Читать книгу Die Kinder der Sonne/Die Nomaden der Meere - Bernhard von Muecklich - Страница 14

Kapitel 5

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Es war schon später Vormittag, als Tarkon aus seinem traumlosen, aber gleichwohl erquickenden Schlaf erwachte.

Klar und lückenlos war das, was er in seiner Trance hatte erfahren dürfen, in seinem Gedächtnis haften geblieben, und er fühlte sich unendlich ruhig und glücklich.

Seltsamerweise verspürte er überhaupt keinen Hunger, obwohl er seit der gestrigen Abfahrt keine Nahrung mehr zu sich genommen hatte. Er sehnte sich jetzt nur nach einem Schluck Wasser und nach einem kühlen Bad im Meer.

Er stand auf und reckte sich.

Dann schaute er sich um. Einige seiner Gefährten schliefen immer noch tief, und ein selig traumverlorener Ausdruck lag in ihren Gesichtern, während die anderen meditierend um den Sonnenwagen knieten.

Vergeblich bemühte er sich, im Halbdunkel der Halle Laruna unter den Anwesenden ausfindig zu machen.

Seine Augen suchten Moruns, der zusammengesunken auf seinem Stuhl saß. Die Züge des Priesters wirkten müde und abgespannt, hatte er doch die ganze Nacht hindurch gewacht. Aber seine Augen, die in eine ziellose Ferne gerichtet waren, leuchteten wach und gütig.

»Laruna ist hinausgegangen. Du wirst sie bei den Klippen am nordostwärtigen Kliff finden«, sagte er leise, den, fragenden Blick Tarkons richtig deutend.

Tarkon nickte kurz und wandte sich dann dem Ausgang zu.

Als er ins Freie hinaustrat, musste er einen Moment innehalten und die Augen schließen, denn das grelle Sonnenlicht blendete ihn.

Blinzelnd öffnete er wieder die Lider und hielt, die Hände schützend über die Augen gelegt, Ausschau nach seiner Verlobten.

Da er sie aber auf den ersten Blick nicht ausmachen konnte, machte er sich auf den Weg zu dem ihm bezeichneten Ort.

Wie er so eilig seinem Ziel zustrebte, wurde er von einer plötzlich aufkeimenden Unruhe gepackt, und ein Gefühl von ängstlicher Sorge um das Geschick Larunas machte sich in ihm breit. Das Herz schlug ihm auf einmal bis zum Halse, und er fing an zu rennen.

Bald hatte er das Kliff erreicht und spähte, vor Anstrengung und Erregung heftig atmend, die Steilwand hinunter.

Doch sie war nirgends zu sehen.

Verzweifelt schrie er ihren Namen, doch er erhielt keine Antwort.

Die Angst schnürte ihm die Kehle zu, und er begann mit zittrigen Beinen an dem Kliff entlangzuhasten.

Es schien ihm eine Ewigkeit vergangen zu sein, als er sie schließlich fand.

Sie stand auf einem kleinen Felsvorsprung, der etwas unterhalb des Kliffrandes hervorragte.

Für einen kurzen Moment spürte er Erleichterung in seinem Herzen, und sein Mund öffnete sich schon, um sie liebevoll zu begrüßen, als das zarte Gefühl in ihm jäh wieder erstarb.

Es war die verschlossene Unnahbarkeit, die ihre Haltung ausdrückte, die ihn verstummen und gleichermaßen frösteln ließ.

Aufrecht und mit vor der Brust verschränkten Armen stand sie da und starrte traumverloren auf das Meer, während der laue Wind in ihren Haaren spielte.

Er spürte instinktiv, dass es besser wäre, sie jetzt lieber nicht anzusprechen, doch trat er gleichwohl neben sie und legte ganz sacht und zaghaft einen Arm um ihre Schulter.

Lange standen sie so schweigend nebeneinander, bis sie mit einem Male ihr Gesicht dem seinen zuwandte und ihm gerade und offen in die Augen sah.

Tarkon blickte in ein bleiches, übernächtigtes Antlitz und nahm zwei einzelne Tränen wahr, die aus ihren rot geweinten und tränenüberschwemmten Augen langsam zu ihren Mundwinkeln rannen.

»Ich ... ich habe nichts gesehen, weißt du! Mein Stein blieb matt«, flüsterte sie mit leiser, erstickter Stimme.

Tarkon hörte die Worte, doch konnte oder wollte er den für sie äußerst fatalen Inhalt nicht begreifen.

Stattdessen umfing er ein wenig unbeholfen ihre Hüften und drückte sie vorsichtig, wie um nichts zerbrechen zu wollen, an seinen Körper.

»Du darfst dem keine große Bedeutung beimessen, Liebes«, sagte er und bemühte sich, seiner Stimme einen festen Klang zu verleihen, während er selbst mit dem salzigen Nass, das in seine Augen schoss, zu kämpfen hatte.

»Vielleicht warst du einfach zu aufgeregt, als dass du dich dem Traum hättest ganz hingeben können«, versuchte er sie weiter zu trösten.

Laruna löste sich daraufhin mit einer abrupten Bewegung aus seinen Armen und packte ihn mit ihren Händen so kräftig an den Schultern, dass sich ihre Fingernägel schmerzhaft in sein Fleisch gruben.

In ihren dunkel umflorten Augen erschien ein irres Flackern, und sie fing an, ihn mit all ihrer Kraft zu schütteln.

»Du redest mit mir wie mit einem kleinen, dummen Mädchen, das von nichts eine Ahnung hat und erst einen Mann braucht, um sich über ihre Gefühle im Klaren zu sein!«, schrie sie ihn mit sich überschlagender Stimme an. »Geh und lass mich allein. Ich habe mich offenbar in dir getäuscht, denn du bist genauso ein Klotz wie all die anderen ... Männer!« Das letzte Wort spie sie ihm förmlich ins Gesicht.

Völlig verstört stand Tarkon nach diesem unerwarteten und ungewohnten Gefühlsausbruch noch eine geraume Weile da und sah sie mit einer Mischung aus Verzweiflung und Verständnislosigkeit an.

Er zitterte am ganzen Leib, und alles Blut schien ihm aus den Adern gewichen zu sein, während sich ein immer dicker werdender Kloß in seinem Hals bildete und seine Kehle zuschnürte.

Da Laruna ihn keines weiteren Blickes mehr würdigte und wieder wortlos aufs Meer hinausstarrte, wandte er sich ab und schickte sich an, mit hängendem Kopf und wackeligen Beinen wieder zurück zu den anderen zu gehen.

Auf seinem Weg versuchte er Ordnung in die über ihn hereinbrechende wirre Gedankenflut zu bringen und eine Antwort auf das rätselhafte Verhalten Larunas zu finden.

Aber wie er es auch anstellte, es wollte ihm einfach nicht gelingen, und so beschloss er, sich Moruns anzuvertrauen.

Als er das Heiligtum erreicht hatte, bemerkte er zu seinem Erstaunen, dass seine Gefährten nicht mehr da waren.

Sein Blick fiel auf Moruns, der mit geschlossenen Augen dicht neben dem Eingang an der Wand lehnte.

Tarkon trat ehrerbietig vor ihn hin und wollte gerade damit beginnen, ihm sein brennendes Anliegen vorzutragen, als Moruns abwehrend seine Rechte erhob und ihm so zu schweigen gebot.

»Ich weiß, was du von mir willst, Tarkon, doch will ich dir keine Antwort geben. Du selbst wirst zu gegebener Zeit, vielleicht schon sehr bald, mit der Lösung dieses für dich sich jetzt so verwirrend darstellenden Problems konfrontiert werden, und dann wirst du auch verstehen, warum es für dich und Laruna das Beste gewesen war, dass ich euch heute die Antwort verweigert habe«, sagte er, während er sich aus dem Halbschatten des Tores löste und ins Freie trat. »Geh jetzt hinunter zum Strand zu den anderen und bade im Meer. Es ist bald Mittag, und dann müsst ihr euch wieder in der Halle eingefunden haben. Für das, was ihr dann zu tun habt, müsst ihr euch äußerlich und innerlich reingewaschen haben.«

Die kargen Worte Moruns’ vermochten ihm natürlich in keinster Weise zu helfen, ja, sie steigerten sogar noch sein seelisches Unbehagen, doch zwang er sich dazu, während er der Weisung des Priesters Folge leistete, die quälenden Gedanken fürs Erste aus seinem Kopf zu verbannen und Ruhe einkehren zu lassen.

Am Strand angelangt, erleichterte er seinen Darm und seine Blase und rannte dann mit einem befreienden Schreien zum Ufersaum, wo er sich in die Brandung warf. Er tauchte unter ein paar Wellen hindurch und schwamm eine kurze Strecke aufs Meer hinaus. Die salzige Kühle, die ihn umgab, tat ihm gut, und er spürte, wie der dunkle Schatten, der sich um seine Seele gelegt hatte, allmählich fortgespült wurde.

Plötzlich hörte er, wie jemand seinen Namen rief. Er schaute zum Strand und sah seine Gefährten, die ihm zuwinkten und auf die Sonne deuteten. Siedend heiß fiel ihm wieder ein, dass er ja pünktlich zum Mittag wieder im Heiligtum zu sein hatte. Mit kräftigen Schwimmstößen und mitgetragen von der anlaufenden Flut strebte er, so schnell er konnte, dem Strand zu.

Als er ihn erreicht hatte, stand nur noch Urms da, der ihn schon ungeduldig erwartete.

»Die anderen sind schon auf dem Weg nach oben. Wir müssen uns jetzt ganz schön beeilen, wenn wir es noch rechtzeitig schaffen wollen«, rief Urms ihm ein wenig gereizt zu, als Tarkon gerade festen Boden unter den Füßen spürte. »Du scheinst wohl über deine persönlichen Sorgen den eigentlichen Zweck unseres Hierseins vergessen zu haben«, fügte er noch hinzu, dann wandte er sich um und lief, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, dem Aufgang zu.

Für einen Augenblick glaubte Tarkon in den Augen seines Freundes so etwas wie Hass gelesen zu haben, doch verwarf er sofort diesen Eindruck und entschuldigte das ungewohnt barsche Verhalten Urms’ ihm gegenüber damit, dass er ihn und die anderen durch die Vernachlässigung seiner Pflichten in ihrer Andacht gestört hatte.

Während er Urms hinterher den Pfad hinaufhastete, gelang es ihm endlich, seine Gedanken wieder ganz auf die noch vor ihm liegenden Aufgaben seiner Initiation zu richten, und er betrat noch zur rechten Zeit mit den anderen das Heiligtum, wo sie sich auf Moruns’ Geheiß im Kreis um den Sonnenwagen aufstellten. Zu seiner freudigen Überraschung bemerkte Tarkon, dass auch Laruna sich wieder zu den Gefährten gesellt hatte, doch als er ihr zulächelte, verriet ihre Miene mit keiner Regung, dass sie etwa von ihm Notiz genommen hätte.

Der Erwählte erhob sich von seinem Stuhl und wies auf die Öffnung im Dach der Halle.

»Wenn die Sonnenstrahlen die große Scheibe vor euch entflammen, dann werdet ihr diesen Wagen ins Freie schieben und ihn dreimal ohne Halt um die Hochfläche ziehen. Wenn ihr damit fertig seid, bringt ihr ihn wieder hier an seinen Platz zurück, und dann werde ich mit jedem Einzelnen von euch ein Gespräch führen, worin ihr mir euren Lebenswunsch äußern werdet«, befahl er ihnen knapp. Dann verschränkte er die Arme vor der Brust und schloss die Augen.

Die Worte Moruns’ waren noch nicht verklungen, als die gleißenden Lichtbündel der nun im Zenit stehenden Sonne auf die mächtige Scheibe trafen und sie zu feurigem Leben erweckten. Die auf beiden Seiten gewölbte Bronzescheibe reflektierte die Strahlen derart, dass die Halle von einer lodernden Helligkeit erfüllt wurde, die so intensiv war, dass alle für einen Moment geblendet die Augen schließen mussten.

Doch dann begannen sie zunächst vorsichtig, teils ziehend, teils schiebend, den schweren Wagen aus der Halle zu bewegen. Vor dem Gebäude, neben dem Tor aufgehängt, fanden sie zehn lange, aus Leder geflochtene Seile, die sie an den zehn Ösen befestigten, die längs der langen Deichsel paarig gegenüber angeordnet festgeschmiedet waren.

Zu dritt nahmen sie jeweils ein Seil auf und legten es sich über die Schulter, während die übrigen fünf sich bereithielten, den Wagen nötigenfalls zu schieben oder für einen Gefährten am Seil einzuspringen, sollten dessen Kräfte nachzulassen drohen.

Auf Rullos Zuruf legten sie sich in die Seile, woraufhin der Wagen schwerfällig anruckte und sich dann langsam und holpernd in Bewegung setzte.

Die Mädchen intonierten eines der Lieder, die sie im Wechselgesang während ihrer Prozession zum Lob und Preis des Muttergestirns zu singen hatten.

Es waren Litaneien in einer für sie kaum noch verständlichen Sprache, die vor Urzeiten eigens für diesen körperlich wohl anstrengendsten Teil der Sonneninitiation entstanden waren.

Doch sehr schnell erkannten sie, dass der monotone Wechselgesang äußerst hilfreich war, da sich ihr Atmen und ihre Bewegungen dem Rhythmus des Gesanges in einer Weise anglich, dass sie mit ihren Kräften unbewusst haushalten konnten.

Der Weg, der vor ihnen lag, war nicht schwer auszumachen. Die Spuren der Räder wie auch die Schritte der unzähligen Generationen, die vor ihnen den Wagen gezogen hatten, hatten sich unauslöschlich in den weichen Sandstein gegraben. Wind und Wetter hatten die Fahrspur im Laufe der Zeit zudem noch ausgewaschen, sodass sich der Weg gleich einer schlecht verheilten Narbe in dem nur spärlich mit Gras und Heidekraut bewachsenen Gelände abzeichnete.

Von der Halle ging es zunächst geradewegs zum südlichsten Punkt des Plateaus und von dort, dem Lauf der Sonne folgend, in westlicher Richtung rund um die Hochfläche, wobei der Weg in seinem weiteren Verlauf immer in gefährlicher Nähe zu den steilen Abhängen des Plateaus blieb.

Obwohl der Weg über die Jahrhunderte eingefahren worden war, stellten dennoch selbst kleinste Höhenunterschiede des Geländes oder die allenthalben in den Weg einklaffenden Felsrisse Hindernisse dar, deren Überwindung, bedingt vor allem durch die Schwere und die Sperrigkeit des Wagens, ihre ganze Kraft und Aufmerksamkeit erforderten.

Und wie sie es während der Schiffsreise erfahren hatten, mussten sie auch hierbei lernen, ihr Tun immer aus Neue aufeinander abzustimmen, um das gemeinsame Ziel zu erreichen.

Eine Zeit lang kamen sie so gut voran, bis sie zum nordostwärtigen Teil der Insel gelangten.

Dieser wurde von einer schmalen, sich stark verjüngenden Landzunge gebildet, an deren Ende sich ein steil aufragendes Felskap auftürmte. Es erinnerte ein wenig an einen Steven auf dem Bug eines Schiffes.

Bis knapp unterhalb dieses Kaps stieg der Weg ziemlich steil an, um sich dann, nach einer engen, spitzen Kehre wieder hangabwärts zu wenden.

Den Wagen an sich zu ziehen stellte schon für alle ein mühseliges Unterfangen dar, aber nun wurde jeder Meter hügelan zur Strapaze.

Dazu kam, dass die Mittagssonne ihre Strahlen gnadenlos auf sie herabsandte, sodass ihnen der Schweiß in Bächen über die nackten Körper floss. Schmerzhaft schnitten die Riemen in die dünne Haut der Schlüsselbeine, und die schweißnassen Hände hatten Mühe, die Zugseile zu halten.

Das Singen wich bald einem rhythmisch keuchenden Atmen, welches sich pfeifend aus ihren Lungen quälte.

Sie hatten kaum die Hälfte der Strecke nach oben hinter sich gebracht, als ihnen klar wurde, dass sie es allein mit Zugkraft kaum bewerkstelligen würden, zumal sie wussten, dass sie dieses wohl schwierigste Teilstück ihrer Prozession noch zweimal zu bewältigen hatten und sie sich deshalb beim ersten Mal nicht schon verausgaben durften.

Es war Rullo, welcher sich an der Spitze der an der linken Seite der Deichsel Ziehenden befand, der als erster diese Situation richtig einschätzte und eine Maßnahme traf.

»Jeweils ... die Ersten ... an den Seilen ... zu den Rädern!«, japste er, während er selbst leicht taumelnd seinen Platz verließ, um mit den anderen unterstützend in die Speichen zu greifen.

Diese Umverteilung der Kräfte bewirkte, dass das Ziehen wie auch das Schieben von allen als wesentlich leichter empfunden wurde, sodass sie den Wagen nunmehr – ohne weiter ins Stocken zu geraten – hügelan bringen konnten.

Als sie endlich zum Scheitelpunkt der Wegkehre zu Füßen des Kaps gelangt waren, mussten sie feststellen, dass diese schmale Stelle wenig Raum für Wagen und Zugmannschaft zugleich bot und dass zwischen dem abschüssigen Weg und dem brodelnden Abgrund zu ihrer Linken nur knapp drei Schritte lagen.

Und an dieser Stelle war es, dass ihre Prozession beinahe ein jähes und katastrophales Ende genommen hätte.

Denn kaum dass sie die Deichsel herumgewuchtet und den Wagen in seine Fahrspur hangabwärts gewendet hatten, da begann dieser unvermittelt mit seinem ganzen Gewicht derart nach vorne zu drücken, dass diejenigen, die sich direkt vor der Vorderachse aufhielten, ins Straucheln gerieten und beiseite springen mussten, um nicht von den Rädern erfasst zu werden.

Dabei wurde Urms, der sich neben dem linken Vorderrad und damit in unmittelbarer Nähe zum Kliff befand, von einem Gefährten von hinten angerempelt, sodass er seinerseits das Gleichgewicht verlor, hinstürzte und über den Rand des Abgrundes rollte. Er wäre wohl unweigerlich auf den Klippen zerschellt, hätte er sich nicht im letzten Augenblick an einem einsam herabhängenden Wurzelgeflecht festhalten können.

Während Urms schreiend und zappelnd in der Steilwand hing, versuchten seine Gefährten verzweifelt, nachdem viele von ihnen im ersten Schrecken die Zugseile hatten fahren lassen, den Wagen, der sich selbstständig zu machen drohte und polternd den Hang hinabzurollen begann, zum Stehen zu bringen.

Der schmale Streifen Land zwischen Wagen und Kliff bot allerdings nicht den Raum, der in dieser Situation nötig gewesen wäre, um von dieser Seite aus schnell und wirksam eingreifen zu können.

Also packten sie die auf dem Boden schleifenden Seile der rechten Deichselseite und zerrten die Deichsel landeinwärts, um die Vorderräder möglichst quer zum Weg zu richten und so den Wagen abzubremsen.

Dieses Unternehmen führte aber aufgrund der von aufkommender Panik geleiteten und damit hastigen Ausführung nur dazu, dass das Heck des Wagens zum Kliff hin aus der Spur getragen wurde und erst zum Stehen kam, als das linke Hinterrad über den Abgrund rutschte und die Achse mit einem hässlich knirschenden Geräusch auf die Felskante schlug.

Wie gelähmt standen sie da, unfähig, angesichts dieses Chaos auch nur irgendeinen klaren Gedanken zu fassen.

Allein Tarkon zeigte Geistesgegenwart und rannte zu der Stelle, an der Urms immer noch hilflos schreiend an dem nun durch dessen heftige Bewegungen immer mehr nachgebenden Wurzelgeflecht hing.

Gerade hatte er sich bäuchlings zu Boden geworfen und dem Abstürzenden beide Arme entgegengestreckt, als ihn ein metallisch kreischendes Geräusch dicht neben ihm, begleitet von einem vielstimmig warnenden Aufschrei seiner Gefährten herumfahren ließ.

Aus seinen schreckgeweiteten Augen musste er erkennen, dass der Wagen, bedingt durch die Hebelwirkung der sanft hin und her wippenden Sonnenscheibe, sich langsam, aber stetig, immer mehr über den Abgrund neigte und just an der Stelle, wo er gerade lag, herunterzustürzen drohte.

»Lass es, Tarkon!«, hörte er Rullo brüllen. »Du kannst ihm nicht mehr helfen. Hilf lieber uns. Der Wagen ist wichtiger.«

Tarkons Verstand sah ein, dass Rullo Recht hatte, denn selbst wenn es ihnen gelänge, den Wagen wieder ganz nach oben zu hieven, würde das Rad dennoch über eben diese Stelle entlangrutschen und Urms seinen letzten Halt entreißen.

Einen Augenblick lang schwankte er zwischen seinem Selbsterhaltungstrieb und der Freundesliebe dem Menschen gegenüber, der ihm auch einst, als er in Lebensgefahr schwebte, unter Nichtachtung seines eigenen Lebens beigestanden hatte.

Doch schließlich entschied er sich für Letzteres.

»Urms! Greif zu! Mach schon, sonst sind wir beide erledigt«, beschwor er ihn.

Urms, dessen Gesicht nur noch eine aschfahle, verzerrte Maske war, suchte die Handgelenke Tarkons zu umklammern, was ihm aber nicht recht gelingen wollte, da er an der schweißnassen Haut immer wieder abglitt, sodass Tarkon stets nachfassen musste, was durch das unausgesetzte Strampeln des Freundes noch erschwert wurde.

»Verdammt, halt doch endlich still – und hör mit dem Gekreische auf!«, zischte Tarkon ihn mit zusammengebissenen Zähnen an.

Das schien zunächst zu fruchten, denn das Schreien und Zappeln brach schlagartig ab.

Doch im gleichen Moment nahm Tarkon eine Veränderung in Urms Zügen wahr.

Urms starrte auf einmal mit vor Angst geweiteten Augen auf irgendetwas schräg über ihm, während seine Lippen zitternd lautlose Worte formten, dann kniff er die Augen zusammen und hing nur noch schlaff und ergeben an Tarkons Armen.

Tarkon schaute irritiert in die Richtung und musste zu seinem Schrecken erkennen, dass sich nun mittlerweile auch das rechte Hinterrad in bedrohlicher Nähe zum Abgrund befand und es nur noch eine Frage von wenigen Augenblicken war, bis der Wagen gänzlich abstürzen würde.

Er schloss kurz die Augen und versuchte die in ihm aufkeimende Todesangst mit aller Macht zu überwinden. Das hier, blitzte es durch sein Gehirn, sollte und durfte nicht sein Ende sein. Eine kalte Wut wider das ihm zugedachte Schicksal stieg in ihm hoch, und er mobilisierte seine letzten Kraftreserven, um den in Angst erstarrten Körper des Freundes doch noch zu sich heraufzuziehen.

Mit aberwitziger Verbissenheit riss und zerrte er, bis es ihm schließlich gelang, auf die Knie zu kommen und Urms Schultern in Höhe des Kliffrandes zu bringen.

Schon begannen seine Kräfte nachzulassen, und ein brennender Krampf durchzuckte seine Unterarme, als er aus den Augenwinkeln einer schattenhaften Gestalt gewahr wurde, die plötzlich neben ihm kauerte. Und dann waren wie aus dem Nichts zwei braune Arme und Hände da, die helfend unter die Achseln Urms griffen.

Dankbar wandte er sich um.

Es war Laruna, und sie lächelte ihn ermunternd an.

Gemeinsam zogen sie Urms über den Rand und legten ihn etwas abseits der Gefahrenzone ab.

Nachdem sie sich kurz vergewissert hatten, dass Urms außer ein paar Schürfwunden keine weiteren Verletzungen davongetragen hatte, liefen sie zu den anderen, die tatenlos und wie unter Schock stehend das Geschehen verfolgt hatten.

»Macht euch an die Seile und zieht, was ihr könnt!«, rief Laruna den Zaudernden noch im Laufen zu.

Die gellende Stimme Larunas riss sie aus ihrer Lethargie, und wie ein Mann stürzten sie sich auf die Seile.

Keinen Augenblick zu früh, denn schon scherte das Heck des Wagens herum und begann langsam über den Felsrand wegzusacken.

Sie zogen aus Leibeskräften und kämpften, die Füße in das spärliche Erdreich gekrallt, gegen das unnachgiebig nach hinten zerrende Gewicht des Wagens, der sich schon bedenklich weit über den Steilhang neigte.

»Wir müssen ... müssen ... einheitlich ziehen«, stieß Tarkon zu Rullo gewandt hervor.

»Zuuu-gleich!«, skandierte Rullo lauthals.

»Zuuu-gleich!«

Und so schafften sie es! Mit einer schier übermenschlichen Kraftanstrengung hievten sie den Wagen empor und brachten ihn wieder auf seine Spur.

Ohne sich eine Ruhepause zu gönnen, nahmen sie ihren Weg wieder auf.

Sie fühlten sich auf einmal unendlich leicht.

Die Kinder der Sonne/Die Nomaden der Meere

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