügen, die Charakteristik und Reichweite ethischer Theorien zu kennen, sowie unterschiedliche Zusammenhänge und Fälle analysieren und beurteilen zu können (Maring 2004).
Eine Hermeneutische Ethik als Interpretationskunst, als Kunst, angemessen Probleme zu beurteilen und als Anleitung für gelingende und gute Praxis verknüpft einige grundlegende Charakteristika methodischer und inhaltlicher Art. Ansatzpunkt ist daher die Analyse menschlicher Praxis, wobei die normative Signatur menschlicher Praxis hervorzuheben ist. Sie begründet letztlich das Ineinander von Deuten und Werten und die fundamentale Bedeutung der pragmatischen Interpretationsanleitung des „Sowohl – als auch“. Verbunden werden:
1 als methodische Grundanweisung für deutende und wertende Interpretationen das „Sowohl – als auch“;
2 vier Paradigmen, in deren Rahmen das „Sowohl – als auch“ methodisch angewandt wird;
3 vier Ebenen der Präzisierung von Interpretationen und das methodische Grundkonzept der Gradualität;
4 Verknüpfung von Ethik als Kunst mit Nichtwissens- und Wertedissensmanagement;
5 Verbindung einer Minimalethik (Nichtschädigung) mit einer Vorbildethik (verantwortbare Selbstverwirklichung); inhaltlich eine Ethik der eingebetteten Autonomie, Authentizität und Selbstverwirklichung unter weitmöglicher Vermeidung der Schädigung anderer (sowohl personal, national und international), verbunden mit dem Grundgedanken der Hilfe zur Selbsthilfe und der Ermöglichung von Pluralität, sowie befreiendes, nicht paternalistisches, fürsorgliches Handeln für andere.
Zentral für eine Hermeneutische Ethik ist die Klärung des Interpretations- und Verstehensbegriffes. Beide gehören zusammen und haben im 20. Jahrhundert eine deutliche Ausweitung erfahren. Verstehen, englisch to understand bzw. to comprehend, französisch comprendre, italienisch comprendere ist kein Begriff der klassischen Erkenntnistheorie. Dies sieht man schon daran, dass es dazu keinen griechischen oder lateinischen Terminus gibt. Seinen philosophiegeschichtlichen Akzent erhielt der Begriff im 19. Jahrhundert durch J. G. Droysen und W. Dilthey. Durch sie wurde Verstehen zum Grundbegriff einer Erkenntnistheorie der sogenannten Geisteswissenschaften, polar entgegengesetzt dem Erklären als Grundbegriff einer induktiven Logik der Naturwissenschaften, wie sie von J. S. Mill vertreten wurde. Die terminologische Zuspitzung des Begriffs im 19. Jahrhundert wird verständlich unter zwei Voraussetzungen: Einmal musste der von Droysen und Dilthey fixierte Begriff des inneren Verstehens menschlich-geschichtlicher Wirklichkeit seinem Gehalt nach erfahren sein in der Ausbildung philologisch-historischer Wissenschaften und einer zugehörigen Kunstlehre der Interpretation (Hermeneutik). Zum zweiten musste der hochspekulative (christlich-platonische) Leitgedanke der mathematischen interpretatio naturae (als Lesen im Buch der Natur) von Cusanus über Leonardo, Kepler, Galileo bis Leibniz, die Grundlegung der exakten Wissenschaften und der Technik inspiriert und eine Säkularisierung durchgemacht haben (Apel 2001).
Das Wort Verstehen (etymologisch Rechtsausdruck für das Durchstehen bzw. Vertreten einer Sache vor dem Thing) hat zusammen mit dem Begriff Verständnis schon in der Sprache der Mystiker die Funktion eines philosophischen Kunstausdrucks zur Übersetzung von lateinisch intellectus, intelligentia, die vorzüglich die oberste Vernunfterkenntnis im Gegensatz zur diskursiven Ratio meint. Es entsteht bei Luther der Begriff des Verstehens als einer hermeneutischen Erkenntnisweise, die nicht nur die Ratio, sondern die Totalität des menschlichen Seelenvermögens in sich befasst. Paracelsus gebraucht das Wort Verstehen sowie Verstand (statt Verständnis) mit Bezug auf den Menschen, indem er vom Arzt fordert, den Mikrokosmos aus dem Makrokosmos und umgekehrt zu verstehen (Apel 2001).
Ausgangspunkt eines neuen, rationalen Begriffs von Verständnis und Verstand wurde die Bestimmung von „Entendement“ durch René Descartes. Dem durch Leibniz verarbeiteten Cartesianismus folgt die deutsche Aufklärung, in der auch der Begriff „Verstand“ im Sinne der Ratio neu festgelegt wird, z. B. von Christian Wolff. Bei Kant findet der rationale Begriff des Verstandes in unmittelbarem Zusammenhang mit dem der Vernunft seine abschließende Bestimmung. Während der rationale Begriff des Verstehens von Kant maßgeblich fixiert wurde, trat gleichzeitig der Sprachgebrauch Luthers und Böhmes bei J. G. Hamann wieder ans Licht. Hier meint er das Sich-Hineinversetzen ins Vergangene im Sinne eines einfühlenden Verstehens (Apel 2001).
F. W. J. Schelling hat diesen Verstehensbegriff der Romantik zum erkenntnistheoretischen Grundbegriff seiner Identitätsphilosophie gemacht und ihn – in Erneuerung der sympathetischen Naturphilosophie der Renaissance – noch einmal methodologisch auf die Naturerkenntnis angewandt. Die Anregungen Herders und der Romantik, die wesentlich auf ein divinatorisch-kongeniales, psychologisch einfühlendes Verstehen gerichtet waren, treffen sich bei F. D. E. Schleiermacher mit der Tradition der theologischen und klassischphilologischen Hermeneutik. Der Zusammenhang von Sprache und Verstehen wurde zur gleichen Zeit vor allem durch W. von Humboldt herausgearbeitet. Das durch Sprache vermittelte Verstehen erreicht aber jetzt die eigentliche Identität nicht mehr. Während Hegel die rationalen und hermeneutischen Verstehensanteile in seinen Begriff der dialektisch-spekulativen Vernunft aufzuheben versucht, folgt die historische Schule im wesentlichen der Idee des hermeneutischen Verstehens im Sinne Schleiermachers. Für J. G. Droysen ist das Verstehen ebenso synthetisch wie analytisch, ebenso Induktion wie Deduktion (Apel 2001).
Die jüngste Phase in der Geschichte des Verstehensbegriffes ist primär durch seine Erweiterung zum fundamentalen Erkenntnisbegriff charakterisiert. Eine radikale Erweiterung der Problematik des Verstehens, die den Verstehensbegriff Kants ins Spiel bringt, ergibt sich aus dem phänomenologischen Ansatz E. Husserls. Die verstehende Auffassung, in der sich das Bedeuten eines Zeichens vollzieht, ist – insofern eben jenes Auffassen in gewissem Sinne ein Verstehen oder Deuten ist, mit objektivierenden Auffassungen verwandt, in welchen uns mittels einer erlebten Empfindungskomplexion die anschauliche Vorstellung (Wahrnehmung, Einbildung, Abbildung usw.) eines Gegenstandes (z. B. eines äußeren Dinges) erwächst. Zum Fundamentalbegriff der Erkenntnis schlechthin wird Verstehen bei Martin Heidegger, der den Husserlschen Ansatz der Frage nach der elementaren Welt-Sinnkonstitution mit dem geschichtlich-hermeneutischen Verstehen des Lebens aus sich selbst (Dilthey) und dem Sich-Verstehen des Einzelnen in seinen existenziellen Möglichkeiten (Kierkegaard) integriert. Die Welt ist im Verstehen als mögliche Bedeutsamkeit erschlossen (Apel 2001).
Charakteristisch für ein Verständnis des Verstehensbegriffes ist die Ausweitung des Interpretations- und des Verstehensbegriffes insbesondere im 20. Jahrhundert. Ausgehend von einem inneren Verstehen menschlicher geschichtlicher Wirklichkeit, seinem Gehalt nach und dem Nachvollzug des Vollzugs geistiger Prozesse ist zunächst eine Entgegensetzung von Verstehen und Erklären zu konstatieren. Allerdings erweist sich aufgrund der Ausweitung des Interpretationsbegriffs eine komplementäre Betrachtungsweise von Verstehen und Erklären im Sinne eines „Sowohl-als auch“ und nicht eines „Entweder-oder“ als pragmatische Maxime als fundamental. Damit zeigt sich Hermeneutik einmal mehr in einem pragmatischen Sinne als Kunst. Verstehen meint damit ein Einordnen in Horizonte, ein Herstellen von Bezügen insbesondere zu Paradigmen, Klassifikationsmustern und ein Einordnen in ein Tableau. Es lassen sich verschiedene Dimensionen einer Hermeneutik unterscheiden: (1) Hermeneutik von Texten, (2) Hermeneutik der Natur, (3) Existenzialhermeneutik menschlichen Handelns und Seins (wissenschaftlicher, technischer, ökonomischer usw. Praxis), (4) Hermeneutik des Entwurfes, der Konstruktion, der Antizipation. Insbesondere die letzte Dimension einer Interpretation von Entwürfen ist in der bisherigen Tradition zu kurz gekommen. Es muss aber auch das Nachschaffen und die Rekonstruktion als wesentliches Element im Verstehensprozess mitberücksichtig werden.
Hermeneutik war ursprünglich eine spezielle Theorie der Interpretation von Texten. Mit der Moderne jedoch ist eine Expansion der Hermeneutik zu verzeichnen. Die drei ursprünglichen philosophischen Hermeneuten, Martin Heidegger, Hans-Georg Gadamer und Paul Ricoeur haben Hermeneutik mit speziellen Versionen der Phänomenologie vermengt. Merleau-Ponty entwickelt eine Phänomenologie der Wahrnehmung der Praxis und der Einbettung. Nun müssen diese Ansätze sich öffnen für eine Philosophie der Wissenschaft und Technologie. Dies impliziert eine weitere Expansion und eine neue Ausrichtung der Hermeneutik. Über den Ansatz einer hermeneutischen Geschichte der Wissenschaften muss nun sich eine Hermeneutik der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Objekte etablieren. Dies heißt, die Hermeneutik an die Forschungsfront zu bringen. Es ist herauszufinden, was eine phänomenologisch bereicherte Hermeneutik über Technologie, aber auch über Kultur herausarbeiten kann (Ihde 1998, 39 – 44).
Die pragmatische Methode dient in erster Linie dazu, philosophische Auseinandersetzungen beizulegen, die sonst endlos wären. Der Pragmatismus ist als Begriff vom griechischen Wort „pragma“ abgeleitet, das Handlung bedeutet und von dem unsere Begriffe Praxis und praktisch stammen. Der Pragmatismus repräsentiert eine in der Philosophie durchaus übliche Einstellung, nämlich die empirische, allerdings im Pragmatismus sowohl in einer radikaleren als auch in einer weniger angreifbaren Art und Weise verkörpert als im bisherigen Empirismus. Ein Pragmatist wendet sich entschieden von vielen hartnäckigen Angewohnheiten ab, die den professionellen Philosophen so lieb geworden sind. Er wendet sich von den Abstraktionen und Unzulänglichkeiten ab, von bloß verbalen Lösungen und falschen apriorischen Begründungen. Der Pragmatismus ist die Einstellung, sich von ersten Dingen, Prinzipien, Kategorien und vermeintlichen Notwendigkeiten abzuwenden und sich den letzten Dingen, Ergebnissen, Konsequenzen und Tatsachen zuzuwenden. Das ist die instrumentelle Sicht der Wahrheit und gipfelt in einer Konzeption des Prozesses des Wahrheitswachstums (James 2001).
Die Frage, warum überhaupt moralisch sein, zielt auf die Geltung der Moral bzw. auf die Gründe ihrer Verbindlichkeit. Sie lässt sich präzisieren als die Frage, warum soll ich etwas tun, was meinen eigenen Interessen widerspricht? Die Bezugnahme auf das Gemeinwohl liefert zwar einen exzellenten Grund, warum man moralisch sein soll (im Sinne von: Warum es für alle besser ist, wenn alle moralisch handeln), sie setzt damit aber voraus, dass jeder Handelnde ein Interesse daran hat, dass es allen gut geht. Dies läuft letztendlich auf die Aufforderung hinaus, moralisch zu sein, weil es im eigenen Interesse ist. Platon war der erste Philosoph, der dieses Kunststück versucht hat. Es leuchtet zwar ein, dass sich moralisches Handeln auf lange Sicht und im Allgemeinen auszahlt, man wird aber nicht behaupten können, dass bei allen Verstößen gegen die Moral mit Sanktionen oder mit einer Gefährdung von Kooperationschancen gerechnet werden muss. Anders sieht die Sache aus, wenn wir die Warum-Frage verallgemeinern. Wir fragen dann nicht: Hat Carla in dieser Situation einen Grund, moralisch zu handeln? Sondern: Hat Carla einen Grund, sich generell als ein moralischer Mensch zu verstehen, d. h. moralisch zu sein? Also läuft die Antwort auf folgenden Satz hinaus: Du sollst moralisch sein, weil dies objektiv vernünftig ist. Es gibt, wie auch Habermas in seinen neueren Arbeiten hervorhebt, keinen gesicherten Transfer von der diskursiv gewonnen Einsicht zum Handeln. Der Zerfall der traditionellen Sittlichkeit, vor allem das damit sich rasch vergrößernde Motivationsdefizit, muss durch andere Mechanismen kompensiert werden (Bayertz 2002).
Verstehen bedeutet soviel wie das Durchstehen einer Sache vor Gericht, die damit einen wesentlichen Zug von rationaler Argumentation, aber auch von Strategie und Machtausübung enthält. Betont wird das prozedurale, dynamische Element an mentalen Prozessen, das auf eine Praxis verweist. Verstehen und Verständnis sind Ausdruck menschlicher Intelligenz. Sie sind mindestens eben so wichtig wie die Kompetenz zur Problemlösung. Eine synthetische, zusammenfassende Intelligenz im Gegensatz zur diskursiven Ratio umschrieb der klassische Begriff des Verstehens. Auch hier muss der moderne Begriff der Interpretation im Sinne des sowohl-als-auch eine Neuinterpretation der Interpretation anregen, in der synthetische und diskursive Elemente der Ratio als unverzichtbar aufeinander angewiesen und konstitutionell miteinander verbunden sind. Es geht um das Verstehen der Totalität des menschlichen Geistes in seiner Prozesshaftigkeit. Erfahrung ist in diesem Sinne eine verstandene Wahrnehmung, richtig gedeutet und eingeordnet, verständlich interpretiert, eben als Prozess verstanden im Sinne desjenigen, der durch das Zurücklegen eines Weges in der Lage ist, eine Gegend zu erfassen, nicht nur ein sinnliches Datum abzubilden. Auch das einfühlende Verstehen im Sinne von Vollzug und Nachvollzug menschlicher Subjektivität ist zentral für die Grundlegung einer Philosophie des menschlichen Geistes im Horizont des Verstehensbegriffs.
Nun können wir eine ganze Reihe von Aspekten von Verstehen aufzeigen: (1) Umgehen können mit, gebrauchen können von, (2) Bilder und Gestalten erfassen können, (3) Intentionen, Ziele, Zwecke und Sinn erfassen können, (4) Bewegungen und Prozesse einordnen und durchführen können, (5) Wahrnehmungen begreifen, einordnen und zuordnen können im Sinne des Erfahrung-Machen-Könnens, (6) sich in den verschiedenen Bereichen orientieren können, (7) Erfassen von Regeln, Mustern, Strukturen und Vernetzungen, (8) Erfassenkönnen von Paradigmen, Horizonten, Totalitäten, auch von regional begrenzten Totalitäten. Verstehen ist damit ein Begriff menschlicher Kompetenz und beschreibt menschlichen Geist insbesondere als Kompetenzbegriff. Verstehensprozesse haben kein „natürliches“ Ende. So ergibt sich die Notwendigkeit eines gezielten und begründbaren Abbruches. Daher bedarf es für Verständnis und Interpretation auch der Konstruktion. Hieraus zieht das Konzept der Interpretationskonstrukte von Hans Lenk (Lenk 1995) seine Legitimität.
Der Begriff der Interpretation stammt aus der geisteswissenschaftlichen Tradition. Dem lateinischen Begriff der Interpretation entspricht der griechische Begriff der Hermeneia, übersetzt mit „Hermeneutik“. Hermeneutik ist ganz allgemein die Kunst des Verkündens, Dolmetschens, Erklärens und Auslegens. Hermes ist der Götterbote, der die Botschaften der Götter den Sterblichen ausrichtet. Sein Verkünden ist kein bloßes Mitteilen, sondern ein Erklären und Auslegen von göttlichen Befehlen. Insbesondere gilt dies für die Übersetzung der Götterworte in die Sprache der Sterblichen und in eine ihnen angemessene Verständlichkeit. Hermeneutik ist als Textinterpretationslehre zu verstehen. Das lateinische Wort Interpretation entstammt der römischen Handels- und Rechtssprache und meint dort Auslegung und Ausdeutung. War im ursprünglichen lateinischen Begriff der Interpretation noch die Ausdeutung von Auguren und Traumdeutern mit impliziert, so lässt sich die spätere Begriffsgeschichte im Sinne von Auslegung und Ausdeutung und zwar als kunstmäßiges Verstehen schriftlich fixierter Lebensäußerungen begreifen. In späteren Zeiten wurde die Hermeneutik als Kunst der Interpretation insbesondere mit der Ausdeutung der biblischen Geschichten verbunden. Hier wurde im 18. Jahrhundert Ziel der Hermeneutik, die Übereinstimmung der geoffenbarten Wahrheit mit den Vernunftwahrheiten auszuweisen. Auslegung befragte schriftliche Texte in ihren wesentlichen Punkten auf ihren Vernunftgehalt.
Nietzsches Verwendung der Erkenntnis im Sinne der Interpretation als Ausdruck des Rückgangs hinter das Selbstbewusstsein und Heideggers Analysen der existentialen Struktur des Verstehens, die ausdrücklich unter dem Leitbegriff der Interpretation stehen, haben eine Kritik der traditionellen Hermeneutik als Kunst der Auslegung von Texten möglich gemacht. Diese Kritik zeigte, dass Interpretation ein Vorgang der Deutung ist, dessen hermeneutische und methodische Implikationen die philosophische Hermeneutik erörtert. Zentrale Erkenntnisse der philosophischen Hermeneutik sind die Einsicht in die Geschichtlichkeit des Verstehens und die Erkenntnis der Zirkelstruktur des Erkennens. Um diese Probleme methodisch bewältigen zu können, entwickelte die Hermeneutik eine Logik von Frage und Antwort, die Geltung im Sinne der Bewährung konzipiert. Damit ist ein Konzept von Wissenschaftlichkeit verbunden, das nicht dem Methodenkonzept der modernen Naturwissenschaft entspricht. Andererseits wurde schon früh versucht, unter der Metapher vom „Buch der Natur“ eine geisteswissenschaftliche Hermeneutik auch auf die Natur zu übertragen.
Es geht darum, eine philosophische Hermeneutik zu begründen, die Grundlagenwissenschaft für eine anwendungsorientierte Ethik sein kann und die Aufgabe hat, den Hiatus zwischen naturwissenschaftlicher und einer geisteswissenschaftlichen hermeneutischen Methodologie zu überwinden. Interpretation ist abhängig von der Befolgung bestimmter Regeln. Dies macht die Kunstfertigkeit aus, die Hermeneutik zu sein beansprucht. Es geht jeweils um spezifische methodisch angeleitete Formen des Verstehens von Texten. Abweichende Interpretationen sind möglich. Es scheint also erforderlich zu sein, bestimmte Denktraditionen auszuzeichnen. Im Rahmen einer christlichen Auslegungsgeschichte der biblischen Texte wurde diese Festlegung auf der inhaltlich materialen Ebene vorgenommen, d. h. bestimmte Interpretationen biblischer Texte dogmatisch bevorzugt. Philosophische Hermeneutik ist einen anderen Weg gegangen, nämlich Regeln zu entwerfen, bei deren Befolgung eine Interpretation im Rahmen einer Hermeneutik als kunstfertig gilt.
Den Zusammenhang von Auslegung, Ausdeutung, Verstehen und Interpretation einerseits, Rationalität andererseits, machte den Beziehungsrahmen für die Hermeneutik des 17. und 18. Jahrhunderts aus. Dennoch wurde im 18. Jahrhundert insbesondere die Problematik der Psychologie der Ausdeutung und die Affektnähe der Interpretation immer wieder diskutiert und zum Anlass einer kritischen Analyse genommen. Die Aufklärungshermeneutik konnte auf die Interpretationsprinzipien der protestantischen Bibelauslegung zurückgreifen. Dabei wurde die Methodenlehre der Auslegung in eine allgemeine Perspektive rationaler Grundlagen des Interpretierens eingeordnet. Betont wurde die eigene Einsicht bei der Übernahme von Traditionen. Im Rationalismus versuchte man demonstrativ hergeleitetes Wissen mittels eines logischen Beweisverfahrens zu begründen. Die rationalistische Methodenlehre versuchte, historisches Wissen rational zu strukturieren. Dabei wurde auf den Begriff der realen Möglichkeit zurückgegriffen: wahre Erkenntnis ist bezogen auf ein System richtiger Begriffe gemäß dem Gedanken eines Reiches logischer Wahrheiten (Bühler 1994).
Vorsicht ist die Kardinaltugend für das kritische Geschäft einer philosophischen Historie. Bruckers Regeln laufen auf das Postulat der Kohärenzmaximierung hinaus, die an eine Interpretation der Texte anzulegen ist. Auch Übertreibungen eines hermeneutischen Wohlwollens sind zu vermeiden. Klugheit im Sinne der deutschen Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts dürfte ziemlich genau dem heutigen Wortgebrauch der Zweckrationalität entsprechen. Er war ein Leitbegriff der aufklärerischen Hermeneutik. In den Hermeneutiken des 17. und 18. Jahrhunderts haben moralische Gesichtspunkte bei der Formulierung und Rechtfertigung der Auslegungsregeln eine prominente Rolle gespielt. Der Begriff der Epikeia, der Billigkeit, trat in den Vordergrund (Bühler 1994).
Der methodische Gewinn jeder Hermeneutik liegt in der Etablierung des sogenannten Vorverständnisses. Jede Interpretation ist abhängig von vorausgegangenen Deutungstraditionen und ist damit perspektivisch bestimmt. Hermeneutik fasst die Tätigkeiten des Menschen, nämlich Erkennen und Handeln, unter dem Aspekt der Endlichkeit. Interpretieren als Deuten und damit als Voraussetzung des Handelns ist zeit- und situationsabhängig. Der Ansatz beim Konkreten versetzt Hermeneutik in die Lage, eine anwendungsorientierte Ethik zu begründen. Dies gelingt nur, wenn Interpretationsansätze und Interpretationsvorgänge vom Ideologieverdacht befreit werden können. Eine solche Hermeneutik muss ihr eigenes Vorgehen ständig selbstkritisch auf ihre Berechtigung hin überprüfen. Interpretation zielt auf Anerkennung ab, Anerkennung wird reklamiert für einen Geltungsanspruch, sei dieser Geltungsanspruch eine deskriptive Aussage oder präskriptive Vorschrift. So hängt die Universalität der Hermeneutik davon ab, wieweit der theoretische, transzendentale Charakter der Hermeneutik auf ihre Geltung innerhalb der Wissenschaft beschränkt ist oder ob sie auf die Prinzipien des Common Sense ausgeweitet werden kann (Gadamer 1974). Erst eine universal konzipierte Hermeneutik, die Wissenschaft und Common Sense umgreift, ist in der Lage, die Grundlage für eine anwendungsorientierte Ethik abzugeben.
Für eine Hermeneutik stellt sich das Problem, ob sich Interpretation in bestimmte strikt und allgemein zu beachtende Regeln fassen lässt. Zumindest müssten regional anwendbare Regeln aufgestellt werden können, die Deuten und Werten als Grundlage von Verstehen und Handeln begründen. Sehr wichtig für die Grundlegung einer solchen allgemeinen Hermeneutik war die Unterscheidung zwischen Erkennen von Sinn und dem Erkennen von wahren Sachverhalten. Das Erkennen von Sinn wurde als Voraussetzung für wertende Prozesse verstanden, das Erkennen von wahren Sachverhalten als Voraussetzung von deutenden Sachverhalten genommen. Entscheidend für die Hermeneutik ist damit die Frage nach Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens überhaupt.
Friedrich Nietzsche entdeckte Interpretation als philosophisches Prinzip und begründete eine Philosophie des Perspektivismus. Die Auffassung von der Interpretativität aller Weltkonstitution ist bei Nietzsche pragmatisch eingebettet (Lenk 1993, 77). Allerdings ist dieses Interpretationsprinzip von Nietzsche zunächst vage als ein universelles philosophisches oder gar metaphysisches Konzept aufgefasst worden. Entscheidend ist seine Einsicht, dass Tatsachen Interpretationen sind, dass auch die naturwissenschaftliche Weltsicht eine grundsätzlich überholbare Interpretation darstellt und nicht ein exaktes Abbild der Realität. Für Nietzsche sind es unsere Triebe und Bedürfnisse, die die Welt auslegen und interpretieren. In Nietzsches Interpretation der Interpretation stellt sich Interpretation als ein „Sich-Bemächtigen“ dar und ist Ausdruck des Willens zur Macht, vertritt Interessen und versucht Herrschaft über das Interpretierte zu erlangen.
Hier sind einige Zweifel angebracht: Bei der Textinterpretation handelt es sich nicht immer um ein Herr werden, um ein sich Bemächtigen (Lenk 1993). Für Nietzsche ist Interpretieren ein fortwährender Prozess, der auch auf Moral und Ethik übertragen werden muss. Es gibt auf dem Gebiet von Sitte und Moral keine absoluten Sachverhalte, sondern nur Interpretationen. Handeln ist immer abhängig von Perspektiven und von Deutungen. Es geschieht notwendig vom Blickwinkel und Standpunkt des Handelnden aus. Da sind Handeln und Interpretieren nach Nietzsche wechselseitig aufeinander bezogen. Bei Nietzsche wird das Interpretieren überdehnt und als ein ontologisches Prinzip zur Erfassung der Gesamtprozessualität verstanden. Es ergibt sich eine perspektivische Welt, die unter dem Gesichtspunkt von Interpretationskonstrukten gesehen wird. Diese Ontologisierung weckt schwerwiegende Bedenken gegenüber Nietzsches Theorie der Interpretation als Ausdruck des Willens zur Macht. Der hermeneutische Zirkel muss nicht zu einem ontologischen Zirkel führen. Er kann sich als Zirkel des Verstehens auf methodologisch transzendentalphilosophischer Ebene bewegen. Dennoch sollte die Unterscheidung von Theorie und Handeln trotz ihrer Gemeinsamkeiten im Hinblick auf eine Theorie des Interpretierens gewahrt bleiben. Interpretieren ist ein Schema, welches wir nicht abwerfen können. Nietzsche hingegen verwendet den Ausdruck Interpretation mehrdeutig. Und es liegt nicht zuletzt daran, dass das Interpretieren selbst nur als Interpretationsmodell, d. h. als sein perspektivisches Modell möglich ist.
Andererseits ergeben sich methodische Probleme aus dem Satz: Alles ist perspektivisch. Daher ist eine Abstufung von Perspektiven (Gradualität der Perspektiven) erforderlich, um einer radikalen Skepsis auf der Basis des Interpretierens zu entgehen. In der Selbstgesetzgebung des souveränen Menschen wird der Perspektivismus Nietzsches praktisch. Hier geht es im wesentlichen um Selbstgestaltung, Selbstdeterminierung, Selbstbestimmung, Selbstinterpretation und Selbstverantwortlichkeit. Doch Nietzsches Philosophie ist nicht ganz konsequent, insofern er die Wertschätzung des Lebens absolut setzt (Lenk, 1993). Nietzsches Interpretation der Interpretation als Ausdruck des Willens zur Macht und damit als Herrschaft über die Natur und den Menschen ist letztlich doch zurückgebunden an ein typisch abendländisches Herrschermotiv.
Diesen Ansatz nimmt Heidegger in seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche und Dilthey auf. Seine Analytik des Daseins und Verstehens geht von einem spezifischen Weltverhältnis des Alltags-Menschenverstandes aus. Die innerweltlich begegnenden Dinge stehen für Nietzsche wie für Heidegger unter der Kategorie der Zweckhaftigkeit des Objektiven und des Instrumentellen. Wir haben zu unserer Umgebung kein theoretisches Verhältnis. Die Daseinsanalytik entwickelt den Primat der Praxis. Damit betont Heidegger die pragmatische Bedingtheit der Konstitution von Gegenständen. Die sich in einer Gemeinschaft herauskristallisierende Gemeinsamkeit des Handelns basiert auf einer Art konventioneller Gegenstandsinterpretation. In fundamentalontologischer Hinsicht ist eine analytische systematische Trennung des Begriffs eines handelnden Subjektes vom Begriff der für sein Handeln dienlichen Dinge nicht durchführbar. Handeln und Instrumente des Handelns bedingen sich gegenseitig. In dieser Welt des Instrumentellen wird ein Gegenstand durch einen anderen erschlossen. So entwickelt sich die Bedeutsamkeit durch wechselseitige Erschließung von dinglich Instrumentellem.
Allerdings beschränkt sich das menschliche Dasein nicht nur auf instrumentell-objektive Möglichkeiten des Entwurfs. Auslegung gründet im Verstehen, und Verstehen hat die Struktur der Erschlossenheit eines Woraufhin oder eines Zweckes des Handelns. Andererseits ist die Auslegung gegenüber dem Verstehen ein eigenständiger systematischer Vorgang. Auslegung als eine begrifflich theoretische Rekonstruktion ist daher im Verstehen fundiert, geht aber darüber hinaus. Daher kann Heideggers Philosophie als Transformation der hermeneutischen Philosophie verstanden werden. Problematisch ist allerdings seine Einbettung in eine Ontologie. Letztlich erfasst Heidegger Philosophieren als ein Transzendieren auf, als ein systematisches Übersteigen bestimmter Gesichtspunkte und aller Perspektiven, die beschränkt sind.
Hans Georg Gadamer hat im Sinne einer Weiterführung von Heideggers Position versucht, das geisteswissenschaftliche Verstehen neu auszuweisen. Gadamer stellt nicht die Frage nach Regeln einer wissenschaftlich korrekten Vorgehensweise und nach Maßstäben für die Angemessenheit des Verstehens. Er fragt nach dem erkenntnistheoretischen Ort geisteswissenschaftlichen Verstehens überhaupt. Dabei betont er die Differenz der Erkenntnisziele in der Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft. Verstehen ist nicht restlos methodisierbar. Es ist ein Spiel, wobei das Spiel darauf abzielt, Sinn zu verstehen. Besonders deutlich kann man dies am Kunstwerk und dem Verständnis des Kunstwerkes ablesen. Verstehen ereignet sich als Horizontverschmelzung, als Verschmelzung verschiedener Interpretationshorizonte zu einer neuen Einsicht. Paul Ricoeur geht einen Schritt weiter. Er versteht Handlung nach dem Muster des Textverstehens. Der Text hat in seiner Offenheit Aufforderungscharakter. Handlungen können nur untersucht werden, insofern sie objektiviert werden können. Menschliches Handeln ist jedem zugänglich, der lesen kann (Lenk 1993).
Auch in der Theorie der Interpretation der analytischen Philosophie ist Interpretation als ein Verfahren oder ein Prozess aufzufassen, der immer gewisse konstruktive Momente aufweist, die nicht festgelegt sind. Der Unbestimmtheitsspielraum gehört zu jeder Art von Interpretation (Lenk 1993). Die gemeinsame menschliche Handlungsweise ist das Bezugssystem, mittels dessen wir uns eine fremde Sprache deuten. Radikale Übersetzungen können scheitern. So ist das Ergebnis der Diskussion der analytischen Philosophie, dass jegliche Hoffnung auf eine Universalmethode der Interpretation fallen zu lassen ist. Der Interpret benutzt seinen eigenen Standpunkt, seine eigene Interpretationslogik. Daher kann eine Analyse der Metabedingungen der Interpretation von Interesse sein.
Günter Abel weist darauf hin, dass eine Interpretationsethik unverzichtbar ist in einer Demokratie, da sie Plausibilität und rationale Akzeptabiliät, mithin Vernünftigkeit in der öffentlichen Wertediskussion aufzuzeigen vermag. Eine Philosophie der Interpretationsverhältnisse vermag das dazu erforderliche Instrumentarium bereitzustellen. Menschliche Verständigung und Handlung erfolgt aus der lebensweltlichen Interpretations-Praxis bzw. aus der interpretativen Lebenswelt heraus auf diese hin. Die normativen Komponenten, die mit einer solchen Interpretations- und Lebenspraxis gegeben sind, sind in dem jeweiligen Sprechen und Handeln präsent. Menschliches In-der-Welt Sein ist immer schon sprachlich ausgelegt und genau so wie die für die Lebenswelt konstitutive sprachliche Verbindlichkeit zwischen Personen letztlich intersubjektiv und diskursiv verfasst. In der Interpretationsphilosophie dagegen erscheint die menschliche Lebenspraxis primär nicht durch Diskursivität, sondern durch Interpretativität charakterisiert zu sein. Die Struktur und die Vollzüge des In-der-Welt Seins und der Lebenswelt werden als interpretativ gekennzeichnet (Abel 2004).
Die Interpretationsphilosophie plädiert weder für einen Relativismus kultureller Art, noch führt sie zu einer Verabschiedung der Vernunft. In der Rede von einer Ethik der Interpretation geht es im Folgenden um diejenigen normativen Implikationen und Konsequenzen, die sich intern aus dem Umstand ergeben, dass unser Verhältnis zur Welt, zu anderen Personen und zu uns selbst als perspektivisches, als konstruktionales und auslegendes, als Interpretationsverhältnis charakterisiert werden kann. Es geht um den Interpretationscharakter menschlichen Sprechens, Denkens und Handeln. Dabei ist die Ethik der Interpretation eine frei-lassende Ethik. Wird diesen beiden Aspekten Rechnung getragen, sind individuelle Freiheit und Gleichheit der Interpretierenden miteinander verschränkt (Abel 2004). Der Abschied vom Letztbegründungsparadigma impliziert nicht zugleich eine Hinwendung zum Kulturrelativismus. Offenheit ist ein Grundprinzip der Interpretation. Interpretation unterstützt die Freiheit der Handlungen, weil sie diese reflektierend begleitet, ihre kontextuale Vernünftigkeit und Akzeptabilität aufzeigt, Alternativen aufweist und möglicherweise auch zusammenführt (d. h. Konflikte überwindet). Interpretation heißt auch, Ebenen reflektiert miteinander zu verbinden wie die von Deuten und Werten. Die Interpretationsethik von Apel und die hermeneutischen Ethik geht vom Menschen als interpretativem Wesen aus.
Hermeneutische Ethik ist nüchtern und nicht moralinsauer. Außer Ethik gibt es noch andere wichtige Dinge in der Welt. Nach den Exzessen der fortgesetzten Kritik, dem moralischen Rigorismus, der für die Durchsetzung vermeintlicher Gerechtigkeit bereit war, mit hunderten oder tausenden von Menschenleben zu bezahlen, des allumfassenden Zynismus, der uneingeschränkten Coolness und der nicht enden wollenden Dekonstruktion und Entlarvungsorgien begrenzt Hermeneutische Ethik die überbordende philosophische Universalisierungsbestrebung und etabliert ethische Reflexion unter Berücksichtigung der Alltagsmoral, dem Rückgriff auf plausible Hilfestellung durch die philosophische Tradition und Analyse von Versuchen, einigermaßen komfortabel im Alltag miteinander und mit den Situationen, in denen wir leben, zurecht zu kommen. Täuschung ist etwas ganz Normales, ein Alltagsattribut der praktischen Intelligenz. Die Selbsttäuschung und die Täuschung anderer, um mit Ängsten fertig zu werden, ist ebenfalls ganz normal. Wörter und Symbole treten an die Stelle von Waffen und Gewalt. Dies ist eine Leistung der Kultur. Ein gesundes, praktikables und lebenswertes Zusammenleben in der menschlichen Gemeinschaft ist für Nyberg undenkbar ohne Halbwahrheiten. Liegen jeder Selbsttäuschung unbegründete Ängste zugrunde? Wahrhaftigkeit wird jedenfalls moralisch überbewertet (Nyberg 1994).
Warum hält sich Täuschung trotz ihrer öffentlichen Verdammung und wird so weit praktiziert? Täuschung ist ein heikles Thema. Sämtliche mit böswilliger Absicht unternommenen und auf Bereicherung abzielenden Täuschungen sind zu verurteilen. Nyberg möchte der Korruption und Ausbeutung nicht zureden. Aber das Sich Präsentieren, um zu erreichen, was man erreichen will, ist doch wohl nicht zu verurteilen und eher ein Zeichen praktischer Intelligenz? Der Arzt als Schauspieler, die Heilkraft des Theaterspiels oder des Placebos – sind diese Dinge zu verurteilen? Die Unterstellung einer laxen Einstellung ist nicht immer richtig. In der Politik stellt sich die Frage: gibt es tatsächlich eine deutliche Zunahme von Betrugsmanövern oder ist dies nur eine Konsequenz des Enthüllungsjournalismus? Bei Kant ist Wahrhaftigkeit eine unbedingte Pflicht. Die Frage nach der absoluten Gewissheit ist eine Frage der Religion. Die Wahrheitstheorie des Pragmatismus ist eher bereit zu Kompromissen. Auch die Performancetheorie der Wahrhaftigkeit zielt auf etwas anderes ab. Schrift und Noten sind nur eine unvollständige Wiedergabe des eigentlich gemeinten. Gibt es also selbstverständliche Wahrheiten in der Ethik (Nyberg 1994)?
Sind Lügen nur moralisch falsch, weil sie Lügen sind? Lüge kann als eine Aussage verstanden werden, die jemand anderes glauben soll, obwohl man selbst nicht (völlig) an sie glaubt, und zwar in einer Situation, in der die andere Person mit Recht erwartet, dass das Gesagte auch gemeint ist. Lügen sind eine immer komplexe Angelegenheit. Außerdem kann auch von einer Art Kunstfertigkeit der Täuschung gesprochen werden. Eigentlich sollte man Täuschungen ohne moralische Vorurteile interpretieren. Lügen, um einen Freund zu retten, sind doch wohl nicht falsch? Gut und böse, Licht und Dunkel, wahr und falsch – das waren lange von der Gnosis eingefärbte Richtungen, wobei sich heute die Überwindung der gnostischen Grundeinstellung empfiehlt, die in gewissen Situationen zu Fundamentalismus und Terrorismus führen kann (Nyberg 1994).
Eine ganze Reihe von Berufsgruppen leben von der Kunst der Täuschung. Eine Täuschung erfordert strategische Fähigkeiten im Sprechen, im Schreiben und in anderen Verhaltensformen, einschließlich des Gesichtsausdrucks und der Körpersprache. In unserer Gesellschaft besteht eine Spannung zwischen den moralischen Ansichten der Täuschung und der moralischen Praxis im Alltagsleben. Nicht nur bei der Werbung und in der Lebensform des Vertreters müssen gelegentlich gewisse Übertreibungen und daher auch Täuschungen vorkommen. Täuschung ist die schlaue, nüchternheitskalkulierte Kunst des Vorführens oder Verbergens mit dem Ziel, die Wahrnehmung eines Anderen zu kontrollieren. Das Verbergen, das Tarnen, das Verkleiden, das Vorführen, das Theaterspielen, das Fälschen und Vortäuschen gehört nicht nur zur Alltagspraxis von Menschen, sondern auch von bestimmten Tieren. So kann von einem weiten Feld der Täuschung und des Irreführens gesprochen werden (Nyberg 1994).
Dieser menschliche Hang zur Selbsttäuschung, zur freiwilligen Blindheit, Gefühllosigkeit, Begriffsstutzigkeit und Unwissenheit gehört nicht gerade zu unseren Vorzügen, wie viele Moralisten meinen. Muss ich aber alles wissen wollen, was ich wissen könnte? Die Sehnsucht nach Anerkennung schränkt unser Wahrhaftigkeitsstreben ein. Dabei gibt es ein gewisses Paradox der Selbsttäuschung. Auch dem Wunschdenken sollte nicht immer zugeredet werden. Die Selbsttäuschung setzt Zweckgerichtetheit voraus, sie ist zu unterscheiden von Unentschiedenheit und Meinungswechsel. Selbsttäuschung sollte als bewusste, vorsätzliche Manipulation interpretiert werden. Sie dient dazu, Rollenverpflichtungen zu umgehen. Auf der anderen Seite besteht die Sehnsucht nach einem wahren Selbst. Aber man muss auch darauf hinweisen, dass Optimismus oder auch Placebos den Heilungsprozess selbst schwerer Krankheiten positiv beeinflussen können (Nyberg 1994).
Sprache kann ein Kommunikations-, aber auch ein Isolationsfaktor sein. Die Höflichkeit basiert auf der Enthüllung und auf der Verhüllung unserer Gedanken. Das Aufdecken von Lügen ist eine eigene Sache. Man hat dazu in instrumentalisierter Weise sogar den Lügendetektor eingeführt. Aber die feinen Formen der Ironie sind ein Umgang mit der Sprache als Kommunikationsmittel und nicht unbedingt als Wahrheitsindikator. Manche wollen in ihrer Täuschung sogar selbst durchschaut werden. Die Ambiguität der Sprache kann hierzu ausgenutzt werden, auch zum Schutz der eigenen Privatsphäre. Die Privatsphäre kann auch persönlich sein, sie kann aber auch mit der Familie verbunden sein, und zuviel Privatsphäre führt in Einsamkeit. Die eigentliche ethische Weisung besteht in einem einfühlsamen Umgang mit Wahrheit und Lüge. Dabei sind Vertrauen in die Wahrheit und das Vertrauen in die Person, die diese ausspricht, zu unterscheiden. Heuchelei kann eine Tugend sein und ist in diesem Zusammenhang als Gefühlsarbeit zu betrachten. Sie kann in diesem Zusammenhang sogar Ausdruck der Freundschaft sein. Die Etikette des Lügens wird vorbereitet in gewisser Weise durch das Täuschungsverhalten der Kinder. Ethik und Taktik sind aufeinander zurückverwiesen. So lassen sich Täuschungen bei polizeilichen Ermittlungen in gewisser Weise auch als Notwehrmaßnahmen erklären (Nyberg 1994).
Ethisches Denken in Wertkonflikten sollte insbesondere Details beachten und Anpassungsvorgänge des Menschen an seine Situation. Zum Kontext gehören auch die Selbstbilder und Zukunftsvisionen. Selbstverständlich spielen historische Konventionen eine Rolle. Moralische Gedanken und Verbindungen basieren auf wechselseitigem Vertrauen. Prinzipien und moralische Intuition sind ganz unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe. Wichtig für ethische Argumentation sind Klarheit und Einfachheit. Die Anerkennung von Wertkonflikten hat nicht zu einem Werterelativismus geführt. Ein Fundamentalismus im Rahmen der Wahrhaftigkeitsfrage ist daher unnötig. Moralische Visionen und Entscheidungen im Hinblick auch auf selbstlose Anteilnahme sind alles Formen einer Alltagsmoral, die im eigenen Leben wurzelt (Nyberg 1994).