Читать книгу Schweizer Wasser - Bernhard Schmutz - Страница 7
Mai (4)
ОглавлениеWie masochistisch muss man sein, sich so was anzutun? Oder ist es reine Verzweiflung? Voyeurismus, weil man sich so schön vorstellen kann, wie es wäre, wenn sich diese Lackaffen bis auf die Knochen blamieren würden, wenn man hemmungslos Schadenfreude empfinden könnte? Natürlich erfüllen sich solche Szenarien nur im Traum. Okay, dann träum weiter. Aber das ist nur eines von Lisas Problemen. Seit längerer Zeit schläft sie kaum. Und wenn, dann unruhig. Es ist lange her, dass sie mehr als drei Stunden am Stück ins Reich der Träume entfliehen konnte. Und als wäre das nicht genug, waren nicht wenige davon Albträume. Vielleicht ist ihr Alkoholkonsum schuld. Bestimmt nicht nur, ist sie überzeugt.
In ungesunder Haltung, mehr liegend als sitzend auf dem Kunstledersofa aus dem Brockenhaus, die nackten Füße auf dem alten Salontischchen, in der linken Hand ein Glas billigen Rioja, rechts die TV-Fernbedienung, lässt sie ihrer Opferrolle freien Lauf. Körperlich und mental fühlt sie sich, als hätte sie einen 16-Stunden-Tag hinter sich. In Tat und Wahrheit waren es nur sechs. Nach dem Einsatz beim Frühstück durfte sie noch drei Stunden Zimmer putzen. Aus Sicht der Gouvernante war es ein Dürfen. Aus ihrer ein Müssen. Aber sie braucht jeden Cent, um über die Runden zu kommen. Und da sind drei Stunden zum Mindestlohn eben wichtig. Anstrengender als die körperliche Arbeit war allerdings die Angst davor, Heinz Grob zu begegnen, der im Hotel Kirche ein und aus geht, als wäre es sein Betrieb. Wann immer jemand den Frühstücksraum oder einen Korridor betrat, schnellte ihr Puls in die Höhe. Nur für ein paar Sekunden. Trotzdem so ermüdend wie ein Intervalltraining. Heute ist sie ihm nicht begegnet. Wobei das früher oder später nicht zu vermeiden sein würde. Wahrscheinlich eher früher. Schließlich ist sie auf Abruf auch direkt für Heinz Grob tätig.
Die wenigen kritischen Fragen nach der Veranstaltung haben im Beitrag des Regionalsenders keinen Platz. Vielmehr wird der große Aufmarsch betont und dass sogar Tourismusorte mit noch größerer internationaler Ausstrahlung sich plötzlich für Grindelwald interessieren. Journalistisch wenig ausgewogen. Die Abstimmung scheint nur noch Formsache zu sein. Ein voller Erfolg für Luke und seine Crew, muss Lisa neidlos eingestehen. Darauf hebt sie sarkastisch ihr Glas und trinkt einen großen Schluck.
Wie nonchalant und herablassend ihre ernsthaften Fragen beantwortet wurden, macht sie immer noch wütend. Ihr einfach das Wort abschneiden und die Fragerunde beenden, der Gipfel der Frechheit. Und das Verhalten der übrigen Einheimischen? Schlicht trostlos. Kein Schwein wagte, etwas zu sagen, ihr Hinterfragen zu unterstützen. Stattdessen musste sie mitleidige, genervte Seitenblicke aushalten. In ihrem Innern brodelt es wie in einem Vulkan, kurz bevor er mit voller Wucht ausbricht. Plötzlich macht sich auch noch Angst breit. Was, wenn sie diesmal zu weit gegangen war, indem sie versucht hatte, Heinz Grob in der Öffentlichkeit anzugreifen? Wobei, es waren ja nur zwei, maximal drei Fragen gewesen. Wird er ihr das Leben noch schwerer machen? Sie endgültig fallen lassen? Nach außen wirkt er umgänglich, hilfsbereit, gar väterlich. Tatsächlich nutzt er ihre Abhängigkeit schamlos aus.
Bis vor zwei Jahren waren Lisa und ihr Partner 15 Jahre lang Pächter auf dem Hof von Heinz Grob gewesen. Ein schöner Betrieb im Talboden zwischen der Talstation Pfingstegg und Landi. Die ersten zehn Jahre ließ man sie mehr oder weniger in Ruhe. Dann wurde im großen Stil umgebaut. Für Lisa und ihren Partner völlig überdimensioniert. Zu viele Tiere und zu wenig Land, um nur annähernd für genügend eigenes Futter zu sorgen. Statt sich, wie von ihnen vorgeschlagen, Richtung Bio zu entwickeln, wurde der entgegengesetzte Weg gewählt. Widerstand war zwecklos. Vogel friss oder stirb, die unmissverständliche Taktik des Hofbesitzers.
»Wir sind kein Freilichtmuseum, das ›Ueli der Knecht‹-oder ›Geissenpeter‹-Zeiten nachtrauert. Nur wer rentabel wirtschaftet, kann mittelfristig überleben«, so seine Lieblingsargumente gegen ihren Einwand, dass Größe allein doch keine Strategie sei und Erfolg sich nicht nur monetär messen lasse. Drei Jahre hatte ihr Partner die Kraft gehabt, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Dann starb er viel zu jung an einem Herzinfarkt. Für Lisa besteht kein Zweifel daran, wer oder was dafür verantwortlich ist. Ein paar Monate nach seinem Tod musste sie kapitulieren. Den Betrieb mit oft wechselnden, billigen Aushilfen zu führen, war nicht mehr möglich. Dazu kam, dass sie bei einzelnen Tieren erste Symptome der Blauzungenkrankheit nicht sofort erkannt hatte. Obwohl die Krankheit für Menschen ungefährlich und die Übertragung auf andere Tiere äußerst selten ist, spielte dieses Ereignis in Heinz Grobs Karten. Seither führt er den Betrieb mit einer fest angestellten, gut bezahlten Fachkraft wieder selbst.
Einzig das Angebot »Schlafen im Stroh« darf sie noch betreuen. Eine ihrer Ideen in all den Jahren, die ausnahmsweise vom Besitzer nicht abgeschmettert wurde. Vermutlich, weil der Erfolg sich rasch einstellte und nach wie vor anhält. Für sie erstaunlich, weil mit dem Umbau ein Teil des heimeligen Charmes des Bauernhofs verloren ging. Insbesondere von Mitte Mai bis Ende September sind regelmäßig Schulklassen und Familien zu Gast, die sie auf Wunsch bekocht. Zusammen mit temporären Teilzeit-Einsätzen im Hotel Kirche und der Bergbeiz auf der Bussalp kommt sie finanziell mehr schlecht als recht über die Runden.
Was, wenn er sich rächt, mich von der Liste für Aushilfen streicht? Dann kann ich mich gleich bei der Sozialhilfe melden. Nun beruhig dich mal. Du hast ihn ja nicht beleidigt. Am liebsten würde ich ganz Grindelwald den Stinkefinger zeigen und einfach abhauen! Aber wohin? Und wer gibt mir mit 57 noch einen Job?
Der Kampf der beiden Stimmen in ihr wogt nicht zum ersten Mal. In letzter Zeit gewinnt meist die negative. Auch diesmal?
Mittlerweile hat Sonnyboy Luke seinen Auftritt im TV-Beitrag. Jovial platziert er einmal mehr seine Lobrede auf das Zukunftsprojekt.
Hat deine Platte einen Kratzer oder leidest du an Alzheimer, dass du dich immer wiederholst? Mit dieser Honeymoon-Spinnerei wollt ihr euch doch nur ein Denkmal setzen, ihr narzisstischen Wichtigtuer! Wer nicht eure Meinung teilt, wird mitleidig belächelt, ignoriert oder irgendwann entsorgt.
So, jetzt aber mal halblang, Lisa! Im Moment hast du deine Jobs noch. Vielleicht solltest du etwas weniger tri…
Halt die Klappe! Fakt ist, dass nichts und niemand sie aufhalten wird. Schon gar nicht eine wehrlose alte Schachtel mit Kummerfalten und einer grau melierten Mähne. Das Einzige, was diese scheinheiligen Opportunisten interessiert, sind ihr Profit, Schulterklopfen und Applaus!
Für eine alte Schachtel finde ich dich ziemlich attraktiv. Wenn du nüchtern bist, insistiert ihre innere Stimme.
Pahpahpah! Verarschen kann ich mich selbst. Weißt du, wann ich zuletzt Sex hatte?
Klar! Ich war ja dabei.
Dann hör verdammt noch mal mit deinem Zweckoptimismus auf. Mein Leben befindet sich im Sturzflug, ohne Aussicht auf Thermik. Sterbe ich hier und jetzt, wird man meine Leiche erst finden, wenn’s im Treppenhaus zu stinken beginnt. So sieht es aus!
Dann ist es so weit. Das angestaute explosive Gemisch detoniert. Ein ohrenbetäubender Knall. Stille. Glühende Tränen kullern über ihr Gesicht, auf die schwer atmende Brust.
Apathisch, mit glasigem Blick und rot gefärbtem Speichel in den Mundwinkeln starrt Lisa auf den mit Wein getauften und Glassplittern dekorierten Röhrenbildschirm.