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Mai (5)

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Endlich. Im fünften Anlauf erbarmt er sich mit einem jammernden Wehklagen seines Meisters. Wobei nicht klar ist, wer hier die Macht über wen hat. In letzter Zeit musste Wim mehr als einmal mit ein paar kräftigen Schlägen auf den Anlasser die Hierarchie wiederherstellen. Mit jedem Jahr wird seine uralte Occasion widerspenstiger und eigensinniger. Fast schon beängstigende Parallelen zu den Menschen, geht es ihm durch den Kopf. Wobei er bei ihnen natürlich nie Gewalt anwenden würde. Nicht einmal verbal. Auf einen neuen fahrbaren Untersatz verzichtet er nicht aus nostalgischen Gründen. Ihm fehlen schlicht die flüssigen Mittel. Das war nicht immer so. Bis vor drei Jahren hatte er als regionaler Verkaufsleiter ein regelmäßiges, ganz akzeptables Einkommen inklusive Firmenwagen. Der Titel suggerierte allerdings mehr Verantwortung, als der Job wirklich verlangte. Von ihm aus hätte auf der Visitenkarte einfach »Verkauf« stehen können. Parallel zum Ausbau des Onlinehandels wurden Stellen abgebaut. Für die wenigen verbliebenen Jobs im Verkaufsaußendienst kamen jüngere, dynamischere und billigere Kolleginnen und Kollegen zum Handkuss. Diesen Entscheid konnte Wim sogar nachvollziehen. Die paar Menschen, die ihn etwas besser kannten, staunten immer, dass ausgerechnet er im Verkauf gelandet war. Dem in vielen Köpfen noch vorhandenen typischen Verkäuferbild hatte er nie entsprochen. Seine introvertierten, leicht depressiven Züge erinnern ihn an seinen Vater. Bestimmt nicht an seine holländische Mutter, die meist nach dem Motto kommunizierte: »Woher soll ich wissen, was ich denke, bevor ich höre, was ich sage?« Noch so gerne hätte er einen Teil ihres heiteren Gemüts geerbt. So wie sie im Moment leben, Emotionen und Gefühle zeigen konnte, ohne sich zu fragen, was andere darüber dachten. Gegensätze ziehen sich an, sagt man. Trotzdem hatte Wim nie verstanden, weshalb seine Eltern überhaupt zueinandergefunden hatten. Noch weniger, wieso sie heirateten. Und am allerwenigsten, dass sie sich nicht scheiden ließen. Nachdem er mit 20 definitiv von zu Hause ausgezogen war, hätten doch beide einen Neuanfang wagen können. Stattdessen lebten sie getrennt in der gleichen Wohnung. So eine Art WG mit Trauschein. Er hat sie nie danach gefragt. Wie auch. Bei einem, maximal zwei Besuchen im Jahr spricht man nicht über so persönliche Dinge. Leider. Und jetzt ist es seit sechs Monaten zu spät. Innerhalb weniger Wochen starben beide. Ein Hinweis, dass sie sich trotzdem gebraucht hatten. Immerhin konnten sie auf die Art und Weise gehen, wie es sich viele Menschen wünschen. Einschlafen und nicht mehr aufwachen. Die spärlichen Erinnerungen an seine Eltern begleiten ihn seither oft auf den Fahrten zu seinen Kunden. Wieso interessieren wir uns erst dann für andere, wenn es zu spät ist? Und Eltern sind doch nicht einfach andere. Bin ich wirklich so oberflächlich und empathielos? Liegt es daran, dass ich nie nur in die Nähe davon kam, eine eigene Familie zu gründen?

Ein lautes Hupkonzert reißt ihn abrupt aus seinem Tagtraum. Keine Ahnung, wie lange die Ampel schon grün leuchtet. Bestimmt keine zwei Sekunden. Die Gesellschaft wird ja nicht geduldiger. Trotzdem will er natürlich kein Verkehrshindernis sein, gibt Vollgas und lässt die Kupplung etwas zu schnell los. Sein bescheidenes vierrädriges Blechhaus macht einen känguruähnlichen Sprung, röchelt ein letztes Mal und bleibt in seiner ganzen Pracht mitten auf der Kreuzung stehen. Zwei misslungene Startversuche später ist der Fall klar. Er muss seinem unzuverlässigen Begleiter den Meister zeigen. Schon wieder. Du hast es so gewollt. Denk bloß nicht, ich könnte Mitleid für dich empfinden! Auch auf dein Alter kann ich keine Rücksicht nehmen.

Wäre alles nicht passiert, wenn du deine Gedanken bei der Straße gehabt hättest. Und du weißt ganz genau, dass meine Kupplung sehr sensibel ist. Jammere nicht und sorg dafür, dass wir hier fortkommen. Die Huperei ist unerträglich!

Für dieses Szenario hat Wim bereits eine Routine entwickelt. Wenn auch der Ort noch nie so exponiert war. Trotz Déjà-vu-Erlebnis sind Schweißperlen und Schamröte unvermeidbar, als er wie ferngesteuert aussteigt, seinen Anlasser-Knüppel aus dem Kofferraum holt, die Motorhaube öffnet, dreimal gezielt zuschlägt, den Blechdeckel schließt, das Holzwerkzeug wieder verstaut, einsteigt, kuppelt, den Zündschlüssel dreht und davonfährt. Was, wenn jemand dieses Schauspiel, das es durchaus mit einem Sketch von Mr. Bean aufnehmen könnte, mit der Handykamera gefilmt hat und in den sozialen Medien verbreitet? Who cares! Tausende Klicks wären mir sicher. Wim Peter – YouTube-Star! Ein kleines, kaum sichtbares Schmunzeln kann er sich nicht verkneifen, während er vor einem Lebensmittelladen parkt. Dem nächsten potenziellen Kunden auf seiner Akquisitionsliste.

»Nein, danke. Wir brauchen nichts und sind zufrieden mit unseren Lieferanten«, lautet die Standardreaktion der Ladenbesitzerin.

»Freut mich, dass Sie wunschlos glücklich sind. Wie breit ist Ihr Gewürzsortiment? Führen Sie zum Beispiel Mischungen für die indische und asiatische Küche?«, versucht er, die Aufmerksamkeit auf eine Angebotslücke zu richten.

»Da haben wir in der Tat gar keine Auswahl. Aber solange die Konsumentinnen und Konsumenten uns nur berücksichtigen, wenn sie irgendetwas im Einkaufszentrum vergessen haben, kann ich mein Sortiment nicht beliebig vergrößern.«

»Auch nicht mit exotischen Gewürzmischungen in Bio-Qualität?«, startet Wim eine letzte Offensive.

»Tut mir leid. Obwohl ich durchaus für Bio bin, ist mir das im Moment nicht möglich. Vielleicht sieht es nach dem Ladenumbau in sechs Monaten besser aus. Wir haben uns entschieden, trotz ungewisser Zukunft die Flucht nach vorne zu ergreifen.«

Um eine Visitenkarte und ein Muster Ras el Hanout – eine marokkanische Mischung aus 25 Gewürzen – ärmer, notiert er den nächsten Nachfasstermin auf der Liste, bevor er zweimal liebevoll über das Lenkrad streichelt und ein Stoßgebet zum gefleckten Autohimmel sendet. Die Zuneigung wirkt. Der Motor schnurrt auf Anhieb, ohne Murren. Haben Motoren auch Gefühle oder gar eine Seele?

Nach drei weiteren Kundenbesuchen und einem kleinen Verkaufserfolg entscheidet er sich für den Feierabend. Weder Restaurants noch Tante-Emma-Läden wollen nach 17 Uhr gestört werden. Die Tätigkeit als freischaffender Gewürzvertreter ist eine Notlösung. Nach 24 Monaten Arbeitslosigkeit, über 200 Bewerbungen und zwei Praktika bei der Arbeitsvermittlung hatte er kaum mehr eine Wahl. Auf jeden Fall sah er keine andere Möglichkeit als die Selbstständigkeit. Sozialhilfe zu beziehen, war und ist tabu, solange er es irgendwie schafft, jeden Morgen aufzustehen. Egal wie schwer es ihm manchmal fällt. Der Erfolg ist bisher äußerst bescheiden, seine Ersparnisse weiterhin im Sinkflug, die Rücklagen für seine Fixkosten mittlerweile ausgeschöpft. Der letzte Schritt war der Umzug in die kleine Roulotte. Der Wohnwagen aus den Siebzigerjahren ist das einzige, aber sehr willkommene Erbstück seiner Eltern. Sein mobiles Zuhause steht seit einigen Monaten auf dem Campingplatz am Rand von Thun. Seiner Lieblingsstadt. Groß genug, um anonym zu bleiben. Klein genug, um die Übersicht zu behalten. Weit genug weg von Grindelwald, wo er drei schwierige Jahre seiner Pubertät verbracht hat. Das war ungefähr der Rhythmus, in dem sein Vater eine neue Stelle suchen musste, was jedes Mal zur Folge hatte, dass sie umzogen und er sich in einer neuen Umgebung zurechtfinden musste. Fachlich war sein Vater ein Top-Allround-Mechaniker. Problematisch wurde es meist dann, wenn Teamarbeit oder Kundenkontakt gefragt war. In Grindelwald reparierte er Skilifte, Gondeln und Pistenfahrzeuge.

Seine Erinnerungen an diese Periode seiner Kindheit sind wie der Blick durch ein Fenster mit transparenten weißen Vorhängen, die schon länger darauf warten, gewaschen zu werden. Die Fenster und die Vorhänge. Ein trüber, unspektakulärer, unscharfer Schleier. Vielleicht, weil schlichtweg die Zeit für ihn zu kurz war, richtige Freunde zu finden. Vielleicht wegen der Teenagerzeit, die für viele junge Menschen nicht so unbeschwert ist, wie die Erwachsenen oft meinen, obschon auch sie einmal jung waren. Umso mehr galt das für Jungs wie Wim, die problemlos übersehen und erst recht überhört wurden. Die kaum jemand vermisst hatte. Bei denen es keinen Unterschied machte, ob sie anwesend oder abwesend waren.

Und heute? In seiner Rolle als Hausierer (das gefällt ihm besser als »Verkäufer«) wird er wahrgenommen. Nicht weil er viel spricht, sondern weil er besser zuhören kann als viele seiner Berufskollegen. Ein Feedback, das er in all den Jahren ab und zu von Kundinnen und Kunden erhalten hat. Mit ein Grund, weshalb er zwar mehrmals den Arbeitgeber, nie aber die Funktion als Einzelkämpfer im Außendienst wechselte. Mehr noch als die Gespräche liebt er die Einsamkeit und Ruhe zwischen den Kundenbesuchen. Sein privates Umfeld ist mittlerweile so bescheiden wie seine sechs Quadratmeter Wohnfläche. Mit einem Arbeitskollegen hatte er eine Zeit lang alle zwei Wochen Schach gespielt, bis dieser eine Familie gründete. Daneben unterhält er Brieffreundschaften zu einer Skandinavierin und einem Norddeutschen, die er während einer organisierten Wanderwoche entlang der irischen Küste kennengelernt hatte. Ja, Brieffreundschaften, auch wenn das im digitalen Zeitalter komisch klingt. Damit hat es sich mit seinen privaten sozialen Kontakten. Alles in allem ziemlich triste.

So, Wim! Jetzt kneif den Hintern zusammen und wag doch mal was ganz Neues. Bring etwas Action in dein Leben! Mit 56 hast du nicht mehr alle Zeit der Welt! Lad doch mal deine skandinavische Brieffreundin ein. Trete endlich einem Verein bei. Pack deine Habseligkeiten, steig in den nächsten Zug und lass dich überraschen, wo er dich hinfährt. Schreib ein Buch, beginn zu malen. Egal was!

Ich weiß, ich weiß. Aber in meiner momentanen Lage muss ich froh sein, wenn ich nicht verhungere. Sobald sich die Situation etwas beruhigt, schreibe ich meine Bucket List.

Das versprichst du schon seit gefühlten 20 Jahren. Mindestens! Deine Ja-aber-Antwort ist die billigste und abgedroschenste Ausrede. Wie lange willst du dich damit noch selbst betrügen? Übrigens sind Schreiben und Malen gratis. Genauso wie Träumen.

Du wiederholst dich!

Du etwa nicht?

Genervt über sein Selbstgespräch, das sich schon ewig im Kreis dreht, öffnet er sein Feierabendbier und setzt sich mit einem leeren Notizblock auf den Plastikstuhl vor seinem fahrbaren Minipalast. Wim ist nicht gläubig. Während der Wintermonate fühlte er sich dennoch oft als Eremit. Offiziell ist der Campingplatz in der kälteren Jahreszeit geschlossen. Der Betreiber macht für ihn eine einmalige Ausnahme. Aus Nächstenliebe, Mitleid oder wegen Wims Bescheidenheit? Egal. Hauptsache, er muss sein Gefährt nicht auf einer trostlosen Brache parkieren. Hier genießt er eine Fünf-Sterne-Aussicht. In seinem Rücken verabschiedet sich die Sonne. Angenehme 22 Grad. Um die Tageszeit eine Woche vor Pfingsten längst keine Seltenheit mehr. Vor ihm der See, wie eine straff gezogene Frischhaltefolie. Nach zwei, drei Minuten glätten sich auch seine Wogen. Dann greift er zum Bleistift.

Schweizer Wasser

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