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Mai (3)

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Mit First Cliff Walk, First Flieger und Glider bekommen auch bewegungsfaule Gäste ihr Felserlebnis oder den Adrenalinkick. Unermüdlich wird mit der Flucht nach vorne an der Attraktivität der Tourismusdestination Grindelwald gezimmert. Über allem steht die neue V-Bahn. Kapazität 2.200 Personen pro Stunde. 47 Minuten schneller auf dem Jungfraujoch als bisher. Superlative, mit denen das aktuelle Projekt nicht punkten kann. Von dem großen Andrang sind deshalb sogar die enthusiastischen Organisatoren überrascht. Vielleicht liegt es an dem erotischen Klang des Projektnamens, dass neben der regionalen Polit- und Wirtschaftsprominenz überregionale Medien, Vertreterinnen von »Schweiz Tourismus« und neugierige Mitbewerber aus Gstaad, St. Moritz und Zermatt angereist sind. Sie alle belegen wesentlich mehr Plätze, als in den vorderen Reihen für sie reserviert wurden. Von den Einheimischen konnten längst nicht alle einen Sitzplatz ergattern. Der Rest steht ringsum, Schulter an Schulter, wie an herrlichen Wintertagen in der Gondel. Viele halten sich schon über eine Stunde im Congress Center auf. Im Nebenraum konnten die Baupläne studiert und ein dreidimensionales Modell über das Zukunftsprojekt bestaunt werden. Dazu wurde bereits vor der offiziellen Infoveranstaltung ein Apéro ausgeschenkt. Die Taktik des Befürworter-Komitees scheint aufzugehen. Trotz Sardinenbüchsen-Feeling ist die Stimmung fröhlich, machen Wortspiele mit dem Projektnamen die Runde. Nicht wenige davon nahe an oder knapp unter der Gürtellinie. Der Infoabend mit anschließender öffentlicher Pressekonferenz und Fragerunde für die Bevölkerung soll ein Meilenstein sein. Die Abstimmung im Spätherbst in die richtigen Bahnen lenken. Das letzte Wort hat das Volk. Es muss dem Kredit für den Ausbau der Zufahrtsstraße und der damit verbundenen Lockerung der Sperre für den Privatverkehr zustimmen. Vorgesehen ist ebenfalls, dass sich die Gemeinde in bescheidenem Rahmen am Projekt beteiligt. Der Zeitpunkt der Veranstaltung wurde bewusst früh gewählt. Das Volksfest Ende März mit den alpinen Skimeisterschaften und der Weltmeisterschaft für Frau und Mann auf dem hölzernen Veloschlitten auf zwei Kufen sind noch in bester Erinnerung. Von dieser positiven Stimmung im Dorf will man profitieren. Mögliche Gegner sollen früh überzeugt werden und verstummen. Auf keinen Fall dürfen sie Aufwind spüren, sondern müssen erkennen, dass sie in der Minderheit sind, Widerstand zwecklos ist.

»So! Dann lasst uns mal die Bude rocken!« High Five und los geht’s! Angeführt von Luke Mischler betreten die drei Honeymoon-Initianten die Bühne. Neben Luke ist das Heinz Grob, Eigentümer eines für Grindelwald-Verhältnisse stattlichen Landwirtschaftsbetriebs in der Talmulde, Präsident der Bergschaft Bussalp und Besitzer des gleichnamigen Bergrestaurants. Beim Zukunftsprojekt spielt er die zentrale Rolle. Gleichzeitig ist er im Gemeinderat für das Ressort Tiefbau, Wasser und Entsorgung verantwortlich. Begleitet werden die beiden Herren von der Finanzverwalterin der Gemeinde, Claudia Spiess.

Ein kurzer Trailer informiert und bewirbt in 60 Sekunden das Honeymoon-Projekt. Aus der urchigen Bergbeiz wird »Honeymoon-Alp«. Der aktuelle Teil wird sanft renoviert. Daneben entsteht ein imposanter Anbau. Außen heimeliger Chalet-Stil. Innen ein Wellness-Tempel, mit allem Schnickschnack ausgestattet, wie der Film verrät. Sechs romantische Suiten mit Himmelwasserbett und Whirlpool. Weitere exklusive Zimmer für 40 Gäste. Ein luxuriöser Spa-Bereich, der keine Wünsche offen lässt. Feinschmeckerrestaurant als Alternative zur Nullachtfünfzehn-Bergbeiz-Verpflegung. Romantische Spezialangebote für Frischvermählte oder Hals-über-Kopf-Verliebte. Zum Beispiel in der benachbarten Alpkäserei unter Anleitung selbstständig herz- oder kleeblattförmige Minikäse herstellen.

Erst jetzt greift Luke zum Mikrofon. Betont locker, schwarze Jeans, weißes Hemd mit bis zu den Ellbogen hochgekrempelten Ärmeln. Es bildet den perfekten Kontrast zum von der Frühlingssonne braun gebrannten Gesicht. Vor Menschen zu sprechen, bereitet ihm wenig Mühe. Seine gewinnende Art ist ihm bewusst. Wobei heute, bei so viel Publikum in einer so wichtigen Angelegenheit, seine Handflächen unüblich feucht sind. Der Hemdfarbe sei Dank, ist seine Achselnässe nicht sichtbar. Die ersten Sätze hat er auswendig gelernt. Das zahlt sich jetzt aus. Nach dem gelungenen, sicheren Einstieg ist seine Nervosität wie weggeblasen, er in seinem Element. Mit wenigen kurzen, verständlichen Sätzen beschreibt er den Segen, den dieses Projekt Grindelwald und der ganzen Region bringen wird.

»›Honeymoon‹ ist in seiner Art einzigartig. Ein echter USP, also ein sogenanntes Alleinstellungsmerkmal«, ergänzt er nach einem kurzen Blick auf seinen Spickzettel. »Mit ›Honeymoon-Alp‹, meine Damen und Herren, liebe Grindelwalderinnen, liebe Grindelwalder« – das L mit seinem Oberländer Singsang-Dialekt noch markanter betonend als sonst – »diversifizieren wir unseren Tourismus weiter. Die Winter werden kürzer, die Sommer länger. Schlittel- und Trottinettplausch in Ehren, aber das genügt längst nicht mehr. Wir brauchen zahlungskräftige Gäste, die mehrere Tage bleiben. »›Honeymoon-Alp‹ ist ein weiterer Meilenstein im Tourismus von Morgen.« Sehr gut, Junge. Sprich weiter, als ob das Projekt schon realisiert wäre. Das wirkt suggestiv überzeugend, pusht er sich selbst während einer Kunstpause, die seine Worte wirken lassen soll. »Profitieren wird die ganze Region. Nicht nur während der Bauphase. Wellness-Tempel gibt es viele. Ein Paradies wie ›Honeymoon-Alp‹ existiert so nicht.« Sehr schön, Luke, den Namen möglichst oft erwähnen. »Schon gar nicht auf einer Alp auf 1.800 Meter über Meer. Wer seine Flitterwochen auf ›Honeymoon-Alp‹ erlebt, wird wiederkommen, um wunderbare Erinnerungen aufzufrischen.« Oder seinen nächsten Lebensabschnittspartner einzuweihen, beendet er in seiner Euphorie beinahe den Satz, wie er es beim Üben seiner Rede häufig getan hatte. »Feiern und Flittern am gleichen Ort. Rauschende Feste, romantische Nächte, verbunden mit dem atemberaubenden Ausblick auf die drei Natur-Trauzeugen Eiger, Mönch und Jungfrau. Grindelwald statt Malediven. Wir sind überzeugt, dass Hochzeitspartys auf ›Honeymoon-Alp‹ auch viele der Hochzeitsgäste für einen Aufenthalt animieren, um neue Liebe auszuleben, alte wach zu küssen oder sich ganz einfach verwöhnen zu lassen. Und wissen Sie was? Zwei Partnervermittlungsinstitute haben bereits ihr Interesse an einer Zusammenarbeit angemeldet. Passt also auf, wo ihr euch in Zukunft registriert«, ergänzt er schalkhaft und genießt das Gelächter der Menge. »Ihr seht, unserer Kreativabteilung werden die Ideen nicht ausgehen. Wir wollen den Bogen aber nicht überspannen und unsere Pläne Schritt für Schritt realisieren. Keine finanziellen Risiken eingehen. Der Aufmarsch hier und heute beweist aber, dass unser Projekt ernst genommen wird. Deshalb lasst uns gemeinsam den ersten Schritt in eine rosarote Zukunft tun, so rosarot wie der Zuckerguss auf der Hochzeitstorte. Lasst uns die letzte Hürde nehmen. Meine Initianten und ich zählen auf euer Ja!«

Nach nur 20 Minuten beginnt die Fragerunde der Medienschar. Viele Fragen beantwortet bereits die von der Finanzvorsteherin sorgfältig zusammengestellte Pressemappe. Die wenigen kritischen Bedenken werden souverän entkräftet. Zum Beispiel, ob man denn nicht befürchte, bisherige Stammkunden abzuschrecken, wenn neben der Bergbeiz ein Schickimicki-Tempel entstehe.

»Ich würde eher von einem hochstehenden Qualitätsangebot als von ›Schickimicki-Tempel‹ reden. Abschrecken wollen und werden wir niemanden. Wie bereits erwähnt, heißt das Motto ›diversifizieren‹. Also die heutigen Tagesgäste behalten und eine zusätzliche Zielgruppe gewinnen. Mittelfristig sind wir darauf angewiesen, die Aufenthaltsdauer und damit den durchschnittlichen Umsatz pro Gast zu steigern. Genau dazu trägt ›Honeymoon-Alp‹ bei. Außerdem wird das aktuelle Restaurant nur leicht modernisiert, inklusive der wunderbaren Terrasse. Dort sind alle willkommen. Und vergessen wir nicht: Heimelige Gaststuben gibt es in unserer schönen Umgebung noch einige«, beantwortet Luke die Frage. Mit seiner Hansi-Hinterseer-Ausstrahlung hat er viele Sympathien auf seiner Seite. Erstaunlicherweise nicht nur von der weiblichen Publikumshälfte. Da verzeiht oder überhört man auch nicht lupenreine Sätze wie »dort sind alle willkommen«. Aha. Und im geplanten Neubau?

»Wir müssen mit den Bürgerinnen und Bürgern arbeiten, die bereit sind, sich im Nebenamt für Grindelwald zu engagieren. Wie Sie alle wissen, stehen bei uns die Freiwilligen dafür nicht Schlange. Zudem treten Kommissionsmitglieder falls nötig in den Ausstand. An der internen Abstimmung, welches Projekt wir umsetzen und Ihnen heute präsentieren wollen, hat sich Heinz Grob nicht beteiligt«, verteidigt für einmal Finanzverwalterin Claudia Spiess die Frage nach möglichen Interessenskonflikten.

Mit einem knappen, kaum wahrnehmbaren Nicken bedanken sich Luke und Heinz bei ihrer Mitinitiantin für die schlagfertige Antwort. Bisher verläuft der Abend exakt nach Drehbuch.

»Wenn Sie, liebe Medienleute und Gäste, keine Fragen mehr haben, geben wir jetzt gerne noch der Bevölkerung das Wort.« Langsam lässt er seinen Blick von links nach rechts über die hintere Saalhälfte schweifen. »Vor so vielen Menschen eine Frage in ein Mikrofon zu formulieren, braucht Mut. Bitte keine unnötige Scheu. Der beste Zeitpunkt, Fragezeichen aufzulösen, ist jetzt.« Nach weiteren langen Sekunden fasst sich einer ein Herz.

»Wer hat den Werbespot und das 3-D-Modell finanziert? Beides gefällt mir gut. Aber das hat doch bestimmt eine Stange Geld gekostet?«

»Gut, dass Sie das fragen. Vielen Dank. Trailer und Animation wurden von einem Gönner finanziert, der unser Projekt bestechend findet. Er oder sie möchte anonym bleiben. Das respektieren wir natürlich. Weitere Fragen? … wenn das nicht der Fall ist …«

In der zweithintersten Reihe schießt zielstrebig eine Hand in die Höhe.

»Ja?«

»Von Herrn Grob möchte ich gerne Folgendes wissen: Der Energiebedarf auf der Bussalp wird mit diesem Turteltaubenprojekt bestimmt viel größer sein als jetzt mit der Beiz. Wie werden Sie diesen decken?«

Reden in der Öffentlichkeit ist nicht sein Ding. Bei den Kommissionssitzungen geht das. Aber vor einer solchen Menschenmenge, unter ihnen sogar Unbekannte, ist seine Nervosität ungleich höher. Mit aufgesetztem Lächeln greift er zum Mikrofon … und prompt ist in den ersten drei Sekunden nur ein unangenehmer Pfeifton hörbar. »Ich spreche häufiger zu meinen Viechern im Stall als vor so vielen Leuten. Und die verstehen mich ohne Stimmverstärker«, versucht Heinz, die Panne mit Witz zu überspielen. Und tatsächlich sind einige Lacher zu hören.

»Das glaube ich gerne. Ihren Tieren können Sie auch erzählen, was Sie wollen«, kontert seine Herausforderin im Publikum.

Die Bemerkung ignorierend nimmt er einen Schluck Wasser, tippt prüfend mit dem Zeigfinger auf das Mikrofon, auch um Zeit zu gewinnen und den Puls zu beruhigen, bevor er seine Antwort formuliert. »Das Thema Energiebedarf haben wir von Experten abklären lassen. Wir werden hauptsächlich auf erneuerbare Energie setzen. Insbesondere Fotovoltaik. Heutige Solarpanels sind extrem effizient. Wir gehen davon aus, dass der Großteil des Strombedarfs damit abgedeckt werden kann. Steht übrigens so im Projektbeschrieb, sofern man sich die Zeit nimmt, genau zu lesen. Für den kleinen Rest sollte die vorhandene Energiezufuhr reichen. Und wer weiß, vielleicht können wir eines Tages die Windenergie nutzen. Sie sehen, wir sind bestrebt, in ökologische Energieversorgung zu investieren. Hier sucht das Projekt ebenfalls seinesgleichen.« Für einen, der nicht gerne vor Publikum redet, sehr souverän, meint er, aus Lukes und Claudias motivierendem Kopfnicken herauszulesen.

»Im Leitbild der Gemeinde heißt es: ›Der Tourismus steht im Einklang mit Natur, Umwelt und Landschaft.‹ Wie schaffen Sie diesen Spagat, wenn plötzlich Privatverkehr zugelassen ist? Abgesehen davon ist das Ganze doch reine Wasserverschwendung. In den letzten zehn Jahren hatten wir in der Schweiz mindestens vier zu trockene Sommer. Von Wasserknappheit können auch Alpgebiete betroffen sein.«

Wegen der anfänglichen Anspannung und weil er seine Lesebrille schon länger durch ein Modell mit Gleitsicht-Gläsern ersetzen sollte, erkennt er erst jetzt, wer ihn mit diesen Fragen herausfordert. Dass ausgerechnet Lisa ihn damit schikaniert, überrascht nicht, ärgert ihn trotzdem. Mit seiner demonstrativen Gelassenheit kann die leicht gereizte Stimme nicht ganz mithalten.

»Laut Ihrer Statistik heißt das, sechs von den letzten zehn Sommern waren regenreich genug. Teilweise hatten wir sogar zu viel Niederschlag. Der Lauf der Natur ist nun mal nicht vorhersehbar. Zum Glück. Denn sonst meinen die Menschen plötzlich, sie müssten sich auch ins Klima einmischen, bestimmen wollen, wann die Sonne scheint und wann es regnet. Wo kämen wir da hin?« Für dieses Votum erhält er spontanen Szenenapplaus. »Zum Privatverkehr: Vorgesehen ist nur der Zubringer für Gäste, die mehrere Tage auf ›Honeymoon-Alp‹ verbringen.«

»Und für die paar Nasen wird die Straße verbreitert? Man muss schon ziemlich naiv sein, diese Salamitaktik nicht zu durchschauen«, lässt Lisa nicht locker.

»Ich sage immer, wer lesen kann, ist im Vorteil. In der Ausschreibung steht schwarz auf weiß, wer Zufahrt haben wird. Auswärtige werden zudem dafür bezahlen müssen«, kontert er einigermaßen gekonnt, greift in die Hosentasche und wischt sich mit dem Nastuch über die Stirn.

Lisa kennt kein Erbarmen. »Und was ist mit dem Wörtchen ›vorerst‹ in der Ausschreibung? Lassen Sie mich raten …«

»Gerne können Sie das beim anschließenden Umtrunk noch bilateral diskutieren, wenn es wichtig ist für Sie«, erhebt sich Luke, während seine Hand auf Heinz’ Schulter ihn sanft auffordert, sich zu setzen.

»Ja, liebe Gäste. Sie haben richtig gehört. Der Apéro geht gleich in die zweite Runde. Bevor der Weißwein warm wird, setzen wir hier einen Schlusspunkt. Herzlichen Dank nochmals für Ihr Interesse. Schön, wenn Sie noch mit uns auf ›Honeymoon-Alp‹ anstoßen!«

Noch so gerne würde Lisa sich auf Kosten der Initianten ein paar Gläser gönnen. Den Ärger ertränken. Aber morgen ist sie für das Frühstücksbuffet eingeteilt. Einer ihrer Aushilfsjobs. Ausgerechnet im Hotel Kirche, dessen Direktor ein Busenfreund von Heinz Grob ist.

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