Читать книгу Die Kinder der Sonne/Die Nomaden der Meere - Bernhard von Muecklich - Страница 19

Kapitel 10

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Zwölf Tage waren vergangen, seit Tarkon von zu Hause Abschied genommen hatte, um mit den Händlern auf dem Seeweg in das Land Khemet zu fahren. Das war nicht immer so gewesen, waren die Kaufleute doch noch vor wenigen Generationen mit ihren ungefügen Fuhrwerken ausschließlich zu Lande auf dem alten Handelsweg gereist, der weit nach Süden bis über die östlichen Ausläufer des großen Gebirges führte, welches sich vor der Küste des südlichen Meeres auftürmte und bei einem großen, direkt am Meer gelegenen Handelsstützpunkt sein Ende nahm.

Dort warteten die Schiffe der Seehändler, deren Heimat eine ausgedehnte, inmitten des Südmeeres gelegene Insel war, die Keftu genannt wurde.

Die Kaufleute tauschten ihre Güter, und während die einen danach ihren langen und beschwerlichen Weg zurück in ihre nördliche Heimat antraten, segelten die Seehändler mit ihren schnellen Schiffen zu den reichen Ländern, die das Meer weit im Süden und Osten anrainten.

Irgendwann waren dann die Nordleute zu der Einsicht gelangt, dass es doch viel einträglicher wäre, gerade den heiß begehrten Bernstein direkt mit den Endabnehmern zu verhandeln, und so wurden die nächsten Expeditionen von kundigen Schiffsbaumeistern begleitet, die sich die großen, mit Segeln bestückten Fahrzeuge der Seehändler genau ansahen.

Bislang hatten sie robuste, nur von Rudern getriebene Boote gebaut, die mit ihren hohen Steven hervorragend für die küstennahe Fahrt in der oft rauen Nordsee geeignet waren.

Nun aber halfen ihnen die Erkenntnisse, die sie sich im Süden erworben hatten, Schiffe zu bauen, die die guten Eigenschaften sowohl des eigenen, althergebrachten Bootstyps wie auch die der fremden Schiffe vorzüglich in sich vereinten und so in der Lage waren, lange Strecken auf hoher See viel schneller als bisher zurückzulegen.

Ein solches Schiff war auch die Albatros, das größte Schiff und Stolz der Händlergilde, auf dem Tarkon nunmehr seine Pflichten als Mitglied der Besatzung zu erfüllen hatte.

Von Vorder- zu Achtersteven maß es über sechzig Ellen und an der breitesten Stelle über vierzehn Ellen.

Die beiden Steven, die jeweils mit einem kunstvoll geschnitzten Albatroskopf – der eine nach vorn, der andere nach achtern schauend – gekrönt waren, ragten senkrecht sechs Ellen über Bug und Heck.

Vier Ellen Höhe maßen die Bordwände über der Wasserfläche, und an dem mittschiffs im Kiel befestigten Mast, der sich mit sechs Manneslängen in den Himmel reckte, war das große Segel angeschlagen, welches sich gerade in dem kräftigen Wind bauschte, der seit einigen Tagen beständig aus Nordwest wehte.

Für die Herstellung des Segels hatten die Frauen des Dorfes auf ihren Webstühlen zehn Tuchfahnen von vier Ellen Breite und sechzehn Ellen Länge gewirkt, die dann, paarig aufeinandergelegt und mit den Seiten vernäht, ein Rechteck von zwanzig mal sechzehn Ellen bildeten.

Die Umrandung des Segels, wie auch die Nähte, waren mit Lederstreifen verstärkt worden und der Stoff selbst, der aus einem dichten Gewebe aus Wolle und Leinen bestand, war zudem noch mit geschmolzenem Walfett getränkt worden, um ihn windundurchlässig zu machen.

Zum Schutz gegen das salzige Meerwasser waren die eichenen Planken des Rumpfes innen und außen mit Bienenwachs behandelt worden.

Ein wenig wehmütig musste Tarkon, der gerade an der Reling neben dem Vordersteven lehnte und versonnen das stetig schäumende Quirlen der Bugwellen betrachtete, daran denken, dass die Albatros vor zwei Jahren von Truns auf Kiel gelegt worden war, und dass Laruna sich an den Arbeiten tatkräftig beteiligt hatte. So hatte sie beispielsweise die beiden stilisierten Vogelköpfe geschnitzt, mit denen die Steven am oberen Ende abschlossen, oder auch die kunstvoll ineinander verflochtenen Ornamente, die die Dollbords über ihre ganze Länge an Back- und Steuerbord zierten.

Während er so gedankenverloren mit seinen Fingern zärtlich über diese Verzierungen fuhr, tauchte vor ihm das vertraute Bild des heimatlichen Dorfes auf.

Es war ihm nicht sonderlich schwer gefallen, Abschied von zu Hause zu nehmen.

Nach allem, was geschehen war, hatte ihn dort nichts mehr zurückgehalten.

In den intensiven Gesprächen, die er in den Tagen nach Larunas Beerdigung mit seiner Mutter, seinem Großvater und Maeknas geführt hatte, war ihm zudem klar geworden, dass er sich, wenn auch ungewollt, gegen sein ihm zugedachtes Schicksal aufgelehnt hatte, was ihn somit mitschuldig hatte werden lassen an den widrigen Umständen, die letztendlich zum Tode Larunas und Urms’ geführt hatten.

Mit dieser schmerzlich gewonnenen Einsicht verlangte es ihn nur noch, sich nunmehr auf den Weg zu machen, um seinen »Geistbruder«, den er in seiner letzten Vision auf der heiligen Insel gesehen hatte, zu suchen.

So hatte er sich, als die Händler die Albatros für die Fahrt ins goldene Khemet ausrüsteten, kurzerhand um einen Platz an Bord beworben und war angenommen worden.

Er erhoffte sich von dieser Reise aber nicht nur, seinem visionären Rätsel näher zu kommen, sondern auch durch all die neuen Eindrücke und Abenteuer, die ihm zweifellos in der Fremde begegnen würden, den für ihn so notwendigen, nicht nur räumlichen Abstand zu den traumatischen Ereignissen zu gewinnen, die mit dem Tod Larunas verknüpft waren.

Er reckte sich und schaute nach achtern.

Sein Blick fiel auf Luknies, der breitbeinig, die Daumen in den Gürtel gehakt, neben dem Rudergänger stand und ein Liedchen vor sich hin pfiff.

Luknies galt als der erfahrenste Schiffsführer der Gilde, und deshalb hatte man ihm auch für diese Fahrt das Kommando über Schiff und Besatzung übertragen.

Er hatte diesen Winter seinen vierzigsten Geburtstag gefeiert, und dies war seine zehnte Reise in das goldene Land.

Der Schiffsführer war von mittelgroßer, kräftiger Statur.

Sein weißblondes, schulterlanges Haar bildete einen auffälligen Kontrast zu der rotbraunen Hautfarbe, die von seinen Aufenthalten unter der südlichen Sonne zeugte.

Die wachen, wasserblauen Augen, um die unzählige Lachfältchen tanzten, wie auch seine einstmals gerade, dickflügelige Nase, die aber nun, verursacht durch einen Schwerthieb,’ der ihn unterhalb des Nasenbeins getroffen hatte, etwas abgeknickt nach oben wies, verliehen seinem bartlosen Gesicht einen fröhlich verwegenen Ausdruck.

Und Luknies war in der Tat von fröhlicher und offener Natur.

Angst war für ihn ein Fremdwort.

»Der Tod«, pflegte er immer zu sagen, »verliert seinen Schrecken, wenn du ihn dir zum Freunde machst.«

Mit dieser Lebenseinstellung und seinem hervorragenden seemännischen Können hatte er die Mannschaft und das ihm anvertraute Schiff mit seiner kostbaren Ladung schon so manches Mal vor den unberechenbaren Gefahren bewahrt, die auf dem Meere lauerten.

Luknies wusste nicht mehr, durch wie viele furchtbare Stürme er sein Schiff mit sicherer Hand geführt hatte, und die Narben, die sein Körper mannigfaltig aufwies, waren ein beredtes Zeugnis für all die heftigen und oft grausamen Scharmützel, die er sich mit den beutelüsternen Piraten, die wie eine Plage das südliche Meer durchkreuzten, geliefert hatte.

Tarkon, der ja zum ersten Male zu einer so langen Reise auf hoher See aufgebrochen war, erhielt, schon wenige Tage, nachdem sie abgelegt hatten, eine Kostprobe von Luknies’ bereits zur Legende gewordenen Seefahrertalentes.

Sie hatten gerade die Enge zwischen den Zinninseln und dem Festland durchfahren, als sich am frühen Nachmittag dunkle Wolken am Himmel auftürmten, die alsbald ihre nasse Last über ihnen ausschütteten.

Zugleich hatte sich der schlagartig auffrischende Wind gedreht, sodass er nun kräftig aus Fahrtrichtung blies.

Daraufhin hatte Luknies das Segel dwars stellen lassen, um so luvgierig unter die Küste des an Backbord gelegenen Festlandes gelangen zu können, wo sie Zuflucht hätten finden können.

Doch schneller als erwartet, hatte sich der Wind zu einem ausgewachsenen Orkan entwickelt, der die See zum Kochen brachte und haushohe Wogen über ihre in Luv gebotene Breitseite herabbrechen ließ.

Anfänglich hatte Luknies noch das Segel reffen und die Riemen zur Stabilisierung des Bootes ausbringen lassen, doch auch diese Maßnahme erwies sich sehr bald als vergebliche Mühe.

Brecher auf Brecher fegte über das Deck der Albatros, die jetzt hilflos der entfesselten Natur preisgegeben war.

Das war der Moment, als Luknies selbst das Ruder übernahm.

Mit seinem gewaltigen Stimmorgan, das selbst das Heulen des Orkans übertönte, befahl er, die Riemen einzuholen und hieß die Männer, sich mittels der unter den Duchten angebrachten Tampenschlaufen so gut es ging zu sichern.

Unter diesen widrigen Umständen war nicht mehr daran zu denken, das Schiff landwärts zu halten, und so drehte Luknies den Bug in den Sturm, sodass das Boot nur noch einen geringen Widerstand gegen die heranrasenden Wellen bot.

Während die Albatros nunmehr mit scheinbarer Leichtigkeit über die brodelnden Wogenkämme ritt, lachte Luknies aus vollem Hals und stimmte wilde Seemannslieder an, die von der ganzen Mannschaft mit Begeisterung mitgesungen wurden.

Tarkon hingegen, der von dem kräftezehrenden Rudern völlig erschöpft über seiner Ducht gebeugt saß, wurde es von dem steten Auf und Ab mit einem Male so übel, dass er sich unentwegt übergeben musste.

Erst nachdem er auch den letzten Rest Galle aus seinem Magen gespieen hatte, verfiel er allmählich in einen traumlosen Dämmerschlaf, der ihn die Nässe und Kälte, die in und um ihn war, nicht mehr spüren ließ.

Irgendwann wachte er wieder auf, als es in sein Bewusstsein gedrungen war, dass ihm jemand mehrmals mit der flachen Hand auf die Schulter geschlagen hatte.

Als er daraufhin immer noch ganz benommen die Augen öffnen wollte, musste er sie sofort wieder schließen, denn grelles Sonnenlicht hatte ihn geblendet.

Blinzelnd schaute er zur Seite und nahm den Schemen eines Gesichtes wahr.

Er erkannte Turuns, den Sohn Luknies’, der mit ihm auf der Ducht saß, wenn es zu rudern galt.

»Na, haben wir ausgeschlafen?«, hörte er ihn gutmütig spotten.

Turuns war acht Jahre älter als er und gehörte seit seiner Initiation zur Seefahrergilde.

Von seinem Vater hatte er die albinoartigen Haare geerbt, er überragte Luknies jedoch um Haupteslänge.

Sein Gesicht ähnelte dem seiner Mutter.

Seine großen, mandelförmigen Augen und sein volllippiger Mund unter der schmalen, geraden Nase ließen seine Züge melancholisch erscheinen, was aber seinem Naturell in keinster Weise entsprach.

Es war Turuns’ vierte Fernfahrt mit seinem Vater, und dieser hatte ihn für die Reise wohlüberlegt an Tarkons Seite gestellt.

»Wie lange ... äh ... habe, habe ich geschlafen?«, krächzte Tarkon, wobei er mühsam versuchte, sich aufzurichten, was ihm aber mit seinen klammen und teilweise eingeschlafenen Gliedmaßen nicht recht gelingen wollte.

Er fühlte sich zerschlagen, und außerdem hatte er furchtbaren Durst.

Er fuhr mit seiner pelzigen Zunge über die spröden Lippen, die wie sein Rachen mit einer rauen Salzkruste überzogen zu sein schienen.

»Na ja, einen Tag und eine Nacht«, sagte Turuns bedächtig, während er Tarkon einen hölzernen Becher mit Wasser darbot.

»Warum habt ihr mich nicht geweckt?«, fragte Tarkon, nachdem er den Becher in einem tiefen Zug geleert hatte.

»Weshalb dich wecken? Um was zu tun?«, erwiderte Turuns sarkastisch. »Wir alle konnten diesen Sturm sowieso nur untätig über uns ergehen lassen und beten, dass der Kahn heil bleibt!«

Tarkon schaute sich um und stellte zu seinem Erstaunen fest, dass der Mast noch stand, das Segel sich im Wind blähte und auch sonst alles an seinem Platze war.

»Wo ist dein Vater?«, fragte er, als sein Blick auf den Rudergänger fiel, der alleine auf dem Achterdeck stand.

»Der hat sich heute in aller Frühe im Laderaum zum Schlafen hingelegt. Willst du noch Wasser?«

»Ja, gerne!«

»Dann steh auf und hols dir!«, erwiderte Turuns lachend und half Tarkon auf die Beine.

Tarkon war der einzige Neuling an Bord, und während er steifbeinig zum Wasserfass stakste, welches mittschiffs am Mastbaum angeflanscht war, wagte er es kaum, seinen Blick zu den anderen Besatzungsmitgliedern zu erheben, so sehr schämte er sich, das Unwetter, oder wie Turuns sich nachträglich ausgedrückt hatte, »die lächerliche Mütze voll Wind«, einfach verschlafen zu haben.

Doch die freundlich derben Zurufe aus der Mannschaft und das kühle frische Wasser, das seine Lebensgeister wieder wachrief, hatten ihn schon bald zu seiner guten Laune zurückfinden lassen.

Dazu trugen auch die veränderten Wetterverhältnisse bei, die sich während der nächsten Tage nicht mehr wesentlich verändern sollten.

Die Sonne strahlte von einem nahezu wolkenlosen blauen Himmel, und eine kräftige, warme Brise ließ das Schiff schnell vorankommen.

Sie waren seit dem Sturm fünf Tage lang immer in Sichtweite des an Backbord gelegenen Festlandes in südlicher Richtung gesegelt, bis gestern Nachmittag ein schmaler Landstreifen am Horizont aufgetaucht war, der sich weit nach Westen erstreckte.

Als der Toppsgast das Land ausgerufen hatte, ließ Luknies nach Backbord beidrehen und nahm Kurs auf die nahe Festlandsküste.

Zielsicher steuerte er eine kleine, geschützte Bucht an, in der sie wenig später vor Anker gingen, um ihre Vorräte zu ergänzen.

»Dieses Land dort am Horizont wird Iberune genannt«, hatte Turuns Tarkon erklärt. »Wir müssen es ganz umsegeln, um in das Südmeer zu gelangen. Das wird mindestens weitere zehn bis zwölf Tage dauern, und wir können während dieser Zeit nicht an Land gehen, außer ein Notfall zwänge uns dazu. Die Eingeborenen dieser Küsten sind nämlich wilde, räuberische Menschen«, hatte Turuns noch bedeutungsschwanger hinzugefügt.

Nahe der Bucht befand sich eine kleine Siedlung, deren Bewohner sie schon am Strand erwarteten und gastfreundlich begrüßten.

Anfangs fiel es Tarkon schwer, ihre Sprache zu verstehen, doch bald hatte er sich an den singenden Tonfall ihres Dialektes gewöhnt und konnte den Gesprächen, die später am Abend an den Lagerfeuern geführt wurden, einigermaßen folgen.

Luknies und die meisten Männer der Besatzung waren den Dorfbewohnern wohl bekannt, und diese hatten zu Ehren ihrer Gäste ein Paar Lämmer und Zicklein geschlachtet, die nun über den Feuern am Spieß gedreht wurden.

Als Tarkon später davon kostete, war es ihm, als ob er niemals zuvor etwas ähnlich Köstliches gegessen hätte.

Die Fleischstücke wurden in einer Soße dargereicht, deren herbes und intensiv würziges Aroma ihm angenehm in die Nase stieg.

Auch das warme, weiße Brot, das ihm als Beilage geboten wurde, verströmte einen betörenden Duft von unbekannten Kräutern, die dem Teig offenbar zugemischt worden waren.

Nachdem er sich satt gegessen hatte, streckte er sich der Länge nach am Feuer aus, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und schaute in den von Sternen übersäten Himmel. Nie zuvor hatte er ununterbrochen so viele Tage und Nächte auf See verbracht, und so lag er einfach nur da und genoss die feste, ruhende Erde unter seinem Rücken.

Eine lange Weile lauschte er noch den Liedern, die die Dorfbewohner sangen.

Die Weisen, die ihm im gleichen Maße fremd, aber auch irgendwie vertraut vorkamen, ließen ihn die hinter ihm liegenden Strapazen vergessen und lullten ihn schließlich in einen friedvollen Schlaf ein, wie er ihm seit jenen unseligen Geschehnissen in der Heimat nicht mehr vergönnt gewesen war.

Früh am nächsten Morgen schafften sie gemeinsam mit den Einheimischen die Lebensmittel an Bord, darunter auch jene gelben Früchte, die Tarkon schon von zu Hause kannte, da die Seefahrer sie bisweilen von ihren Fahrten in den Süden mitgebracht hatten.

Sie schmeckten fürchterlich sauer, doch ihr Fruchtfleisch zu essen oder ihren Saft zu trinken war der Gesundheit förderlich.

Gegen Mittag war es dann soweit, Abschied voneinander zu nehmen.

Luknies überreichte dem Dorfältesten mehrere Bernsteinketten sowie etliche bronzene Sicheln zum Dank für die reichlich erfahrene Gastfreundschaft.

Dann ruderten sie aus der Bucht, und noch lange nachdem sie das Segel gesetzt hatten, sahen sie die Dorfbewohner, wie sie ihnen vom Strand aus hinterherwinkten.

Das Wetter blieb ihnen günstig gesonnen, und so segelten sie mit gutem Wind und westlichem Kurs entlang der Küste des Landes, das Iberune genannt wurde.

Nach knapp drei Tagen umrundeten sie das Kap, welches das Ende dieses Landes nach Westen hin bildete, und Luknies ließ das Schiff wieder nach Süden steuern.

Zehn Tage hielten sie diesen Kurs bei, bis sie zu einer Landmarke gelangten, an der die Küste hart nach Südosten abknickte.

Dann, nach zwei weiteren Tagen und Nächten, befahl Luknies am Morgen des dritten Tages beizudrehen, das Segel zu reffen und die Riemen auszubringen.

Während sie auf die Küste zuhielten, erkannte Tarkon eine große Flussmündung, in die sie kurze Zeit später hineinruderten.

Sie mussten noch eine geraume Zeit flussaufwärts rudern, bis endlich die ersten Häuser einer großen Siedlung auszumachen waren, die sich entlang dem an Steuerbord gelegenen Flussufer erstreckte.

Zwischen dem zum Schutz aufgeschütteten Ringwall mit seiner spitzpfähligen Palisade, der die Siedlung landwärts umgab, war das Ufer mittels Steinblöcken und mächtigen Holzpfeilern begradigt, erhöht und befestigt worden.

An dieser künstlich geschaffenen Anlegestelle, an der noch zwei weitere Schiffe fremder Bauart vertäut waren, machten sie alsbald fest.

Tarkon kannte diesen Ort schon seit seiner Kindheit aus den Erzählungen seines Vaters und seines Großvaters.

Die Händlergilde hatte diesen Stützpunkt vor zwei Generationen eingerichtet, um einen Vertrag mit den Kaufleuten der Insel Kefta, die das südliche Meer beherrschten, zu erfüllen.

Für die freie Fahrt der Gildeschiffe nach dem Lande Khemet hatten sich diese einen Hafen außerhalb der Pforte, die zum südlichen Meer führte, sowie Handelslizenzen für ihre Reisen nach Norden ausbedungen.

So erhielt die Siedlung von den Nordleuten den Namen Tar’eses, »Hafen nach Osten«.

Luknies hatte der Besatzung mitgeteilt, dass sie hier allenfalls zwei Tage Aufenthalt hätten. Er wollte mit den hiesigen Händlern, die das Binnenland bereisten, Waren und Erfahrungen austauschen, um dann und unter den günstigen Wetterbedingungen, die voraussichtlich nur noch wenige Tage anhalten würden, so schnell wie möglich die gefährliche Meerenge, die die Pforte zum Südmeer genannt wurde, zu passieren.

Turuns hatte sich erboten, Tarkon die Siedlung zu zeigen, was dieser auch – von Neugier angestachelt und um jede Abwechslung dankbar – freudig akzeptierte.

Es war am frühen Nachmittag, als sich die beiden auf den Weg machten, die Handelsniederlassung zu erkunden.

Tarkon, der immer ein wenig skeptisch den abenteuerlichen Berichten der heimkehrenden Seeleute gelauscht hatte, konnte sich nun mit eigenen Augen überzeugen, dass das, was man ihm über diesen Ort erzählt hatte, keineswegs übertrieben war.

Das Areal, was sich innerhalb des Halbrunds des Schutzwalles erstreckte, war zwar nicht wesentlich größer als die Flächen, auf denen die Dörfer und Weiler seiner Heimat errichtet worden waren, nur dass in Tar’eses die bauliche Ausnutzung dieser Fläche ungleich anders gehandhabt wurde, als er es von daheim gewohnt war.

Während es nämlich im Norden üblich war, einen reichlichen Abstand zwischen den Häusern und Gehöften der Nachbarn zu halten, schmiegten sich hier die Häuser Wand an Wand, nur von einigen schmalen Gassen durchzogen, eng aneinander.

Folglich lebten hier auch viel mehr Menschen zusammen, was nicht nur zu sehen und zu hören, sondern letztlich auch zu riechen war.

Schon als sie angelegt hatten, war Tarkon dieser süßlich faulige Gestank, den die Siedlung über den Hafen hinweg ausdünstete, unangenehm in die Nase gestiegen.

Obgleich es noch Frühling war, herrschte hier zur Zeit eine schweißtreibende sommerliche Hitze, die die Luft über dem Ort förmlich stehen ließ und so den üblen Geruch, der wohl von Exkrementen, Abfall und brackigem Wasser herrührte, nur noch verstärkte, was bei Tarkon zunächst eine leichte Übelkeit auslöste.

Doch das hielt zum Glück nicht lange an, und als sie später ihren Rundgang begannen, hatte seine Nase sich an diese widrige Begleiterscheinung weitgehend gewöhnt, sodass er sich nun ganz unbeschwert dem Neuen und Unbekannten, was ihn hier zweifellos erwartete, zuwenden konnte.

Das Erste, was ihm auffiel, war die hektische Betriebsamkeit, die allerorten am Hafen und in der Siedlung herrschte.

Im Vergleich zu der eher beschaulichen Ruhe und Bedächtigkeit, mit denen die Menschen im Norden ihren täglichen Verrichtungen nachgingen, schoben sich hier die Menschen lärmend und scheinbar ziellos durch die Gassen oder umringten schreiend und gestikulierend die vielen kleinen Verkaufsstände, die überall auf dem großen, freien Platz am Hafen aufgebaut waren.

So verschieden hier die Menschen in ihrem Äußeren und in ihrer Herkunft waren, so unterschiedlich war auch die Bauweise der Häuser, die sie bewohnten.

Neben den hochgiebligen Blockhäusern, die Tarkon von seiner Heimat her vertraut waren, gab es auch solche, die rund aus behauenen Steinen errichtet und mit einem kappenförmige Dach aus Strohgarben bedeckt waren.

Ziemlich am Ende ihres Rundganges gelangten sie dann noch zu einer in sich geschlossenen Häusergruppe, die offenbar ein gesondertes Viertel innerhalb der Siedlung darstellte und direkt an den ostwärtigen Teil des Hafens anschloss.

Diese Häuser waren von einer Architektur, deren fremdartige Eleganz Tarkon sofort in Bann schlug.

Auf einem großzügig angelegten rechteckigen Fundament erhoben sich um einen lichten Innenhof die aus gebrannten Tonziegeln gemauerten Wände, die bei einigen Häusern zwei Stockwerke hoch waren.

Das flache Dach, das die darunter liegenden Wohnräume bedeckte, ragte über die innere Wand in den Lichthof hinein und ruhte dort auf bunt bemalten hölzernen Pfeilern, die in gleichmäßigen Abständen entlang des Hofgevierts in den Boden eingelassen waren.

Doch auch das Dach wurde offensichtlich von den Hausbewohnern als Garten genutzt, denn über der etwa hüfthohen Brüstung, mit welcher die Außenmauern nach oben hin abschlossen, waren die Spitzen verschiedener kleiner Bäume und Sträucher zu sehen, und dazwischen hingen üppig blühende Pflanzen, wohlriechenden und schillernden Kaskaden gleich, von der Brüstung herab.

Die weiß verputzten Außenwände wiesen große, rechteckige Öffnungen auf, durch die so viel Tageslicht ins Innere gelangte, dass die dort befindlichen Räume bis in die Abendstunden immer angenehm hell blieben. Nur des Nachts und bei schlechtem Wetter wurden von innen hölzerne Läden angebracht, die vor Kälte, Wind und Nässe schützten.

»Diese Häuser gehören den Händlern aus Keftu«, erklärte Turuns, dem das bewundernde Staunen seines Gefährten nicht entgangen war.

»Sie halten sich für etwas Besseres und verwehren deshalb den anderen Bewohnern der Siedlung den Zugang zu diesem Viertel, das sie zudem mit Hunden und Sklaven Tag und Nacht eifersüchtig bewachen lassen. Ich wundere mich übrigens, dass man uns noch nicht davongejagt hat«, setzte er sarkastisch hinzu.

Tarkon sah sich um und bemerkte erst jetzt, dass sich hier in der Tat und mit ihrer Ausnahme niemand aufhielt.

»Aber warte nur, bis wir in Keftu sind«, sagte Turuns. »Gegenüber den Häusern, die du da zu sehen bekommst, nehmen sich diese hier eher wie armselige Katen aus. Komm, lass uns zurück zum Hafen gehen, ich habe Durst!«

Wieder am Hafen angelangt, ging Turuns zielstrebig zu einer der vielen kleinen Hütten, die den Platz vor der eigentlichen Siedlung in bunter Vielfalt säumten.

Es waren einfache, aus Lehmziegeln gebaute, schilfgedeckte Hütten, die nach vorne hin offen waren.

Nur ein breites, massives Holzbrett, welches in die beiden Seitenwände eingelassen war, hinderte den Besucher, das Innere zu betreten.

Der Lehmverputz einer jeden dieser Hütten war in einer anderen, zumeist auffallend grellen Farbe gestrichen worden.

So hatte die Hütte, die Turuns sich ausgesucht hatte, einen hellblauen Anstrich erhalten.

»Was gibt es hier zu sehen?«, fragte Tarkon misstrauisch, während sie sich noch ihren Weg durch die unüberschaubare Menschenmenge bahnten.

»Nun, zu sehen gibt es hier vor allem die vielen interessanten Leute, die sich auf diesem Platz tummeln«, gab ihm Turuns trocken zur Antwort. »Aber sollte sich deine Frage auf das Geheimnis, welches diese elende Bude da birgt, beziehen, so kann ich dir verraten, dass du dort alles finden wirst, was du für die Befriedigung deiner leiblichen Bedürfnisse benötigst, die du sicherlich nach diesem langen Ausflug in Magen und Kehle verspüren magst.«

»Du meinst, es gibt hier etwas zu essen und zu trinken?« Tarkon schaute sich ungläubig um.

Vor der Hütte waren wirklich ein paar hohe, einbeinige Holztische aufgestellt, um die sich nicht wenige Leute geschart hatten, die von den appetitlich aussehenden Speisen aßen, welche, auf kleinen Holztellern angerichtet, auf den Tischen verteilt waren. Auch dem Inhalt der großen tönernen Becher, die ein jeder vor sich abgestellt hatte, wurde eifrig zugesprochen, wobei sich zum Teil recht lautstark, aber augenscheinlich fröhlich miteinander unterhalten wurde.

Als er sich Turuns wieder zuwandte, sah er, wie sich gerade die Gestalt eines unglaublich hageren Mannes aus dem Halbdunkel des hinteren Teiles der Hütte schälte und nach vorne schlurfte.

Das schmale, triefäugige Gesicht wurde von einem enormen Schnauzbart beherrscht, der reusenartig über den Lippen hing.

Sein leicht gebeugter Oberkörper war dicht behaart, ebenso die Beine, die unterhalb des ehemals weißen Leinentuchs, welches ihm viel zu weit um die Hüften geschlungen war, zu sehen waren.

Wortlos und ohne eine Miene zu verziehen, stellte er zwei randvoll gefüllte Becher vor den beiden ab, um sich mit dem gleichen mürrischen Gesichtsausdruck einem Neuankömmling zu widmen, der sich unterdessen neben Tarkon gestellt hatte.

Turuns beobachtete amüsiert, wie Tarkon dieser Szene mit zunehmender Verdutztheit folgte.

Als Tarkon ihn dann hilflos fragend ansah, brach er vollends in schallendes Gelächter aus.

»Mach dir nichts draus! Der alte Griesgram hat, soviel ich weiß, noch nie ein Wort an seine Gäste verloren. Schon mein Vater hat mir von ihm erzählt, und auch er hat ihn noch nie sprechen hören. Aber er hat gutes Essen, und vor allem hat er den besten Wein, den es an diesem stinkenden Ort gibt!«

»Wein?«, entfuhr es Tarkon fast andächtig, denn er hatte schon viel von diesem heilsamen, aber auch berauschenden Getränk gehört, doch noch nie davon gekostet. Die Händler brachten zwar immer einige tönerne Gefäße mit Wein von ihren Reisen mit, aber sie verkauften ihn nicht, sondern behielten ihn für ihren eigenen Bedarf.

Turuns sah Tarkon belustigt von der Seite an.

»Ja, Wein«, sagte er. »Der gegorene Saft von kleinen, runden Früchten, die die Kefter in ihrer Heimat anbauen. Schmeckt einfach köstlich. Probier doch mal!«

Während er selbst einen kräftigen Schluck aus seinem Becher nahm, nippte Tarkon erst vorsichtig daran.

Es war überraschend kühl, schmeckte fruchtig herb und auch ein wenig nach Erde.

Turuns goss eine kleine Lache auf das Brett.

»Schau, dieser Wein ist weiß«, erklärte er, »aber es gibt auch roten Wein. Den kannst du danach auch einmal kosten. Er hat zumeist mehr Süße als der Weiße, aber er ist auch kräftiger und steigt schnell in den Kopf!«

»Sag mal, ich nehme ja nicht an, dass der Alte uns den Wein schenkt. Das wird doch sicher ein teurer Spaß?«, gab Tarkon argwöhnisch zu bedenken.

»Ach, keineswegs!«, entgegnete Turuns heiter. »Der Wein ist hierzulande genauso alltäglich wie bei uns das Bier. Du wirst sehen, ein, zwei Bernsteinperlen, und unser triefäugiger Freund ist zufrieden. Nimm übrigens von dem Käse und den Fleischbällchen, sie passen wunderbar zu dem Wein.«

Jetzt nahm auch Tarkon einen tiefen Zug aus seinem Becher, durch dessen tönerne Wand die Kühle des Weins transpirierte, was in der Hitze, die sie umgab, zudem noch erfrischend wirkte.

Turuns hatte sich derweil umgedreht und lehnte nun mit dem Rücken an dem Schankbrett.

»Jetzt schau dir nur die Leute an. So verrückt, wie die sich hier gebärden, wirst du es kein zweites Mal erleben, weder in Keftu noch später in Khemet. Ich war ja nun schon einige Male hier, aber es ist immer wieder interessant«, sagte er und schob sich genüsslich ein Fleischbällchen in den Mund.

Tarkon wandte sich nun auch um und ließ seinen Blick über den Platz schweifen.

Es war ein ständiges Kommen und Gehen.

Männer, Frauen mit ihren Kindern – alle kamen irgendwann auf diesen Platz am Hafen, sei es, um hier wichtige Geschäftsabschlüsse zu tätigen, oder einfach nur, um etwas zu essen und zu trinken und dabei mit Bekannten ein Schwätzchen zu halten.

Als Tarkon vorhin durch die Gassen der Siedlung gegangen war, schienen ihm alle Menschen in dem dort herrschenden Gedränge auf den ersten Blick ziemlich gleich auszusehen.

Nun aber, und je länger er das bunte, laute Treiben vor ihm in Muße beobachten konnte, lernte er die Menschen an ihrem Äußeren und damit auch nach ihrer Herkunft zu unterscheiden, wobei ihm Turuns mit seiner Erfahrung äußerst hilfreich war.

Neben seinen Landsleuten, die sich hier während der vergangenen Jahre in nicht geringer Anzahl niedergelassen hatten und an ihrer landesüblichen Tracht leicht zu erkennen waren, gab es offensichtlich noch zwei weitere große Bevölkerungsgruppen, auf die ihn Turuns nunmehr aufmerksam zu machen begann.

»Siehst du die drei finster dreinblickenden Halunken, die da mit ihren Weibern um den letzten Tisch links von dir stehen?«, sagte er halblaut, während er unmerklich mit seinem Kopf in die Richtung wies.

Tarkon folgte dem Hinweis und musterte daraufhin die Fremden eingehend, die ihm in der Tat nicht sehr Vertrauen erweckend erschienen.

Die drei Männer waren von kleiner, untersetzter Statur, und ihre Haut hatte die Farbe schmutzigen Kupfers.

Die Oberkörper waren nackt, und um die Hüften trugen sie breite Gürtel, die ihre knielangen Hosen aus scheckigem Ziegenfell festhielten.

Jeder von ihnen hatte mehrere Dolche im Gürtel stecken, was auf den Betrachter an sich schon bedrohlich wirkte.

Aus Ziegenfell war auch die unförmige Kappe, die sie über ihre langen schwarzen Haare gestülpt hatten, die ihnen in fettigen Strähnen in die wieselspitzen Gesichter fielen.

Über der Oberlippe wucherte ihnen ein mächtiger Schnurrbart, dessen geflochtene Enden bis weit unter das Kinn reichten, was ihren ohnehin schon verschlagenen Gesichtszügen noch eine Spur Verwegenheit verlieh.

»Hör auf, sie so offensichtlich anzustarren«, zischte Turuns, »sonst hast du, schneller als du denken kannst, ein Messer im Bauch!«

Tarkon schaute ihn verständnislos an.

»Tja, diese reizenden Zeitgenossen verstehen nämlich keinen Spaß, musst du wissen«, erklärte Turuns ihm mit einem verächtlichen Lächeln. »Diese Kerle kommen aus Sherdana, einer der vielen Inseln des Südmeeres. Du hast ihre Häuser gesehen, diese schmutzigen Bienenkörbe! Sie geben vor, Handel zu treiben, aber in Wahrheit sind es allesamt Piraten, die sich wie Zecken über unsere Schiffe und die der Keftier hermachen. Während der letzten Reise nach Khemet, es war auf dem Rückweg, haben sie uns aufgelauert. Wollten uns des Nachts überfallen. Keiner von denen hat die Auseinandersetzung überlebt. Ein übles Pack, sage ich dir, und dazu auch noch feige!«

»Was ist mit den Frauen, die bei ihnen stehen?«, wollte Tarkon nun wissen. »Ich habe den Eindruck, dass die wenig gemein mit diesem schmierigen Gesindel haben.«

In der Tat unterschieden sich die drei Frauen in ihrem Äußeren ganz erheblich von ihren Begleitern.

Es waren hoch gewachsene, hellhäutige und auf den ersten Blick sehr anmutige Frauen, wären da nicht die grellen Farben in ihren Gesichtern gewesen – feuriges Rot auf Wangen und Lippen, Blau auf den Lidern und schwarze Linien um die Augen –, die ihre Züge kalt und wesenlos erscheinen ließen.

Die eine war blond, die beiden anderen dunkelhaarig.

Sie trugen weiße, bis zu den Knöcheln reichende Leinenroben, die die gold bereiften Arme freiließen, und an den Seiten bis zu den Oberschenkeln geschlitzt waren.

Auch war das Gewand unterhalb des Halsansatzes sehr freizügig ausgeschnitten, sodass die vollen Brüste bis fast zu ihren Spitzen zu sehen waren.

Turuns leerte seinen Becher mit einem einzigen tiefen Schluck.

»Dein Gefühl hat dich nicht getäuscht«, sagte er befreit ausatmend, während er sich den Mund mit dem Handrücken abwischte.

»He, Triefauge! Bring uns noch einen Becher!«, rief er dem Wirt kurz über die Schulter zu, um sich dann wieder ganz seinem Gegenüber zu widmen.

»Also, die Frauen da, das sind ... na ja, das sind ... Huren!«

»Huren? Von diesem Volk hörte ich bisher nie etwas.«

Turuns, der gerade seinen Becher zu einem neuerlichen Zug an seine Lippen geführt hatte, verschluckte sich ob dieser nüchtern wie treuherzig vorgebrachten Bemerkung seines Schützlings.

Der Wein in seiner Luftröhre verursachte ihm zunächst ein krampfhaftes Husten, welches sich kurz darauf in einem prustenden Gelächter löste.

»Entschuldige bitte! Ich verfüge zwar nicht über den reichen Schatz deiner Erfahrungen, den du dir während deiner Reisen ohne Zweifel erworben hast, aber ist das ein Grund, sich über meine zugegeben mangelnden Kenntnisse um die vielen fremden Völker, die diese Welt bewohnen, hier auf diese Art und Weise lustig zu machen?«

In Tarkons Stimme schwang unverhohlener Unmut.

Turuns hatte sich derweil wieder einigermaßen gefasst und sah ihm gerade in die Augen.

»Tarkon, mein Freund – erlaube mir, dich so zu nennen, denn ich schätze dich sehr, und nichts liegt mir ferner, als dich zu beleidigen«, sagte er begütigend. »Aber wenn ich dir erklärt haben werde, was Huren sind, dann wirst auch du lachen. Also, bei Huren handelt es sich keineswegs um einen Volksstamm, sondern um die Bezeichnung des Gewerbes, welchem diese Frauen nachgehen. Die Frauen haben sich nämlich von Jugend an in den raffiniertesten Spielarten der körperlichen Liebe geübt und bieten ihre kunstfertigen Dienste jedem Mann an, der dafür bezahlen kann!«

»Willst du damit sagen, ich gebe einer solchen Frau ein, zwei Bernsteinperlen und erkaufe mir so ihre körperliche Gunst?«, unterbrach ihn Tarkon ungläubig.

»Genau«, entgegnete Turuns grinsend. »Nur dass dafür ein, zwei Perlen nicht ausreichend sind. Da musst du schon mindestens ein, zwei Ketten hinlegen, um auf deine Kosten zu kommen.«

»Hast du etwa ...?«

Tarkon vollendete seine Frage nicht, da er die Antwort bereits in dem genüsslich verklärten Blick seines Begleiters lesen konnte.

»Natürlich«, kam es auch prompt über Turuns’ Lippen. »Wenn auch nicht in diesem Drecksnest, sondern in Keftu und vor allem in Khemet. Gegenüber den Huren, die du dort finden wirst, sind die Weiber hier eher Anfängerinnen ihrer Zunft.«

Tarkon ließ seinen Blick noch einmal verstohlen zu den drei Frauen wandern, die eng an ihre Freier geschmiegt dastanden und ihnen mit spitzen Fingern immer wieder Leckereien in die Münder steckten, wobei sie stets obszön kicherten.

»Die zwei Schwarzhaarigen sind übrigens aus Khemet, falls es dich interessiert«, sagte Turuns beiläufig. »Aber im Vergleich zu ihren Schwestern dort sind die hier allenfalls dritte Wahl.«

Tarkon, der gerade fasziniert die beiden feingliedrigen Frauengestalten mit ihren unglaublich schmalen Taillen betrachtet hatte, fuhr verblüfft herum.

»Was? Wieso dritte Wahl? Für mich sehen die beiden aber recht attraktiv aus, muss ich sagen«, entgegnete Tarkon errötend.

»Weil ihre Haare echt sind«, sagte Turuns verschmitzt. »Die reichen Frauen in Khemet, wie eben auch die besseren Huren, tragen Perücken, falsche Haare also, über ihren kahl geschorenen Schädeln! Diese abstruse Sitte, der im Übrigen auch die wohlbestallten Männer folgen, unterscheidet sie von den Unfreien und den niederen, arbeitenden Ständen ihrer Gesellschaft.«

Turuns setzte darauf wieder eine ernste Miene auf und schaute Tarkon eine Weile nachdenklich über den Rand seines Bechers an.

Dann nahm er einen herzhaften Schluck, schloss kurz die Augen und legte seinen Arm um Tarkons Schulter.

»Komm, mein Freund, nimm deinen Becher und genieße den Wein, während ich versuchen werde, dir ein paar grundlegende Eigenheiten von der Welt da draußen zu erläutern, von denen du während des weiteren Verlaufs dieser Reise gewisslich profitieren wirst.«

Mit humorvollem Sarkasmus entführte Turuns Tarkon nun in die von körperlicher Sinnenlust geprägte Alltagswelt der Völker des Südens und schilderte all die pikanten Einzelheiten, die die Händler und Seeleute in ihren Berichten über die fremden Sitten und Gebräuche am heimischen Herd geflissentlich unberührt ließen.

Staunend erfuhr er, dass die Damen in Keftu über ihren farbenfrohen, langen Reifröcken knapp sitzende Miederjäckchen trugen, die jedoch die nackten Brüste vollständig aussparten.

In Khemet wiederum pflegten sich die Frauen in hautenge, knöchellange und ärmellose Gewänder zu kleiden, die ihre weiblichen Formen besonders betonten, und deren Stoff so dünn und fein gewebt wurde, dass er nahezu durchsichtig war.

»Du meinst, die Frauen dort finden nichts dabei, sich auf diese Weise in aller Öffentlichkeit zu zeigen oder ihre Körper ohne jede Scham an jeden Fremden gegen ein Entgelt zu veräußern?«, fragte Tarkon, dem seine Missbilligung über das meiste von dem bis dahin Gehörten nur zu deutlich anzusehen war.

»Was denkst du nur«, entgegnete Turuns ihm kopfschüttelnd. »Du hast bisher deine Heimat nie verlassen und kennst die Fremde nur vom Hörensagen. Du bist vertraut mit unserer Lebensart, in die du nun einmal hineingeboren wurdest, und hast gelernt, nach unseren Gesetzen zu leben und unsere Vorstellungen von Sitte und Anstand gutzuheißen. Aber das heißt doch noch lange nicht, dass das, was bei uns für gut und richtig erachtet wird, auch bei anderen Völkern in diesem Maße Geltung haben muss! Hier im Süden brennt die Sonne hell und heiß vom Himmel, und zwar das ganze Jahr über! Die Menschen in Keftu oder Khemet kennen keinen Wechsel der Jahreszeiten wie bei uns im Norden. Sie wissen nichts von der Dunkelheit und der trüben Kälte des Winters, noch gibt es bei ihnen ein Wort für Schnee!

Bedenke auch, dass die Leute im Süden viel dichter zusammenleben, als wir es gewohnt sind! Wir leben in überschaubaren, kleinen dörflichen Gemeinschaften mit genügend Abstand zu den Häusern unserer Nachbarn. In Keftu und Khemet hingegen haben sie ungleich größere Siedlungen – sie nennen sie Städte - errichtet, in denen, wie du es hier in Tar’eses andeutungsweise erfahren konntest, Haus an Haus steht und somit ein weitaus engerer Kontakt zwischen den Menschen gepflegt wird, als es bei uns gemeinhin üblich ist.

Dies beides zusammengenommen, das lichte, warme Klima und die intensive menschliche Nähe, bewirkt, dass die Leute im Süden, auch wenn sie arm sind, ihren Alltag viel unbeschwerter erleben.

Und jetzt wirst du auch verstehen, dass sie sich den Freuden der körperlichen Lust genauso selbstverständlich und zwanglos hingeben wie dem Genuss ihres täglichen Essens und Trinkens.

Während bei uns der Austausch von Zärtlichkeiten ausschließlich im Verborgenen stattfinden darf und dazu noch einem strengen moralischen Regelwerk unterworfen ist, finden die Leute in Keftu und Khemet nichts Anstößiges daran, wenn verliebte Paare, ob verheiratet oder nicht, ihre Zuneigung auch in der Öffentlichkeit zeigen.

Außerdem erklärt dir diese, von der unsrigen grundsätzlich verschiedenen Lebenseinstellung nun hoffentlich auch, warum sie sich so freizügig kleiden oder sich die kunstfertigen Dienste von Huren, von denen es übrigens auch männliche gibt, erkaufen, um ihren Geschlechtstrieb zu befriedigen.«

Eine Weile blieb Tarkon stumm, dann nickte er leicht mit dem Kopf.

»Das, was du mir da eben gesagt hast, leuchtet mir ein, und ich danke dir dafür, dass du mir meine Unwissenheit vor Augen geführt hast«, sagte Tarkon ernst. Plötzlich aber verzogen sich seine Lippen zu einem breiten Grinsen, und er schaute Turuns tief in die Augen.

»Deine Worte haben mich tief beeindruckt, Turuns, mein Freund«, fuhr er mit verschwörerischem Unterton weiter fort. »Mir ist nun klar geworden, dass ich noch viel über die Menschen in Keftu und Khemet zu lernen habe. Nach allem, was ich bisher von dir gehört habe, scheint ihre Kultur wahrhaftig feiner und fortschrittlicher zu sein als die unsrige, und ihre komplizierten Sitten und Gebräuche verwirren meinen unerfahrenen Geist. Ich bitte dich, der du doch so gut bewandert in all diesen Dingen bist, mich, der ich von Natur aus allem Neuen aufgeschlossen und lernbegierig bin, weiterhin darin geduldig zu unterweisen und mir all die guten Umgangsformen zu vermitteln, die es mir erlauben werden, mich dort in einigermaßen geziemender Form einzuführen, vor allem bei den Frauen!«

Turuns sah ihn einen Moment überrascht an, suchte vielleicht eine Spur Spott in seinen Worten, doch dann verstand er.

»Ich danke dir für dein Vertrauen«, sagte er, gleichermaßen eine Verschwörermiene aufsetzend. »Ich fühle mich geschmeichelt, und ich werde dich nicht enttäuschen. Doch kann ich dir nur aus meinen Erfahrungen berichten, die sehr persönlicher Natur sind. Ich bin mir aber sicher, dass du, sollten meine Bemühungen Früchte tragen, dort selbst einheimische Lehrmeister finden wirst, die dich, besser als ich, der ich selbst ein Fremder in diesen Ländern bin, mit den praktischen Inhalten ihrer hoch entwickelten Lebensart vertraut machen werden.«

Tarkon nahm darauf seinen Becher und leerte ihn, wie um diesen Pakt zu besiegeln, mutig in einem Zug, was er jedoch viel zu hastig tat, sodass er sich verschluckte und heftig husten musste.

»So soll es sein«, sagte er übermütig, nachdem er wieder zu Atem gekommen war und sich den Mund abgewischt hatte. »Ich verspreche dir, dass ich dir bis dahin ein gelehriger Schüler sein werde. Nun aber setze deine Lektion an der Stelle weiter fort, an der ich dich unhöflicherweise unterbrochen habe.«

Turuns bestellte daraufhin noch zwei Becher Wein und begann dann schwärmerisch von ausschweifenden nächtlichen Gelagen zu erzählen, denen er in Khemet wohl des Öfteren beigewohnt haben musste.

Paare, aber auch einzelne Frauen und Männer fanden sich demnach am frühen Abend bei dem jeweiligen Gastgeber ein und erquickten sich zunächst an den erlesenen Speisen und Getränken, die ihnen von eilfertigen Dienern unablässig dargeboten wurden.

Später dann, zu vorgerückter Stunde, wenn alle schon vom Wein und anderen Rauschmitteln in eine glückselige Traumwelt versetzt worden waren, erschienen nackte Tänzerinnen, die ihre jugendlich biegsamen Körper zu den dumpf klirrenden Rythmen, welche die Musiker ihren exotischen Instrumenten entlockten, in lasziver Verzückung den Zuschauenden darboten.

»So etwas entfacht dir das Feuer in den Lenden, weißt du«, schwelgte Turuns in seiner Erinnerung. »In den Kohlebecken ist nur noch rote Glut, und in dem von süßlichen Rauchschwaden geschwängerten Halbdunkel siehst du auf einmal die üppigen Brüste einer Frau dicht vor deinen Augen, fühlst ihre Hände, die sich in deine Haare wühlen, und dann ihre Zunge, die sich fordernd zwischen deine Lippen schlängelt, während ihr heißer Körper sanft auf dich herabgleitet ... oh, verflucht!«

Turuns unterbrach sich, als er bemerkte, dass Tarkon, bei dem der ungewohnte Weingenuss offenbar seine Wirkung zu zeigen begann, sich an seinem Becher festhaltend, leicht schwankend dastand, während sein Blick, in dem unverhohlene Lüsternheit zu lesen war, starr auf die reizvollen Dekolletees der drei Huren geheftet war.

Gleichzeitig musste, er erkennen, dass zwei der drei Sherdanu ihre langen Dolche gezogen hatten und sich in bedrohlicher Langsamkeit geradewegs auf sie zu bewegten, während der dritte sichernd seine Hände um die Griffe seiner Waffen gelegt hatte.

»Tarkon, schau mal die beiden da! Ich glaube, wir kriegen ... Ärger«, sagte Turuns und verfluchte sich insgeheim, dass er es unterlassen hatte, sein Schwert mitzunehmen.

»Wie denn ... was denn? Glaubst du, d... die kommen unseretwegen?«, lallte Tarkon unsicher. »Wir haben denen doch nichts getan!«

»Mann! Es braucht keine beleidigenden Äußerungen oder Handgreiflichkeiten, um diese Kerle missmutig zu stimmen! Es genügt, wie ich dir schon gesagt habe, ihnen direkt in ihre schmutzigen Gesichter zu sehen ... oder eben, wie du es gerade die ganze Zeit über gemacht hast, einen begehrlichen Blick auf ihre Spielzeuge zu werfen«, zischte Turuns, während er fieberhaft nach einer Lösung suchte, die sie beide möglichst unbeschadet aus dieser äußerst prekären Situation befreien würde.

»Bleib hinter mir und halte deinen Mund, auch wenn es dir schwer fällt! Das Reden überlasse jetzt um deiner Gesundheit willen mir«, konnte er gerade noch sagen, dann waren die zwei Sherdanu herangekommen. Provozierend bauten sie sich vor den beiden Nordleuten breitbeinig auf und fixierten sie hasserfüllt und mordlüstern aus zusammengekniffenen Augen, wobei sie die Klingen ihrer Dolche, die sie mit ihrer Rechten hielten, abwehrbereit auf ihre linke Schulter gelegt hatten.

Zunächst tat Turuns so, als ob er ihre Gegenwart ignorieren würde.

»Tarkon, mein Freund, jetzt sieh dir diese geschniegelten Gecken an«, rief er übertrieben laut und wies auf eine Gruppe junger Männer, die sich zum Teil gegenseitig die Arme um die Schultern gelegt hatten und sich gerade lachend und singend der Schänke näherten.

Auf den ersten Blick schienen die fünf Brüder zu sein, so sehr ähnelten sie sich in ihrem Äußeren. Sie waren ausnahmslos schlank und hoch gewachsen und bewegten sich mit einer tänzerisch anmutenden Geschmeidigkeit, wie sie eher ranken jungen Mädchen zu Eigen ist. Zu diesem Eindruck des Femininen trugen auch die schmalen Taillen und die durchweg als hübsch zu bezeichnenden, bartlosen Gesichter bei, aus deren ebenmäßigen Zügen sich die großen, dunklen, mandelförmigen Augen sowie die vollen, sinnlichen Lippenpaare, zwischen denen blendend weiße Zähne blitzten, besonders hervorhoben.

Auch ihre augenfällige Haartracht schien einer Frau eher angemessen zu sein. Das dichte, glatte, blauschwarze Haar floss ihnen bis auf zwei ondulierte Strähnen, die, ihre Gesichter umrahmend, von der Schläfe auf die Brust fielen, ungebändigt über den Rücken bis zur Taille.

Doch die breiten Schultern, die gewölbten Brustkörbe sowie die wohlproportionierten sehnigen Muskelpartien, die unter der glatten, ölig glänzenden samtbraunen Haut der Ober- und Unterschenkel und der Arme spielten, zeigten, dass die Männer, die alle etwa Turuns Alter hatten, durchtrainiert waren.

Bekleidet waren sie nur mit einem Leinentuch, welches sie sich zu einem knapp sitzenden Schurz um die Lenden geschlungen hatten.

Tarkon war von dem Anblick der fünf Fremden derart fasziniert, dass er für den Moment die massive Gegenwart der zwei Shardanu vor ihnen völlig vergaß.

Die Fremden hatten sich derweil unweit der beiden Nordleute um einen der Tische gestellt, und einer von ihnen kam an den Tresen, wohl um Wein zu bestellen. Dabei kam er so dicht neben den beiden zu stehen, dass Tarkon sofort der würzig herbe Duft, den der Körper des Fremden verströmte, angenehm in die Nase stieg.

Mit seiner wohlklingenden, vokalreichen Sprache gab er, als der alte Griesgram endlich herbeigeschlurft war, seine Bestellung auf. Dann wandte er sich wieder, während er lässig am Tresen lehnend wartete, dem Geschehen um ihn herum zu. Denn auch er, wie auch die übrigen Gäste vor der Schänke, hatte mittlerweile bemerkt, dass sich hier offenbar ein blutiger Händel anbahnte.

»Was sind das für Leute?«, flüsterte Tarkon, der immer noch ganz gebannt zu den Fremden schaute und dabei gar nicht wahrnahm, dass die Gespräche der Umstehenden unterdessen zum Erliegen gekommen und die Augen aller gespannt auf die beiden Nordleute und ihre grimmigen Gegner gerichtet waren.

»Das sind Männer aus Keftu«, klärte ihn Turuns auf, wobei er jedoch, im Gegensatz zu Tarkon, die Sherdanu nicht für einen Moment aus seinem Blickfeld ließ.

»Wollen die Herren merken, dass auch wir sind da«, begann einer der Sherdanu mit rauer, abgehackter Stimme zu radebrechen.

»Hat da was gesprochen?«, wandte Turuns sich mit gespieltem Erstaunen an Tarkon.

Turuns’ Hohn bewirkte, dass Tarkons Aufmerksamkeit endlich wieder auf die beiden streitsüchtigen Männer vor ihm gelenkt wurde, die, angesichts ihrer unbewaffneten Opfer, in provozierend leidenschaftsloser Überheblichkeit mit den Klingen ihrer Dolche spielerisch auf ihre linken Handflächen schlugen.

Erst jetzt wurde es Tarkon vollends gewahr, in welch brenzliger Situation sie sich gerade befanden.

»Turuns«, raunte er, nun doch unruhig geworden, »könnte ich mich nicht einfach bei denen entschuldigen, indem ich ihnen erkläre, dass ich zum ersten Male in diesem Lande bin und deshalb noch nichts über die guten Umgangsformen, die hier üblich sind, weiß?«

»Das kannst du dir schenken«, erwiderte Turuns kalt und spie vor seine Füße. »Erstens würden sie das nicht begreifen, und zweitens wollen die Blut sehen! Die wissen nämlich, dass sie nicht nur von ihren Hürchen, denen sie imponieren wollen, beobachtet werden, sondern auch von allen anderen hier auf dem Platz! Nein, nein, mein Freund! Für Worte ist es jetzt zu spät! Sehen wir also zu, dass wir unsere Haut so teuer als möglich verkaufen!«

»Und wenn wir einfach weglaufen?«

Turuns lachte ob dieser naiven Äußerung kurz und bitter auf.

»Denk gar nicht erst daran, Tarkon«, sagte er dann ganz ruhig, während er seinen Blick angespannt auf die Sherdanu gerichtet hielt. »Wenn du auch nur den Versuch dazu machen und ihnen dabei den Rücken zuwenden würdest, hättest du im nächsten Augenblick ihre Klinge zwischen den Schulterblättern! Vielleicht habe ich es bei der Aufzählung all ihrer unangenehmen Eigenschaften versäumt, dir mitzuteilen, dass diese Kerle unnachahmlich gute Messerwerfer sind!«

Mit zunehmender Ungeduld hatten die Sherdanu die Unterredung der zwei Nordleute verfolgt.

Jetzt zogen sie jeweils eine weitere Waffe aus ihren Gürteln und schleuderten sie verächtlich vor Tarkons und Turuns’ Füße.

»Wollt ihr sein Frauen, die plappern, oder Männer, die können kämpfen mit Männern?«, höhnte der Mann, der auch vorher schon das Wort ergriffen hatte.

Ganz ohne Hast ging Turuns darauf in die Hocke und nahm, immer in Blickkontakt zu seinen Gegnern, vorsichtig einen der Dolche auf, um sich dann ebenso bedächtig wieder zu erheben.

Behutsam strich er mit seinen Fingern über die Schneide der Klinge.

»Die sind ja richtig scharf«, sagte er und pfiff anerkennend, wie als ob er ehrlich überrascht wäre.

Die Sherdanu begannen daraufhin, ihre Dolche von einer Hand in die andere fliegen zu lassen.

»Wir wissen, dass ihr könnt ansehen Weiber! Ihr auch könnt ansehen Männer?«, schrie der Sherdanu, dessen Frettchengesicht vor Wut verzerrt war.

»Warum regst du dich bloß so auf?«, fragte Turuns unschuldig. »Das ist ungesund und macht dicke Backen! Wusstest du das etwa nicht? Na, ich seh schon, besonders schlau scheinst du mir ja nicht zu sein! Aber ich habe heute gute Laune, und deshalb werde ich dir das gleich einmal erklären.«

»Tot du gleich bist, Weißhaar! Kämpfe jetzt!«, heulte der Sherdanu nun aus seinem ungezügelten Hass auf und ging gleichzeitig leicht gebeugt, die kreisende Dolchspitze in der ausgestreckten Rechten, auf Turuns los.

»Hu! Jetzt machst du mir ja wirklich Angst!«, rief Turuns unbekümmert, während er sich geistesgegenwärtig vor Tarkon stellte und seinerseits eine Abwehrstellung einnahm.

»Aufgepasst, mein Freund! Wenn du mich pfeifen hörst, nimmst du deine Beine in die Hand und rennst zum Schiff«, konnte er Tarkon gerade noch über die rechte Schulter zuflüstern, dann prallten die Klingen gegeneinander.

Doch Tarkon, der bis dahin mit vor lauter Fassungslosigkeit weit aufgerissenem Mund und Augen das für ihn schwer verständliche Tun seines Freundes verfolgt hatte, schien es nicht gehört zu haben. Stattdessen bückte er sich, taub gegen die Weisung seines Freundes, mit der verzweifelten Hast, Turuns beizustehen, so schnell zu der vor ihm liegenden Waffe hinunter, dass er das Gleichgewicht verlor und lang hinschlug.

Es gelang ihm zwar noch, den Dolch zu fassen und auf die Knie zu kommen, als er zu seinem Entsetzen feststellen musste, dass der zweite Sherdanu, der die günstige Gelegenheit genutzt hatte, sich mit einem einzigen Sprung direkt neben ihn gebracht und ihm, nachdem er Tarkons Oberkörper mittels einer blitzartig ausgeführten Wendung zwischen seine Beine gezwungen hatte, seinen Dolch mit einem hämischen Grinsen an die Kehle gesetzt hatte.

Ein erfahrenerer Kämpfer hätte in dieser Situation vielleicht noch einen rettenden Ausweg gefunden, indem er seine Waffe während der kurzen Blöße, die ihm der Gegner bei seiner Körperdrehung bot, nach oben zückend in dessen Weichteile hätte bohren können.

Tarkon indes ergab sich seinem Schicksal und ließ seine Waffe fallen.

An das, was dann geschah, konnte sich Tarkon später nur noch bruchstückhaft erinnern.

Er sah, dass der Sherdanu, der Turuns angegriffen hatte, mit einem blubbernden Stöhnen zu Boden ging, nachdem er einen tödlichen Stoß in die Brust erhalten hatte.

Dann bohrte sich plötzlich ein brennender Schmerz vom Halsansatz in seinen Brustkorb, und sein, eigenes, warmes Blut spritzte ihm ins Gesicht.

Während er langsam über seine linke Seite nach vorne kippte, bemerkte er noch, dass sein Gegner mit seltsam verrenktem Hals am Boden lag, wohl überwältigt von dem Mann aus Keftu, der immer noch mit seinem linken Unterschenkel auf der Wirbelsäule seines Opfers kniete.

Das letzte, was er wahrnahm, bevor sein Geist von den immer dichter werdenden schwarzroten Schleiern der Bewusstlosigkeit gnädig eingehüllt wurde, waren zwei Gesichter, die sich über ihn beugten: In dem einen erkannte er die vertrauten, jetzt aber besorgten Züge Turuns, das andere war das geheimnisvoll lächelnde Antlitz des Fremden aus Keftu.

Die Kinder der Sonne/Die Nomaden der Meere

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