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April (2)

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In der Dämmerung sind die raren Straßenschilder für ihn mittlerweile unlesbar. Die Kurzsichtigkeit stellt ein zusätzliches Handicap dar. Wobei, natürlich nur in Bezug auf die Sehschärfe. So zumindest seine Selbsteinschätzung. Viel zu erkennen gibt es ohnehin nicht entlang der abgelegenen, schmalen Asphaltstreifen. Oder dessen, was davon übrig ist. Die Schlaglöcher kompensiert sein anthrazitfarbener SUV problemlos. In diesem Auto könnte er sogar Paris–Dakar mit einem Bandscheibenvorfall bestreiten. Er ist dankbar für die Sicherheit, die ihm sein blecherner Freund bietet. In der einbrechenden Dunkelheit und bei dem typischen Aprilwetter wirken die Weiler zwischen den Reben verlassen, gespenstisch, bedrohlich. Ein völlig anderes Szenario als während des lebendigen Erntemonats im Herbst. Die anonymen Jahreszeiten sind ihm allerdings lieber.

Auch mit einer Karte im Maßstab 1:10.000 könnte nur eine geübte OL-Läuferin erfolgreich durch dieses Labyrinth navigieren. Sogar das GPS hat sich schon verirrt. Den Fahrer kümmert das nicht. Er kennt den Weg mittlerweile auswendig. Mit schlafwandlerischer Sicherheit lenkt er den Wagen auf die letzten 150 Meter der aristokratisch wirkenden Allee.

Bevor er aussteigt, kontrolliert er den Inhalt der akribisch vorbereiteten ledernen Aktentasche zum fünften Mal. Der gestylte Seitenscheitel im Rückspiegel sitzt perfekt. Graue Schläfen oder Gesichtsfalten? Fehlanzeige. Schon gar keine Lachfalten. Seine nicht übertrieben muskulöse, schlanke Statur lässt auf einen seriösen Lebenswandel schließen. Einzig die unterdurchschnittliche Körpergröße sorgt dafür, dass er nicht als Model für ein Hochglanzmagazin durchgeht. Mit knapp über 40 wirkt er eher wie 30. Er hat schon immer zehn Jahre jünger ausgesehen. Bis 25 litt er darunter.

Nach ein paar tiefen Atemzügen und einem Blick zum rund fünf Kilometer entfernten Lac Démon endet sein Vorbereitungsritual. Das Steinhaus aus dem vorletzten Jahrhundert mit seinen imposanten Mauern und den zwei Turmzimmern wirkt verlassen. Lediglich im Erdgeschoss, hinter einem der wenigen Fenster, flackert spärliches Licht. Wie immer ist er einer der Ersten, die eintreffen. Zusammenkünfte können nur die notwendige Wirkung erzielen und erfolgreich sein, wenn sie detailliert vorbesprochen und straff geführt sind. Das ist Aufgabe des Kernteams. Kontrollverlust hasst er. 90 Minuten nach seiner Ankunft eröffnet er auf die Minute genau das offizielle Treffen. Wer zu spät kommt, muss sich wieder auf den Heimweg machen. Eigentlich könnte man auch früher beginnen, weil alle Teilnehmenden stets spätestens zehn Minuten vor Beginn auf ihren Plätzen sitzen. Eine Agenda ist da, um eingehalten zu werden. Damit werden wichtige Werte wie Konsequenz und Verlässlichkeit zelebriert. Das gibt den Menschen Sicherheit. Sie sollen wissen, was sie erwartet und was von ihnen erwartet wird. Nur klare Strukturen geben Orientierung und führen zum Ziel. Davon ist Ivo überzeugt, seit er vor über 20 Jahren die Offiziersschule absolvierte.

Es herrscht eine konzentrierte Stimmung. Die gespenstischen Laute des Waldkauzes im Park dringen durch die leicht geöffneten Fenster und übertönen die murmelnden Gespräche zwischen den Sitznachbarn. 18 Männer und zwei Frauen haben sich im ehemaligen Bankettsaal um den überdimensionalen Tisch aus massivem Eichenholz versammelt. Mit ernsten Mienen nehmen sie die heutigen Schwerpunktthemen zur Kenntnis. Überschwängliche Willkommensworte erlaubt der Fahrplan nicht. Schließlich sind sie nicht zum Vergnügen hier. Ihre Mission ist nichts weniger, als das Wohlergehen der Menschen in diesem Land langfristig zu sichern. Wirtschaftlich und gesellschaftlich. Das heißt, Projekten zum Durchbruch zu verhelfen, die im Idealfall beides unterstützen. Priorität bei den Sitzungen genießen jene Vorhaben, die in der Öffentlichkeit auf Widerstand stoßen. Schuld daran sind aus ihrer Sicht Linke, Umweltschützer, Ungläubige oder Sozialschmarotzer, die auf dem Buckel der anständigen, arbeitswilligen Bevölkerung ein lockeres Leben führen. Sie alle erschweren ihre Mission und müssen deshalb bekämpft werden. Ziel der Treffen ist es, schlagkräftige Strategien zu finden, um damit die aktuell heißen Eisen zu bearbeiten. Verantwortlich für Veränderungen in Natur und Umwelt sind aus ihrer Sicht nicht die Menschen. Für die einen in der Gruppe sind es die Schöpfung und Gottes Wille. Für die anderen ist es das Universum. Der Wandel gehört für sie zum Lauf der Zeit. Auch der klimatische. Diese Botschaft zu vermitteln, gehört zu ihren Hauptaufgaben. Aufgenommen wird nur, wer von einem bestehenden Mitglied empfohlen wurde und die Überzeugung der Gruppe glaubhaft vertritt. Er oder sie muss in seinem oder ihrem privaten und beruflichen Umfeld einflussreich sein, einen guten Ruf genießen, im besten Fall sogar beliebt sein. Diskretion und absolute Verschwiegenheit sind ebenfalls Teil ihrer Charta. Wer diese Hürden meistert, wird an einem neutralen Ort vom fünfköpfigen Kernteam auf Herz und Nieren geprüft. Nur wer dieses intensive Casting übersteht, wird der ganzen Gruppe vorgeschlagen und muss einstimmig gewählt werden. All das erklärt, weshalb die Interessengemeinschaft drei Jahre nach ihrer Gründung noch überschaubar ist. Lieber klein, kompromisslos und mit Überzeugung bestechen – was immer das auch heißen mag –, als groß und angreifbar zu sein.

Nach exakt 120 Minuten endet die offizielle Zusammenkunft. Die darauffolgende gespielte Ungezwungenheit beim informellen Austausch unter den Mitgliedern ist Ivo zuwider. Small Talk ist nicht sein Ding. Aber bei diesem Punkt hatte ihn das Kernteam überstimmt. Deshalb gönnt man sich neuerdings im Anschluss einen lokalen Wein. Jedoch nie mehr als zwei Gläser. Weil die Groupe Lac Démon sich unmittelbar nach jeder Sitzung wieder auflöst und alle ihrer Wege gehen. Bis zum nächsten Meeting existiert sie nicht.

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