Читать книгу Die Kinder der Sonne/Die Nomaden der Meere - Bernhard von Muecklich - Страница 15

Kapitel 6

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Mit den letzten Strahlen der untergehenden Sonne, die die große Bronzescheibe noch einmal blutrot aufglühen ließen, schoben sie den Wagen wieder in die Halle.

Sie hatten ihre Aufgabe trotz des unglückseligen Zwischenfalls am Kap ohne weitere Verzögerungen in der ihnen vorgegebenen Zeit bis Sonnenuntergang doch noch erfüllen können.

Nachdem sie den Wagen ordentlich abgestellt und gesäubert hatten, ließen sie sich vor den irdenen, schmucklosen Schalen nieder, die in einem losen Halbkreis auf dem Boden vor Moruns, der sie auf seinem Sessel sitzend erwartet hatte, verteilt worden waren.

Sie fühlten sich jetzt, nach ihrem nerven- und kräfteverzehrenden Tagewerk, einfach nur noch müde und erschöpft. Außerdem nagte der Hunger in ihren Gedärmen, und der Durst brannte in ihren ausgedörrten Kehlen.

Über der Feuerstelle inmitten der Halle hing ein großer Bronzekessel, aus dem ihnen der würzige Duft von Kräutern in die Nasen stieg.

»Schöpft euch eine Schale von der Brühe. Sie wird euch gut tun, denn sie wird euch sättigen und zugleich euren Durst stillen«, sagte Moruns, der bislang ihr Missgeschick mit dem Wagen mit keinem Wort erwähnt hatte.

Einer nach dem anderen verließ daraufhin seinen Platz und füllte seine Schale randvoll mit dem herrlich duftenden Kräutersud.

Schweigend schlürften sie dann langsam und genüsslich ihre Schalen leer. Tatsächlich spürten sie schon nach dem ersten vorsichtigen Nippen an dem seltsamen Gebräu, wie eine prickelnde Frische durch ihre zerschlagenen Glieder zog, und als sie ihre Schalen geleert hatten, war auch das Gefühl von Hunger und Durst vollkommen verschwunden.

Auf diese Weise erfrischt an Geist und Körper, schauten sie erwartungsvoll zu Moruns auf, der sich in diesem Moment von seinem Sessel erhob.

Eine Weile ließ er seinen Blick über den vor ihm hockenden Initianten ruhen, dann fing er mit leiser Stimme an zu reden.

»Heute seid ihr den Weg der Sonne gegangen. Ihr seid dabei an die Grenzen eurer Leistungsfähigkeit gestoßen und habt sie sogar überschritten. Der Weg, den ihr gegangen seid, ist symbolisch für euren Lebensweg, und ihr habt ja erleben können, welche Hindernisse und Beschwerlichkeiten euch auf diesem Weg begegnen können und dass der Tod euch ein ständiger Weggefährte sein wird. Aber bedenkt auch, dass jeder Schritt auf eurem Weg schicksalsweisend für eure Zukunft ist. Jeder von uns hat eine Bestimmung, die er nicht beeinflussen kann. Urms beispielsweise ist heute dem Zugriff des Todes entronnen, aber morgen schon, wenn es denn seine Bestimmung sein sollte, könnte er ihm dennoch erliegen.«

Moruns hielt einen Moment inne und schloss die Augen. Dann fuhr er sich mit der Rechten über die Augen, als ob er ein lästiges Insekt fortscheuchen wollte.

»Ich werde jetzt in meine Kammer gehen und euch nacheinander zu mir rufen, damit ihr mir euren Lebenswunsch nennen könnt.«

Er schaute kurz in die Runde.

»Rullo, wenn du soweit bist, dich mir mitzuteilen, dann komm du als Erster zu mir«, entschied er und zog sich darauf in seine Räumlichkeiten zurück.

Inzwischen war der Mond aufgegangen, und sein fahles Licht fiel durch die große Dachöffnung in das unbeleuchtete Innere der Halle, wo es sich an den bernsteinernen Wänden tausendfach brach, sodass der Raum allmählich von einem geheimnisvollen blauroten Wabern erfüllt wurde.

Aber im Gegensatz zu dem feurig lodernden Widerschein der Sonnenstrahlen am Mittag vermittelte dieses stete, kühle Leuchten das Gefühl tiefer Ruhe, die in ihren Herzen und Köpfen Einzug hielt, sodass sie ihre Gedanken sammeln und sich frei von allen äußeren Einflüssen auf das Gespräch mit Moruns vorbereiten konnten.

Es dauerte noch eine geraume Weile, bis Rullo endlich aufstand und durch die schmale Tür verschwand, die sich hinter dem Sessel Moruns’ befand.

Was Tarkon sich für sein Leben wünschte, lag schon lange klar umrissen vor ihm. Er blickte verstohlen zu Laruna, die mit gesenktem Kopf und offenbar völlig in sich versunken neben ihm kniete.

»Ob es wohl auch ihr Wunsch ist, mit mir zu leben, unsere Kinder großzuziehen und das Land zu bebauen?«, fragte er sich und versuchte irgendeine Regung in ihrem von den langen Haaren zum Teil verdeckten Gesicht herauszulesen.

Doch soweit er es erkennen konnte, blieben ihre Züge verschlossen, noch schien sie seinen Blick überhaupt wahrzunehmen.

Also schloss er die Augen und gab sich unter dem Einfluss der friedvollen Stille um ihn her seinen Träumen hin.

Der Schlaf musste ihn schließlich übermannt haben, denn er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er von der sanften Berührung einer Hand auf seiner Schulter geweckt wurde.

»Liebster, du bist der Nächste, den Moruns zu sehen wünscht«, hörte er die Stimme Larunas in sein Ohr flüstern, und gleichzeitig spürte er den warmen Hauch ihres Atems und einen sachten Kuss auf seiner Wange.

»Laruna? Was ...«

»Pst! Frag nicht und geh!«, unterbrach sie ihn und legte ihm den Zeigefinger auf die Lippen.

Tarkon erhob sich taumelnd und ging zögernd zur Tür.

Bevor er eintrat, schaute er sich noch mal zu Laruna um.

Etwas irritiert sah er, wie sie eiligen Schrittes zum Hallentor strebte und den rechten Flügel weit öffnete.

Dann wandte sie sich um und stand für einen Moment einfach da.

Eine zarte, schmale Frauengestalt vor dem sternenübersäten Nachthimmel.

Mit einer linkisch wirkenden Geste winkte sie ihm noch zu, dann ging sie langsam in die Nacht hinaus.

Tarkons Herz krampfte sich dabei zusammen, und wieder beschlich ihn jenes unerklärliche Gefühl aus Angst und Hilflosigkeit, welches er schon am Morgen verspürt hatte, als er sie bei den Klippen gesucht hatte.

Innerlich aufgewühlt und mit unzähligen Fragen, die in seinem Schädel kreisten, betrat er wenig später die Kammer, in der ihn Moruns neben einem bronzenen Kohlebecken stehend erwartete.

Das kleine, niedrige Gemach wurde nur sehr spärlich von der rot glühenden, zischenden Holzkohle erhellt.

Ein grob gezimmerter Holzrahmen an der Wand neben der Tür, darin ein mit Lummendaunen gefüllter Leinensack – die Bettstatt Moruns’ – war das einzige Möbel in dem Zimmer, dessen Boden nur aus fest gestampfter Erde bestand.

Eine Weile standen sie sich schweigend gegenüber. Offenbar spürte Moruns die Verstörtheit Tarkons und wollte ihm Zeit lassen, seine Gedanken wieder auf den Grund seines Hierseins zu richten.

»Nun, Tarkon, was willst du mir sagen?«, brach Moruns endlich das Schweigen und lächelte ihn ermunternd an.

Schon wollte Tarkon all seine Befürchtungen und quälenden Fragen auf einmal heraussprudeln lassen, als er sich gerade noch an die Mahnung Moruns’ erinnerte, die dieser ihm mit auf den Weg gegeben hatte, als er sich anschickte, nach Laruna zu suchen.

Also schloss er den schon geöffneten Mund wieder und senkte kopfschüttelnd den Blick auf seine Füße.

Da trat Moruns an ihn heran, packte ihn mit beiden Händen an den Schultern und schaute ihm durchdringend in die Augen.

»Du kannst mir deinen Lebenswunsch gar nicht nennen, nicht wahr, da du ihn selbst noch nicht kennst«, flüsterte er heiser. »Das, was du dir wünschst, wird sich nicht erfüllen, denn dir ist anderes bestimmt. Frage deshalb nicht mehr und versuche vor allem nicht, den Lauf des Schicksals zu ergründen, denn es wird sich sowieso alles fügen. Ich aber kenne seit heute deine Bestimmung, und ich verspreche dir, dass auch du sie noch in dieser Nacht erkennen wirst, und dann werden alle deine Ängste von dir genommen sein, und du wirst auch nicht mehr an sie erinnert werden, wenn du diese Insel verlässt.«

Moruns wandte sich mit diesen Worten abrupt von ihm ab, stellte sich mit dem Rücken zu Tarkon wieder vor die Kohlenpfanne und begann, sich über der Glut in aller Ruhe die Hände zu reiben.

Wie angewurzelt verharrte Tarkon nach dieser unerwarteten und rätselhaften Prophezeiung völlig überrascht und gleichermaßen verwirrt an seinem Platz und wagte nicht sich zu rühren, oder gar etwas darauf zu erwidern.

Doch mit einem Male war es ihm, als löste sich ein dicker, würgender Knoten in seinem Inneren, und er fühlte sich einfach nur noch unendlich müde.

»Geh jetzt zu dem hohen Felsen und suche die Stelle, an der du Urms vor dem Abgrund bewahrt hast. Dort erwarte die Sonne«, hörte er noch wie von ferne die Stimme Moruns’.

Wie im Traum und ganz in sich gekehrt, verließ er die Halle und machte sich auf den Weg zum Kap. In tiefen Zügen sog er die klare Nachtluft ein und betrachtete hin und wieder das Glitzern der unzähligen Sterne, die in ihrer geheimnisvollen und ewigen Ordnung das Firmament über ihm bevölkerten.

An der ihm benannten Stelle angelangt, setzte er sich nieder und umschloss die angewinkelten Beine mit seinen Armen.

Er hob sein Gesicht leicht in den lauen, von Osten wehenden Wind und lauschte dem Geräusch der Wellen, die sich am Fuß des Kliffs brachen. Bald schon schwang sein Körper in dem gleichförmigen Rhythmus der Brandung mit, und auch sein Atem glich sich dem steten Auf und Ab der Wellen an.

Irgendwann verlor sich sein Geist in einem traumlosen Schlaf, aus dem er erst wieder erwachte, als die rosigen Strahlen der aufgehenden Sonne den Horizont färbten.

Im Nu war er hellwach und beobachtete bewegungslos und mit zunehmender Spannung, wie der glutrote Ball langsam höher und höher stieg, bis er den ganzen Himmel auszufüllen schien.

Die feurigen Strahlen brannten in seinen weit aufgerissenen Augen, sodass er sie geblendet schließen musste.

Und dann sah er nur noch die gleißend goldene Scheibe der Sonne vor sich, aus der sich allmählich ein Gesicht herausmodellierte, dem auf den ersten Anblick nicht anzusehen war, ob es eine Frau oder einen Mann darstellte.

Es war ein schmales, längliches Gesicht mit ausgesprochen weichen, fast weiblichen Zügen. Die fleischigen, etwas geschürzten und an den Mundwinkeln leicht herabgezogenen bartlosen Lippen, die dem Antlitz eine gewisse Schwermütigkeit verliehen, sowie die lange, schmale Nase unterstrichen diesen irritierenden Eindruck noch. Unter der hohen Stirn funkelten zwei dunkle Augen aus schräg gestellten, mandelförmigen Lidern, die sich unruhig hin und her bewegten, als suchten sie etwas in der Ferne zu erblicken.

An der rechten Schläfe des ansonsten kahl geschorenen Kopfes hing eine einzelne, zu einem dicken Zopf geflochtene Haarsträhne herab.

Aber schon verblasste die Erscheinung wieder, und das Letzte, was er sah, bevor die Vision sich endgültig verflüchtigte, war die elegante Silhouette eines Falken, der sich mit einem schrillen Jagdruf aus der Sonne löste und auf ihn herabfuhr.

Ohne noch länger an diesem Ort zu verweilen, trat Tarkon nachdenklich den Rückweg zum Heiligtum an. Seine Gedanken kreisten um diese merkwürdige Erscheinung, von der er nur intuitiv ahnte, dass sie mit ihm auf eine sein zukünftiges Schicksal bestimmende Art und Weise verknüpft war.

Wer war die Gestalt, die er gesehen hatte? Bei aller Fremdartigkeit, die diesen Zügen innewohnten, kamen sie ihm dennoch seltsam vertraut vor.

Die Sonne, das Gesicht, der Falke – noch konnte er diese drei Elemente seiner Vision in Bezug auf sein künftiges Leben nicht deuten, aber es war ihm plötzlich ganz klar und selbstverständlich, dass er diesem Gesicht eines nicht allzu fernen Tages leibhaftig gegenüberstehen würde und dass erst diese Begegnung ihn der Lösung des Rätsels, welches zweifellos Teil seiner Bestimmung war, näher bringen würde.

Also beschloss er für sich, dem Rate Moruns zu folgen und sich bis dahin keine Fragen mehr zu stellen und den Ereignissen, die die Zukunft für ihn bereithielt, freien Lauf zu lassen.

Es würde sich sowieso alles fügen.

Die Kinder der Sonne/Die Nomaden der Meere

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