Читать книгу Schweizer Wasser - Bernhard Schmutz - Страница 13

Juni (10)

Оглавление

Seit mehreren Tagen versucht Wim erfolglos, sich abzulenken. Beim Schachspiel sieht er noch älter aus, als er sich eh schon fühlt. Mal für Mal tappt er in die offensichtlichsten Fallen, die sogar ein zehnjähriger Anfänger erkennen würde. Zum Glück ist sein Partner ein Computer. Der kann wenigstens nicht noch dreckig lachen oder mitleidig seine Schulter tätscheln. Noch nicht. Liest er im aktuellen Krimi, schafft er in 45 Minuten maximal fünf Seiten, was definitiv nicht an der Autorin liegt, deren Erzählstil ihn sonst fesselt. Er kommt sich jeweils vor wie ein Kleinkind, das nur so tut, als ob es lesen könnte, irgendetwas vor sich her parliert, keinesfalls aber die effektive Geschichte. Im Arbeitsalltag ist seine Konzentration gleichermaßen inexistent. So miserabel hat er seit Wochen nicht mehr verkauft. Einem Typen mit dieser Ausstrahlung würde ich auch nichts abkaufen. Nicht einmal gratis, tadelte ihn am Morgen das Spiegelbild. Seine Gedanken schweifen immer wieder ab in die kleine Küche im zweiten Stock, was unweigerlich einen dunklen, langen Schatten auf sein Gesicht und sein Gemüt wirft. Sogar seine Lieblingsbedienung im Stammcafé hat sich nach seinem Befinden erkundigt, obschon sie selten mehr als zwei Sätze austauschen.

Was steckt dahinter, dass sie so ausgerastet ist? Was muss jemand erlebt haben, der wie ein verwundetes Raubtier reagiert? Bestimmt hat sie eine impulsive, unberechenbare Ader. Zweifellos kann sie die Ärmel hochkrempeln und so richtig zupacken, wenn’s darauf ankommt. Trotzdem muss sich hinter der taffen Schale etwas Einfühlsames verbergen. So unnahbar und kühl, wie sie sich gab, kann sie nicht sein, ist Wim überzeugt. Feinen Humor hat sie ebenfalls bewiesen, sonst hätte sie ihm niemals die Tür geöffnet.

Et puis? Quo vadis, Wim? Mit einem Glas Rotwein, Block und Schreibwerkzeug bewaffnet, setzt er sich an den Klapptisch in seinem fahrbaren Zuhause. Wobei er daran zweifelt, dass es sich noch bewegen ließe. Spielt im Moment auch keine Rolle. Hier hat er seine Ruhe. Und wenn im Sommer alle Mieter vor ihrem Traumhäuschen auf ihren Campingstühlen sitzen, macht er es sich drinnen gemütlich.

Er tut, was er in seinem Leben immer tut, wenn ein Entscheid ansteht, sofern er überhaupt eine Wahl hat. Die hat er jetzt. 30 Minuten und zwei Deziliter Pinot später betrachtet er seine Pro-und-Kontra-Liste. Kontra bedeutet, Grindelwald endgültig den Rücken zu kehren. Dessen Tourismuspläne, den mysteriösen Todesfall und nicht zuletzt Lisa Pelletier zu vergessen, weil ihn all das nichts angeht. Der Entscheid pro fällt ihm erstaunlich leicht. Mit Großbuchstaben notiert er auf seinem Blatt: TRY OR DIE!

Vor zwei Tagen musste sie die Handbremse ziehen. Genau genommen trat sie zusätzlich mit beiden Beinen gleichzeitig auf das Bremspedal. Die beiden Vorderreifen baumelten bereits über der Klippe. 48 Stunden nach der traumatischen Szene in ihrer Küche wachte Lisa in ihrem Erbrochenen und ihren durchnässten, nach Schweiß, billigem Alkohol und Urin miefenden Klamotten auf. Mit dem Geruch in ihrer Wohnung hätte sie locker ein paar Franken verdienen können. Die dicke Luft ganz einfach mit einem Messer zerschneiden und portionenweise einer Biogasanlage verkaufen. Bis auf ein kurzes Déjà-vu aus einem Traum ist ihre Erinnerung an diese zwei Tage – oder waren es noch mehr? – ausgelöscht. Ein riesiges schwarzes Loch. Dieser kleine Traumausschnitt hatte es hingegen in sich: Wo nur ist Lisa, die Kämpferin geblieben? Die Opferrolle steht dir nicht, begegnete ihr aus dem Nichts ihre verstorbene Liebe und poppte weg wie eine Seifenblase, ehe sie Luft zum Antworten holen konnte. Wie gerne hätte sie wieder einmal ein gehaltvolles Gespräch geführt. Keinen oberflächlichen, achtlosen Small Talk, sondern einen Dialog, der diesen Namen verdient. Über Dinge, die berühren, Angst machen, Freude bereiten. Wenn’s sein muss auch über die eigenen Schwächen und Abgründe. Ein echter Austausch eben. Ohne Eskalation. Nicht wie beim Besuch von diesem Peter, oder wie er heißt, der beinahe mit einer Katastrophe geendet hätte. Immerhin, vermutet sie rückblickend, waren die zwei Sätze vom ehemaligen Partner so etwas wie der entscheidende Impuls, die Notbremse zu ziehen, aufzuwachen und als ersten Schritt den Restalkohol in ihrem Haushalt zu entsorgen. Im Ausguss, versteht sich.

Gerade noch rechtzeitig die Kurve gekriegt, reflektiert Lisa nach der ersten Null-Promille-Nacht seit einigen Wochen. Ein Gläschen wird dir nicht schaden. Jetzt sei doch nicht so stur. Stolz darauf, das Teufelchen ignoriert zu haben, startete sie den heutigen Tag katerfrei mit einem generalstabsmäßigen Wohnungsputz, gefolgt von einer gründlichen Körperpflege. Die Kassierin im Lebensmittelladen war so freundlich wie seit Langem nicht mehr, was vermutlich auch an Lisas Ausstrahlung und dem dezent aufgetragenen Make-up lag. Beim Hausputz hatte sie das verloren geglaubte Schminkset gefunden und ihr blasses Gesicht spontan mit etwas Farbe belebt. Zum ersten Mal seit … Sie konnte sich nicht erinnern.

Sie gönnt sich die erste richtige Mahlzeit seit Tagen. Das Frühstück mit Käse, Brot, echter Butter und selbstgemachter Brombeerkonfitüre aus besseren Zeiten schmeckt herrlich. Der Kaffeeduft weckt Erinnerungen an lebenswerte Tage und endgültig die noch dösenden Lebensgeister. Das Drei-Minuten-Ei sorgt definitiv dafür, dass es sich wie ein Fünf-Sterne-Brunch anfühlt. Ihr Appetit überrascht sie. Noch mehr, dass der Magen nicht subito rebelliert. Natürlich bist du längst nicht über den Berg, ermahnt sie sich. Trotzdem. Im Moment hat der Schutzengel in ihr Überwasser. Diesen Moment gilt es zu nutzen, umso mehr sie nicht weiß, wie weit dessen Schwimmkünste bei der nächsten großen Welle reichen werden.

Aber was tun? Quo vadis, Lisa? Hirnsturmmäßig beginnt sie zu notieren: Wer ist dieser Peter? Warum macht sich so jemand die Mühe, ihre Adresse herauszufinden und erst noch persönlich vorbeizukommen? Den Schal hätte er ja locker per Post schicken oder in den Briefkasten legen können. Und weshalb hat er das billige Teil nicht einfach auf dem Stuhl liegen lassen? Sein Kompliment wirkte echt. Woher willst du das wissen? Du warst ja völlig von der Rolle. Vielleicht ist er nur ein guter Schauspieler oder ein einsamer Spanner, der eine günstige Gelegenheit … Come on, Lisa, was bildest du dir ein? Wer sucht schon freiwillig die Nähe einer alternden, verbitterten Frau, die langsam, aber sicher ihre Selbstachtung verliert? Okay. Sähe er mich heute, wäre das vielleicht etwas anders. Aber so war es nicht. Zudem hatte er überhaupt nichts Spannerhaftes. Seit wann weißt du, woran man Spanner erkennt? Und überhaupt …

Mittlerweile dekorieren einige Papierknäuel den Küchentisch. Ihr Blick schweift von der blendend sauberen Chromstahl-Küchenkombination zum farbigen Fundgegenstand an der Garderobe. Dort verharren ihre Augen, ohne zu blinzeln, bis sie feucht werden. Was willst du wirklich, Lisa?

Einen Waldspaziergang und eine Kanne Koffein später heftet sie ihr Fazit mit einem Magnet an den Kühlschrank.

Würde! Kämpfen! Wim Peter? TRY OR DIE!

Schweizer Wasser

Подняться наверх