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Juni (6)

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»Halloo!!! Jetzt mach mal fertig und komm raus! In zehn Minuten müssen wir bereit sein!«

Kein Lebenszeichen.

»Haalloo!! Es eilt wirklich! Bitte!«

Funkstille. Seit gefühlten 30 Minuten trippelt sie auf den Zehenspitzen. Der Schließmuskel wird arg gefordert. Doch so laut sie schreit, flennt, mit ihren Fäusten gegen die verschlossene Tür hämmert, die Person dahinter reagiert nicht.

»Wo ist Sophie?«, fragt die Klassenlehrerin.

»Wahrscheinlich noch immer auf der Toilette. Wobei ›Scheißhaus‹ für diese unmenschliche Einrichtung besser passt. Keine Ahnung, was die wieder geschluckt hat. Oder treibt sie es mit dem Jungbauern in Ausbildung? Wenn ja, dann sehr diskret und geräuschlos. Geöffnet hat sie mir jedenfalls nicht. Ich musste mein Geschäft auf dem Miststock verrichten. Stellen Sie sich das einmal vor! Sooo eklig! Igitt!«

Pubertierendes Stimmbruchgelächter und zickiges Kichern. »Es reicht jetzt, Jungs und Mädels! Ich werde mal nach ihr sehen. Packt eure Sachen und macht euch mit meiner Kollegin schon mal auf den Weg Richtung Dorf. Der Ortsbus bringt euch wie gestern auf die Bussalp. Dort ist noch einmal eure Tatkraft gefragt. Vorbereitungsarbeiten für den bevorstehenden Alpaufzug und Weiden von Unkraut und Steinen befreien stehen auf dem Programm. Herr Nowak, den ihr ja schon vom Hof hier im Talboden kennt, wird euch instruieren. Gegessen wird ausnahmsweise in der Beiz. Spaghetti bolo auf der Terrasse im Bergrestaurant. Zum Dessert haben wir ein Gratisfitnesstraining organisiert. Fußmarsch zurück ins Dorf. Davon habt ihr doch immer schon geträumt.«

In Embryostellung liegt Sophie neben der Kloschüssel auf dem Boden, den Kopf in einer stinkenden Lache Erbrochenem. Die langen dunklen Haare verdecken die Augen und kleben an der rechten Wange. Auf ihrer Hose zeichnet sich zwischen den Beinen ein dunkler Fleck ab. So präsentiert sich das schockierende Bild, nachdem die Klassenlehrerin mit dem Ersatzschlüssel der Lagerköchin Lisa die Toilettentür öffnen konnte. Den Brechreiz unterdrückend, bückt sie sich und tastet auf der Innenseite des Handgelenks nach dem Puls. Erst als sie die Augen schließt, sich vollständig konzentriert, spürt sie ein schwaches, unregelmäßiges Pochen. Sophie lebt. Noch.

40 Minuten später schließt Lisa die Hecktür der Ambulanz mit einem warmen, aufmunternden »das wird schon« in Richtung Klassenlehrerin, die Sophie ins Krankenhaus begleitet. Um die Lehrerin zu entlasten, hat sie angeboten, Eltern und Klasse zu informieren. Diese hat dankend angenommen. Der Albtraum ist auch so belastend genug.

Dabei hatte die Landschulwoche auf dem Hof von Heinz Grob so vielversprechend begonnen. Aus Lisas Sicht hatte die Klasse mit Juni den perfekten Zeitpunkt für einen Aufenthalt auf der Bussalp gewählt. Dann erwacht hier oben die Vegetation so richtig. Den Kontakt mit den oft vorlauten, dennoch liebenswürdigen Jugendlichen hatte sie wie immer genossen. Die Kommunikation mit den verständnisvollen Leiterinnen und Leitern hatte reibungslos funktioniert. Ihre Kochkünste wurden geschätzt.

Klassenlager mit jungen Menschen bringen immer Leben auf den Hof und in ihren Alltag. Aus solchen Wochen tankt sie Energie, schöpft neuen Mut und Zuversicht. Was in ihrer aktuellen Lage wichtiger ist denn je. Witzige Aktionen und Streiche der Teenager erinnern sie an unbeschwerte, längst vergangene Zeiten. Die erste Zigarette, Schwindelgefühl inklusive, versteckte, zufällige Berührungen, der erste richtige Kuss und die damit verbundenen Libellen im Bauch (Schmetterlinge klingen ihr zu abgedroschen). Nächtliche Picknicks im Zimmer des andern Geschlechts. Oder das Mithören der Leiterrunde, die auch nicht immer promillefrei, geschweige denn leise blieb. Was ihr schon damals bewies, dass Erwachsene keine fehlerlosen Wesen sind. Heute ist sie überzeugt, dass die Unvollkommenheit im Alter sogar zunimmt. Von wegen Weisheit sei eine Frage des Alters.

Sophies Zustand sei stabil, aber nach wie vor kritisch. Man könne zuversichtlich sein, dass sie das Gröbste bald überstanden habe, tappe aber immer noch im Dunkeln auf der Suche nach der möglichen Ursache. Drogen seien nicht im Spiel gewesen. Am wahrscheinlichsten sei eine Vergiftung, ausgelöst vermutlich durch ein verdorbenes Lebensmittel. Oder irgendein Virus. Wobei Letzteres eher nach einer medizinischen Standardantwort klingt und so viel heißt wie: Wir haben keine Ahnung.

Verdorbene Lebensmittel? Die Information der Klassenlehrerin trifft Lisa wie eine rechte Gerade in die Magengrube. Panik vermischt sich mit Wut und Übelkeit. Verdorbene Lebensmittel? Unmöglich. Im Geist geht sie den Menüplan durch. Auch nach mehrmaligem Überdenken findet sie keinen Anhaltspunkt, was der Auslöser hätte sein können. Auf kritische Lebensmittel, wie zum Beispiel Eier in Nachspeisen, verzichtet sie konsequent. Experimente sind tabu. Fleisch wird nur durchgebraten serviert. Außer Reis und Pasta kauft sie praktisch alles täglich frisch und regional ein. Bei der Lagerung hält sie sich strikt an die Vorschriften der Lebensmittelverordnung, wie sie für die Gastronomie gelten. Auf die Hygiene achtet sie besser als mancher Chefkoch, ist sie überzeugt. Vor dem Lebensmittelinspektor fürchtet sie sich nicht. Verdorbene Lebensmittel! Trotzdem verfolgt sie dieser Gedanke, während sie das Abendessen vorbereitet. Zum Glück ein einfaches Menü. Gschwellti, Käse und Salat.

Zwei Stunden nachdem ihr Kopfkarussell sie endlich in Ruhe gelassen hat, reißt sie ein bekannter Klingelton aus dem Schlaf. Auf dem Bauch liegend, tastet Lisa mit der rechten Hand nach der Lärmquelle. »Mist!« Scheppernd fällt das smarte Telefon auf den Fußboden. Als ihre Finger es endlich spüren, wischt die unkoordinierte Handbewegung es unter das Bett. »Merde!«

»Tut mir leid, wenn ich Sie so früh störe, Frau Pelletier. Heute Nacht sind zwei Jungs, ein Mädchen und meine Leiterkollegin erkrankt. Sie leiden unter Erbrechen, Schüttelfrost und Durchfall. Alle vier sind im Notfall. Ich werde das Lager abbrechen und mit dem Rest der Klasse heute um acht Uhr nach Hause fahren. Da scheint ein sehr ansteckender Virus im Umlauf zu sein. Bitte kommen Sie so rasch wie möglich vorbei«, lautet die niederschmetternde Mitteilung auf ihrer Sprachmailbox. Und dabei hatte sie sich eingeredet, dass nach dem äußerst schwierigen, von Vorwürfen bestimmten Telefonat mit Sophies Eltern am Vorabend der unangenehme Höhepunkt dieser Geschichte überstanden sei. Weit gefehlt!

Schweizer Wasser

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