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Kapitel 2

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Der Morgen war angebrochen, und es versprach, dem anstehenden Frühlingsfest angemessen, ein klarer, sonniger Tag zu werden.

Die Sonne, die im Mittelpunkt der sich über drei Tage hinziehenden Feiern stand, strahlte von einem nahezu wolkenlosen, blassblauen Himmel über das flachwellige Land hinter den Dünen.

Die feuchtschwarzen Schollen der jüngst eingesäten Äcker, die um das Dorf angelegt waren, dampften, und über den noch traurigen Wiesen war das emsige Gesumm der Bienen zu hören, die Nektar aus der üppigen Blütenpracht sammelten.

In dem lindweiß leuchtenden lichten Birkenwald unweit des Dorfes ästen träge ein paar Rinder, und überall aus den Baumkronen ertönte das werbende Gezwitscher der Vögel. Auch die Elritzen in dem mit knorrigen Weiden gesäumten Bach, der sich eilig plätschernd durch die Wiesen schlängelte, schossen voller Lebensfreude durch ihr Element.

Die Häuser und Gehöfte der Siedlung, welche von einer hohen Palisade geschützt wurde, gruppierten sich in einem losen Rund um den mit hohem Schilf umwachsenen Dorfanger.

Die einzelnen Gebäude waren in solider Blockbauweise errichtet und mit Reet gedeckt worden. Das Holz, das dazu nötig war, wurde in den dichten Laub- und Kiefernwälder weiter im Landesinneren geschlagen und mit Ochsenfuhrwerken an die Küste verfrachtet.

Für den Hausbau verwendete man zumeist Buchenoder Kiefernholz, während die Rümpfe der Schiffe aus Eiche gefertigt wurden.

Sollte ein Haus gebaut werden, so wählten die Zimmerleute zunächst schlanke, gerade Stämme, die von der Rinde befreit und an zwei Seiten leicht abgeflacht wurden.

Nun stellte man auf der Außenlinie der zuvor eingeebneten Grundfläche mehrere im Durchmesser dickeren Stämme, die als Stützbalken dienen sollten, in regelmäßigen Abständen auf und verkeilte sie mit Steinen. An diesen schichtete man sodann an der zum Hausinneren gerichteten Seite die schmalen, abgeflachten Balken lagenweise waagerecht aufeinander, wobei jede Lage sowohl mit der darunterliegenden als auch mit dem jeweiligen Stützbalken durch Seile verbunden wurden. Die auf diese Weise entstandenen Außenwände hatten den Vorteil, nicht nur sehr stabil zu sein, sondern gleichermaßen über so viel Elastizität zu verfügen, um auch dem stärksten Sturm standhalten zu können, obwohl die Stützbalken nicht im Boden verankert waren.

Für die Konstruktion des Daches wurden zunächst in Abständen firsthohe, kräftige Balken auf der das Haus in Längsrichtung teilenden Mittellinie aufgestellt und mit dicken Steinen abgestützt. Auf ihnen wurden die den First bildenden Längsbalken mittels starker Taue von Giebel zu Giebel befestigt. Danach brachte man von den Seitenwänden bis zum First wieder in regelmäßigen Abständen Streben an, die wiederum von quer verlaufenden Streben stabilisiert wurden, sodass eine Art Gitterwerk entstand, auf dem dann die Reetbündel in mehreren Lagen aufeinander ausgerollt wurden.

Zum Schluss wurden noch die Fugen der Innenwände mit Lehm ausgestrichen und der Boden festgestampft.

In den Häusern der reicheren Dorfbewohner wurden zudem noch aus Bohlen bestehende Schlafkammern gezimmert, die sich hinter der zentral angelegten Herdstelle im rückwärtigen Teil des Hauses befanden. Auch waren Fensteröffnungen in Seiten- und Frontwände eingelassen, die, wenn es kalt wurde, mit einer Kuhhaut verschlossen werden konnten. Der Eingang befand sich ebenfalls an der Frontseite des Hauses.

Die Stallungen, die sich neben dem Wohnhaus befanden, waren aus grob bearbeiteten Brettern errichtet, wurden aber auch von einem dichten Reetdach geschützt. Genutzt wurden sie eigentlich nur im Winter, da das Vieh, bedingt durch das fast das ganze Jahr über anhaltende milde Klima, im Freien belassen werden konnte.

So vermittelte das Dorf dem Betrachter einen einladenden und heimeligen Eindruck, vor allem heute, da seine Bewohner es anlässlich der Festtage besonders liebevoll geschmückt hatten. Um die Hofeingänge und Türen waren Blumengirlanden gewunden, und frische Birkenreiser mit bunten Wollstreifen steckten an den Firsten oder waren an den Zäunen angebracht.

Aber auch die Menschen hatten sich festlich herausgeputzt.

Die Frauen, soweit sie verheiratet waren, trugen bunt bestickte weitärmelige Blusen und knöchellange Röcke aus gebleichtem, fein gewobenen Leinenstoff. Um die Hüfte war ein breiter Gürtel aus Leder oder Wolle geschlungen, welcher vorne von einer tellergroßen Scheibe, deren Rand und Mitte mit halbkugelförmigen Ausbuchtungen versehen war, geschlossen wurde. Die Scheibe war zumeist aus Bronze, bisweilen aber auch aus Silber oder Gold gefertigt.

Auch für die wulstigen Schmuckreifen, die an den Hand- und Fußgelenken glänzten, sowie die prachtvoll ziselierten Fibeln und Gewandnadeln wurden jene seltenen Metalle verwendet.

Das lange Haar war zu einem dicken Zopf geflochten worden, der dann, gleich einer Krone, um den Kopf gewunden und mit dünnen Haarnadeln aus Walbein oder Bronze festgesteckt wurde.

Vervollständigt wurde das reizvolle Erscheinungsbild durch Ketten aus Bernstein, die den Frauen in mehreren Reihen um den Hals lagen und manchmal bis zum Gürtel herabhingen.

Die Tracht der Mädchen ähnelte der der Frauen, nur dass sie einen bis knapp zu den Knien reichenden Rock trugen, der aus vielen, dicht aneinander genähten Wollschlingen bestand.

Das Haar floss lang über die Schultern oder war zu einem oder zwei losen Zöpfen geflochten.

Weit weniger aufwändig fiel die Kleidung der Männer und Jungen aus. Die älteren Männer trugen neben dem Wickelrock noch ein linnenes oder wollenes Hemd und darüber einen dunkel gefärbten Umhang. Dazu hatten manche auch noch einfache, aus Leder gefertigte Bundschuhe an den Füßen und eine schlichte, randlose Kappe aus Leder oder Wolle auf dem Kopf.

Die jüngeren Männer und die Knaben verzichteten jedoch in dieser Jahreszeit zumeist auf Hemd und Schuhwerk, die Jungen auch oft auf den Mantel, und begnügten sich mit dem Rock und dem breiten, mit einer oft mehr als handtellergroßen, gewölbten und blank polierten Schließe verzierten Gürtel.

Ihren wichtigsten Schmuck indes, ihre aus Bronze geschmiedeten Schwerter und Dolche, Äxte und Lanzen, durften sie heute nicht bei sich führen, denn die Festtage geboten den Frieden überall im Lande.

Schon seit den frühen Morgenstunden herrschte rege Betriebsamkeit, und der würzige Duft frisch gebackenen Brotes durchzog das Dorf. Am Vortage waren etliche Rinder und Schafe geschlachtet worden, die sich nun über offenen Feuern am Spieß drehten.

Die Mädchen und Jungen rannten singend und lachend hinaus in die Wiesen und pflückten Blumen, die sie zu Kränzen flochten und sich gegenseitig um die Stirn wanden, während die Erwachsenen die letzten Vorbereitungen für das am Mittag beginnende Fest trafen.

Als die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, traten zwei Männer auf die Balustrade über dem Tor des hohen Versammlungshauses, welches seinen Platz unmittelbar neben dem etwas abseits gelegenen Hof des Dorfältesten erhalten hatte.

In ihren Händen hielten sie jeweils ein aus schimmernder Bronze geschmiedetes Blasinstrument, welches sich, einer Schlange gleich, vom Mund um die Brust herum zum Rücken hin wand, um sich dann fast um Armeslänge über den Kopf zu erheben. Der nach vorne gebogene Schalltrichter endete mit einer breiten, kreisrunden und gepunzten Zierscheibe, in deren Mitte sich das Schallloch befand.

Diese Luren waren so gefertigt, dass ihr Klang um eine Oktave verschieden gestimmt war.

Als nun die Männer in ihre Instrumente bliesen, erklang ein warmer, lang anhaltender und getragener Ton, der noch weit über die Grenzen des Dorfes zu hören war.

Daraufhin stellten die Dorfbewohner ihre jeweilige Tätigkeit sofort ein und strebten schweigend dem Versammlungshause zu.

Bald war die Halle gefüllt, und eine feierliche Stille erfüllte den Raum.

Gemessenen Schrittes betraten als letzte der Dorfälteste, gefolgt von den sechs anderen Ratsmitgliedern der Dorfgemeinschaft das Gebäude und nahmen – bis auf den Ältesten – auf den etwas erhöht stehenden, mit verschlungenen Schnitzereien versehenen Lehnstühlen am Kopfende der Halle ihre Plätze ein.

Beruns, der Dorfälteste, war eine in jeder Hinsicht beeindruckende Persönlichkeit.

Er war von hünenhaftem Wuchs, und trotz seiner dreiundfünfzig Jahre bewegte er seinen muskulösen Körper mit der gleichen kraftvollen Geschmeidigkeit, die gemeinhin nur jüngeren Männern zu eigen war.

Das war vor allem auf den Umstand zurückzuführen, dass er sein gesamtes Leben als Walfänger und später als Schiffsführer eines Fernhandelsschiffes auf dem Meer verbracht hatte.

Das ehemals volle schwarze Haar war nun ergraut und hatte sich über der Stirn schon sehr gelichtet.

Sein bartloses, etwas kantig wirkendes Gesicht wurde von zwei langen, tiefen Furchen geprägt, die sich von den Flügeln der schmalen Adlernase bis zu den Winkeln des breiten, vollen Mundes zogen.

Seine warmen, tiefbraunen Augen ruhten liebevoll auf den in erwartungsvoller Stille harrenden Menschen.

Der mächtige, nackte Oberkörper, wie auch die Arme wiesen teilweise dicke Narben auf, die von den vielen Kämpfen zeugten, die Beruns während seiner wagemutigen Fahrten hatte bestehen müssen, die ihn, an den im Westen liegenden Zinninseln vorbei, bis weit in den Süden geführt hatten.

Gekleidet war er wie alle übrigen Männer, nur dass er als Zeichen seiner Würde eine aus dicken Gliedern geschmiedete Goldkette um den Hals trug, in deren reich verzierter Schmuckscheibe ein selten großer, rund geschliffener Bernstein gefasst war, in dessen Innerem eine Biene eingeschlossen war. Es kam zwar äußerst selten vor, aber dann und wann fanden die Sammler schon einmal einen Stein, in dem irgendetwas, sei es ein Stück Rinde oder eben ein Insekt gefangen war, aber dieser Stein war einzigartig. Nicht nur wegen seiner Größe, sondern vor allem deshalb, weil die Biene wie aus dem Fluge heraus in vollkommener Weise in den Stein gebannt schien. Vor Generationen war dieser Stein gefunden worden, und nie wieder hatte man seither ein ähnliches Kleinod entdeckt.

Durch solche Einschlüsse im Bernstein, wie auch durch seine Farbe, die vom hellen Gelb bis zu einem tiefroten Farbton reichte, waren die Menschen hierzulande überzeugt, dass es sich dabei um zu Stein gewordenes Harz längst verschwundener Bäume handeln musste. Den Fremden erzählten sie allerdings, dass es die erkalteten Tränen der Sonne waren, die das Gestirn allabendlich vergoss, wenn es vom Tage Abschied nehmen musste und im Meer versank.

Beruns schloss nun für einen Moment die Augen und räusperte sich vernehmlich. Dann hub er mit seiner ruhigen, volltönenden Bassstimme an zu sprechen.

»Ich begrüße euch alle, die ihr euch heute, wie in jedem Jahr zu dieser Zeit, hier versammelt habt, um die Sonnenfeier gebührend zu beginnen.

Und wie in jedem Jahr gilt es auch wieder, die Mädchen und Jungen aus unserer Gemeinschaft, die bis zu diesem Zeitpunkt ihren siebzehnten Geburtstag gefeiert haben, aus der Kindheit zu entlassen, um sie, nachdem sie ihre letzten, schweren Prüfungen auf der heiligen Insel erfolgreich abgelegt haben, mit allen Rechten und Pflichten in die Welt der Erwachsenen aufzunehmen.

Wir haben während der letzten Tage die Saat in die Äcker gelegt und hoffen, dass uns der Spätsommer eine ebenso reichliche Ernte bescheren wird, wie er es uns im vergangenen Jahr beschert hat.

Wir hoffen aber auch, dass der Same, der vor siebzehn Jahren die Schöße der Mütter befruchtet hat, nunmehr herangereift ist, sodass die Eltern dieser Kinder den wohlverdienten Lohn für ihre oftmals doch als so mühevoll – und vor allem als in einigen Fällen so hoffnungslos empfundene Erziehungsarbeit erhalten können.«

Während Beruns den letzten Teil dieses Satzes mit besonderer Betonung formulierte, fixierte er einige der direkt vor ihm stehenden Initianten mit einem gewollt streng wirkenden Blick, was mit einem wissenden Gelächter der versammelten Dorfbewohner belohnt wurde. Die Betroffenen, darunter Tarkon, gaben sich zwar den Anschein der Zerknirschtheit, indem sie ihre rot angelaufenen Gesichter dem Boden zuwandten, konnten sich aber ein verlegenes Grinsen nicht verkneifen.

»Lasst uns also sehen, welche Früchte diese Mühen haben gedeihen lassen«, fuhr er dann schmunzelnd fort. »Tretet nun vor, ihr, die ihr Anspruch erhebt, ab jetzt zu den Erwachsenen zu zählen!«

Es waren dreizehn Mädchen und Jungen, die sich in diesem Jahr dem letzten und damit schwierigsten Teil ihrer Initiation unterziehen wollten.

Sie standen, ganz in weiß gekleidet, vor ihren Eltern, die ihnen bis zu diesem Zeitpunkt ihre Hände auf die Schultern gelegt hatten.

Stellvertretend für den verschollenen Vater Tarkons hatte der Großvater den Platz neben seiner Schwiegertochter eingenommen.

Auf die Aufforderung Beruns hin zogen die Eltern nun ihre Hände zurück und entließen so ihre Kinder symbolisch aus ihrer Obhut in die Welt der Erwachsenen.

Sieben Mädchen und sechs Jungen traten also drei Schritte nach vorne und erhoben den Blick zu Beruns.

Dieser schaute, die Daumen in seinen Gürtel gehakt, mit halb geschlossenen Lidern auf sie herab.

»Wer seid ihr? Nennt uns eure Namen, damit wir euch erkennen können«, sagte er leise.

Natürlich kannte er jeden einzelnen von ihnen von Kindheit an, aber der uralte Brauch erforderte diese Befragung, da die jungen Menschen sich in diesem Augenblick einerseits losgelöst vom Elternhaus sahen, andererseits aber noch nicht zur Dorfgemeinschaft gehörten.

Nacheinander nannten sie laut und vernehmlich ihren Namen und ihre Familienzugehörigkeit.

»Wer spricht für euch?«, wollte Beruns nun wissen.

»Ich, Laruna, Tochter der Ethla und des Truns!«, antwortete das Mädchen stolz.

Laruna war die im Jahreszyklus zuerst Geborene und besaß somit das Anrecht, als Sprecherin für ihre Gefährten zu gelten.

Tarkon sah seine Freundin einen Moment lang voller Liebe an.

Laruna war das einzige Kind des Schiffsbaumeisters Truns, eines vierschrötigen, wortkargen Mannes, der wegen seiner seltenen Fähigkeit im ganzen Land gerühmt wurde. Er hatte seine Tochter während der letzten Jahre erfolgreich in der hohen Kunst des Schiffbaus unterwiesen, sodass auch Laruna heute dieses schwierige Handwerk meisterlich beherrschte.

Sie war von hohem, schlankem Wuchs, der ihre Körperkräfte, über die sie aufgrund ihrer Arbeit verfügte, kaum erahnen ließ.

Ihr bronzefarbenes Haar und ihre eisblauen Augen kontrastierten auf seltsame Art mit dem tiefbraunen Teint ihrer Haut.

Sie war zweifellos das schönste Mädchen in der Umgebung, und Tarkon empfand um ein anderes Mal dankbaren Stolz, dass Laruna gerade ihn zu ihrem zukünftigen Ehemann erwählt hatte.

Viele hatten um sie geworben und waren abgewiesen worden, denn schon seit alters her war es das Recht der Frau, sich frei und ohne Zwang für einen Mann zu entscheiden, den sie für würdig befand, der Vater ihrer Kinder zu werden. Dabei spielte eine für die meisten Männer oft nicht nachzuvollziehende gefühlsmäßige Intuition eine ausschlaggebende Rolle. Als Tarkon ihr damals das erste Mal begegnet war, war es dann auch Laruna, die, der Stimme ihres Herzens gehorchend, sehr schnell die Initiative ergriffen und ihm sofort zu verstehen gegeben hatte, dass er der Richtige für sie sei.

Tarkon musste lächeln, als er sich an die Situation erinnerte, in der sie ihm ganz beiläufig erklärt hatte, dass sie ihn nach dem Frühlingsfest zu heiraten gedachte. Sie waren beide im Meer um die Wette geschwommen, und als sie sich danach triefnass und atemlos vor Anstrengung in den warmen Dünensand hatten fallen lassen, sagte sie ihm, dass sie zwar im Schwimmen die Schnellere gewesen sei, er aber dennoch einen Preis davontragen dürfte: sie selbst nämlich! Und dann hatte sie ihn auf eine Art geküsst und gestreichelt, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte.

»Seid ihr bereit für eure Fahrt?«, hörte er die Stimme Beruns fragen, was ihn aus seinen Träumen abrupt wieder in die Realität versetzte.

Alle bestätigten dies mit einem lauten, einhelligen Ja!

Das Ritual der Initiation, mit der schon vor der Pubertät der Kinder begonnen wurde, sah für diesen letzten, entscheidenden Abschnitt vor, dass die Mädchen und Jungen als Erstes gemeinsam und ohne die Hilfe der Erwachsenen ein Boot bauen mussten, mit welchem sie dann, allein auf sich gestellt, zur heiligen Insel fahren sollten. Dies geschah, damit sie für ihr künftiges Leben in der Welt der Erwachsenen lernten, dass Mann und Frau die gleichen Rechte und Pflichten zu erfüllen hatten, denn zu dieser Zeit war die Frau dem Manne ebenbürtig.

Natürlich hatte diese Fahrt zudem auch noch einen spielerischen Aspekt, denn die jungen Leute segelten auf der Rückfahrt mit den anderen Booten, die von den Nachbardörfern entsandt wurden, um die Wette, was gerade bei stürmischem Wetter nicht ganz ungefährlich war, da die jugendlichen Besatzungen im Wetteifer zu Nachlässigkeiten neigten, die den erfahrenen Seeleuten nicht unterliefen.

Beruns wies mit seiner Rechten zum offen stehenden Eingangstor.

»Ihr habt von uns all das Rüstzeug erhalten, was für euer zukünftiges Leben unbedingt notwendig ist. Nun geht und wendet euer Wissen zum ersten Mal in eigener Verantwortung an. Wenn ihr von eurer Fahrt zurückkehrt, werdet ihr eure behütete Jugend endgültig hinter euch gelassen haben und euren Platz als vollwertige Mitglieder unserer Gemeinschaft einnehmen. Jetzt beweist uns aber zuerst einmal, dass ihr euch dafür auch als tauglich erweist«, ermahnte er sie.

Daraufhin bildeten die hinter den Initianten Stehenden eine Gasse, durch welche die Dreizehn ins Freie hinauszogen. Gefolgt von allen Dorfbewohnern gingen sie zum Strand hinunter, wo das neu gebaute Schiff, von vier Balken gestützt, lag.

Es war ein kleines Boot, welches aber in seiner Konstruktion den großen Vorbildern weitgehend angeglichen war.

Die Planken, die den schmalen, nach Bug und Heck sich verjüngenden Rumpf bildeten, bestanden aus Eichenholz und waren zum Teil mit Holz-, an einigen wichtigen Punkten aber auch mit Bronzenägeln in Klinkerbauweise an den Spanten befestigt worden, was dem Boot eine besondere Elastizität verlieh, die notwendig war, wenn das Schiff bei hohem Seegang gleichsam über die Wellen ritt.

An Bug und Heck reckte sich jeweils ein schlanker, runder Steven in die Höhe, welcher am oberen Ende fast rechtwinklig nach vorne beziehungsweise nach hinten gebogen und abgeflacht worden war.

Der Mast sowie die Rahe, an der das große, reffbare Segel aus Leinen angeschlagen war, lagen längs der Kiellinie am Boden zwischen den Ruderbänken, denn der Mast wurde erst auf hoher See auf dem Kielschwein aufgerichtet.

Mehr als drei Monate waren seit der Kiellegung vergangen, bis die Mädchen und Jungen ihr Werk vor einigen Tagen unter der umsichtigen und erfahrenen Anleitung Larunas hatten vollenden können.

Keiner der Dorfbewohner hatte das Schiff bis zu diesem Zeitpunkt zu Gesicht bekommen, denn es gehörte zu dem Ritual, dass das gesamte Werk von der Planung bis zur Fertigstellung allein in den Händen der Initianten lag, die damit den Erwachsenen unter anderem zum ersten Mal ihr erlerntes Wissen und ihre praktischen Fähigkeiten selbstverantwortlich unter Beweis stellen konnten.

Als sie sich nun alle am Strand versammelt hatten und das Boot mit seiner eleganten Linienführung und seiner soliden Verarbeitung begutachten konnten, wurden allenthalben Rufe der Bewunderung laut. Selbst der ansonsten mit Lob eher sparsam umgehende Truns pfiff anerkennend, als er mit seinen schwieligen Pranken über die glatt gehobelten Planken strich.

Die Stützen wurden entfernt, und das Boot wurde von den dreizehn hoffnungsvollen Seeleuten mittels zweier Taue am Bug ins Wasser gezogen. Dadurch, dass das Schiff einen relativ flachen Kiel besaß, schwamm es bereits, als das Wasser etwa Brusthöhe erreicht hatte.

Dann kletterte die Besatzung von beiden Seiten gleichzeitig an Bord, um das Boot nicht zum Kentern zu bringen.

Als jeder seinen Platz auf den Ruderbänken an Back- und Steuerbord eingenommen hatte, wurden an jeder Seite jeweils fünf lange Riemen durch die Löcher des Dollbordes geschoben.

Laruna hatte sich indessen selbstbewusst an die achtern an Steuerbord angeflanschte Ruderpinne gestellt, wie es ihr in ihrer Position als Schiffsführerin gebührte.

Mit ihrer klaren hellen Stimme intonierte sie ein traditiorelles Ruderlied, worauf die Rudergasten ihre Riemen aufnahmen und im Rhythmus der Melodie zu pullen begannen.

Mithilfe der einsetzenden Ebbe trieben sie so rasch in die offene See hinaus, wo sie, den günstigen Ostwind nutzend, die Riemen einholten, den Mast aufrichteten und das Segel setzten.

Noch lange schauten ihnen die am Strand Zurückgebliebenen hinterher, bis das Schiff nur noch als winziger Punkt am Horizont auszumachen war.

Endlich erhob Beruns segnend seine Arme gen Westen.

»Auf dass die Sonne ihren Weg leiten und sie alle wohlbehalten wieder zu uns zurückführen möge«, rief er und drehte sich dann zu den anderen um.

»Das Fest hat seinen Anfang genommen. Lasst uns nun freudig zurück ins Dorf gehen und die Tage der Sonne gebührend, aber vor allem ausgelassen feiern.«

Die Kinder der Sonne/Die Nomaden der Meere

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