Читать книгу Die Kinder der Sonne/Die Nomaden der Meere - Bernhard von Muecklich - Страница 18

Kapitel 9

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Mitternacht war längst vorüber, doch alle Dorfbewohner, von den Kleinkindern und Kranken einmal abgesehen, waren immer noch auf dem großen Dorfplatz versammelt und feierten ausgelassen die letzte Nacht des Frühlingsfestes.

Sie aßen und tranken unverdrossen, sie sangen, erzählten sich Geschichten und tanzten jauchzend um die hoch lodernden Feuer, die den Platz hell erleuchteten.

Auch Laruna und Tarkon hatten sich bis vor kurzem noch zu den aufpeitschenden Rhythmen der Flöten und Trommeln den übermütigen Tänzen der Jugend hingegeben.

Jetzt saßen sie sich erschöpft, aber glücklich an einem der langen Tische gegenüber und schmiedeten Zukunftspläne.

»Hier, siehst du, das ist unser Schlafzimmer.«

Tarkon deutete eifrig auf ein kleines Rechteck in dem Umriss eines Hauses, welchen er mittels einer Brotkrume und etwas vergossenem Bier auf die Tischplatte gezeichnet hatte.

Laruna hatte das Kinn auf ihre auf dem Tisch verschränkten Arme gelegt und schaute Tarkon mit verschleiertem Blick an.

»Ich bin auf einmal furchtbar müde, weißt du, und ich wünschte mir, das Schlafzimmer wäre schon vorhanden«, sagte sie, während sie Mühe hatte, ihrer immer wieder herabgleitenden Lider Herr zu werden.

»Du ... du hast vielleicht etwas zu viel Bier getrunken, hm?«, fragte Tarkon, wobei er versuchte, seinem eigenen Lallen einen festen Klang zu geben.

»Und? Du etwa nicht?«, erwiderte sie und erhob sich leicht schwankend.

»Wo willst du hin?«

»Wir wollen doch morgen früh heiraten, oder? Dafür will ich ausgeschlafen sein, sonst wird man mir mein ›Ja‹ womöglich nicht glauben, da mein Verstand noch vom Bier in Mitleidenschaft gezogen sein könnte.«

»Warte, ich komme mit!«

Tarkon versuchte etwas zu schnell auf die Beine zu kommen, was zur Folge hatte, dass er hinterrücks über die Bank fiel und wie ein Käfer strampelnd auf dem Rücken zu liegen kam.

Alle, die Zeuge dieser komischen Szene wurden, begleiteten sie mit schallendem Gelächter.

»Verdammt, ich habe mir das Rückgrat gebrochen, oder so etwas ...«, jammerte Tarkon.

Laruna kam grinsend zu ihm, packte seine Handgelenke und zog ihn auf die Beine.

»Ich glaube, ich werde dich wohl nach Hause tragen müssen«, sagte sie lachend. »Leg deinen Arm um meine Schultern, ich bringe dich in dein Bett.«

»Nein, lass gut sein«, wehrte Tarkon mit einer wohl aus der Verlegenheit wiedererlangten Nüchternheit ab.

Die beiden verließen den Festplatz und gingen schweigend Hand in Hand den Bach entlang, bis sie zu dem kleinen Steg gelangten, auf dessen anderer Seite sich der Weg bis zum Haus des Schiffsbaumeisters fortsetzte.

Dieses stand etwas abgelegen außerhalb der Umfriedung des Dorfes, am Fuße der Dünen.

Eine geraume Zeit standen sie noch nebeneinander, die Arme auf das Geländer gestützt, und betrachteten den Fluss, auf dessen Oberfläche sich das Licht der Sterne glitzernd brach.

»Lass uns jetzt zu Bett gehen, Tarkon«, unterbrach Larunas sanfte Stimme schließlich das Schweigen.

Sie nahm seine Hände und legte sie auf ihre Brüste, während sie ihn gleichzeitig umarmte und in sein rechtes Ohr biss.

»Wir wollen doch ausgeruht sein für den Tag unserer Hochzeit – und besonders für danach«, hauchte sie verheißungsvoll.

Im ersten Moment wurde Tarkon von der erotischen Intensität dieser Situation einfach überrumpelt.

Niemals zuvor hatte sich Laruna in solch schierer Weiblichkeit offenbart.

Doch dann, erregt durch den heißen Atem an seinem Hals und der bebenden Üppigkeit in seinen Händen, ließ auch er sich von den roten Wellen davontragen, die seinen Körper jetzt mit Macht durchfluteten und seine Knie nachgeben ließen.

Da waren nurmehr ihr Gesicht, ihre Augen und vor allem ihr Mund, dessen volle, feuchte Lippen sich ihm wie eine reife Frucht fordernd öffneten.

Seine Lenden drängten an ihren Schoß, während er seine Lippen zwischen die ihren wühlte.

Plötzlich spürte er den festen Druck ihrer Hand, die sein Glied massierend umschloss, während sie sich gleichzeitig mit einem girrenden Lachen nach hinten neigte und ihm ihren Hals darbot, den er mit Küssen überdeckte.

Sie stieß einen spitzen Schrei aus und riss seinen Kopf mit beiden Händen zurück.

Schwer atmend starrten sie sich eine Weile an, dann schlang sie ihre Arme um ihn, zog ihn an sich heran und begann ihn unendlich zärtlich zu küssen. Doch jäh schlug die Zärtlichkeit in animalische Wildheit um, und bald hatten sie sich die Lippen blutig gebissen.

Der metallherbe Geschmack ihres Blutes auf ihren Zungen ließ sie allmählich wieder zur Besinnung kommen.

»Ich werde jetzt nach Hause gehen – allein«, sagte sie endlich und löste sich von ihm.

»Sollte ich dich nicht wenigstens bis zu deiner Haustür begleiten?«, fragte er sie unbeeindruckt von dem schroffen Tonfall ihrer Stimme, der eigentlich keinen Widerspruch geduldet hatte.

Sie legte ihm den Zeigefinger ihrer Rechten auf die Lippen und schüttelte energisch ihren Kopf.

»Kannst du nicht bis morgen warten?«

Sie lachte leise, dann wandte sie sich um und lief über den Steg dem elterlichen Hause zu.

Verwirrt schaute Tarkon ihr hinterher, und für einen Moment glaubte er den Schatten einer menschlichen Gestalt zu sehen, der sich aus dem nahe gelegenen Birkenhag schälte und ihr zu folgen schien.

Einer warnenden inneren Eingebung folgend, wollte er ihr schon nacheilen, da besann er sich und wies die flüchtige Wahrnehmung seiner überreizten Fantasie zu, die seinem immer noch umnebelten Gehirn entspross.

Nachdem er so noch eine geraume Weile versonnen das Fließen des Wassers beobachtet hatte, richtete er sich auf und trat seinerseits den Heimweg an.

Zu Hause angekommen, ließ er sich bekleidet aufs Bett fallen und versuchte seinen Schlaf zu finden, was ihm aber nicht gelingen wollte.

Zum einen war er immer noch erregt von dem, was er gerade mit Laruna hatte erleben dürfen, zum anderen aber zeigte der Alkohol nun mit Macht seine Wirkung.

In seinem Kopf begann es zu wirbeln, sodass er bald das Gefühl hatte, über seinem Lager zu schweben und sich dabei immer schneller um sich selbst zu drehen.

Er musste sich schließlich erbrechen, und erst dann fiel er in einen leichten Schlaf, der mit schemenhaft grellen Traumfetzen durchsetzt war, die sich irgendwann zu einem gellenden Schrei verdichteten, welcher schmerzhaft sein Gehirn durchzuckte.

Er bäumte sich auf und war hellwach.

Für einen Moment lauschte er in die dunkle Stille, die ihn umgab, dann erhob er sich und tastete sich stolpernd nach draußen.

Vor der Haustür sog er zunächst die frische Luft des heranbrechenden Morgens mit tiefen Zügen in seine Lungen.

Es begann schon hell zu werden, und leichter Bodennebel waberte über der Bachaue. Alle Müdigkeit war bald von ihm gewichen.

Er fühlte sich frisch und auch zunehmend aufgeregt, war dies doch der Morgen seiner Hochzeit.

Er beschloss an den Strand zu gehen, um dort den Sonnenaufgang zu erleben und sich dabei auf den für ihn so wichtigen Tag vorzubereiten.

Die Flut hatte gerade eingesetzt, und als er den Strand erreicht hatte, zog er sich aus und rannte übermütig in die träge anlaufenden Wellen.

Das eiskalte Wasser, welches prickelnd über ihm zusammenschlug, wusch ihm auch den letzten Rest seiner schalen Trunkenheit aus dem Körper.

Nachdem er ein paar Runden in dem belebenden Nass geschwommen war, strebte er wieder dem Ufer zu, trocknete sich mit seinem Mantel ab und kleidete sich an.

Dann suchte er sich eine windgeschützte Mulde in den Dünen und erwartete, in seinen Mantel gehüllt, den Sonnenaufgang.

Er wollte seine Gedanken auf das bevorstehende Ereignis konzentrieren, aber irgendetwas Dunkles in seinem Geist lenkte ihn ab.

Das beunruhigte ihn zutiefst, und er versuchte eine Lösung dafür zu finden, indem er noch einmal gedanklich in seine Visionen eintauchte, die er auf der heiligen Insel geschaut hatte.

Die Sonne schien schon eine ganze Zeit vom blauen Himmel, aber Tarkon hatte bei seiner Meditation nichts finden können, was ihm diesen störenden Schatten in seinem Herzen hätte erklären können.

Doch dann gewann die Vorfreude auf seine Hochzeit wieder die Oberhand über seine trüben Gedanken.

Er sprang auf und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht.

»Ach, was«, sagte er laut zu sich, während er in die Sonne blinzelte. »Heute ist mein, nein, unser Tag! Und jetzt mag er beginnen!«

Sprachs und stapfte eilig über die Dünen dem Dorfe zu.

Als er durch das Tor der Palisade geschritten war, bemerkte er sofort, das etwas nicht in Ordnung war.

Eine für die frühe Morgenstunde, gerade nach einem solchen Fest, ungewöhnliche Unruhe beherrschte das Dorf.

Nahezu alle Leute waren auf den Beinen.

Noch im ersten Moment glaubte Tarkon, dass das aufgeregte Treiben der Dorfbewohner mit den Vorbereitungen zu seiner Hochzeit in Zusammenhang stehen würde, doch als er in ihre Gesichter sah, wusste er instinktiv, dass irgendetwas Furchtbares geschehen sein musste, etwas – und diese Ahnung drängte sich ihm jäh auf –, was möglicherweise mit ihm zu tun hatte.

Die Frauen und Männer, die ihm begegneten, gingen ihm aus dem Weg, mieden seinen Blick oder starrten ihn traurig, bisweilen sogar hasserfüllt an.

Völlig irritiert und verständnislos wollte er gerade wieder seinen Weg nach Hause aufnehmen, als sich ihm eine Hand fest auf die Schulter legte.

Er zuckte unter dem Griff zusammen und drehte sich langsam um, wobei ihm das Herz bis zum Halse schlug.

Es war Maeknas, ein Mitglied des Rates, der vor ihm stand und ihn mit seinen seltsam grünen Augen ernst und prüfend musterte.

Jetzt war es ihm Gewissheit, dass er in das offensichtlich Unheilvolle, was sich hier während seiner Abwesenheit abgespielt haben musste, verstrickt war.

Maeknas war ein hoch gewachsener schlanker Mann, der sich trotz seiner fast fünfzig Lenze ein jugendlich straffes Äußeres hatte erhalten können.

Sein üppiges rotlockiges Haar, das von vielen grauen Strähnen durchzogen war, hatte er im Nacken mittels eines dicken Golddrahtes zu einem Zopf gebändigt.

Die schmalrückige, leicht gebogene Nase über dem dünnlippigen Mund erinnerte an einen Raubvogel, was von den schrägen Augenbrauen und den hohen Wangenknochen seines bartlosen Gesichtes noch unterstrichen wurde.

Maeknas war ein wortkarger, erfahrener Mann, dessen selten erhobener Stimme im Rate hohe Achtung gezollt wurde.

Nachdem Lareth, Tarkons Vater, als verschollen galt, wurde er das Haupt der Händlergilde, und seither unterstützte er, wie immer er konnte, die verwaiste Familie.

Tarkon glaubte zudem, dass Maeknas seiner Mutter inzwischen insgeheim mehr als nur freundschaftlich zugetan war, obgleich er sich das niemals anmerken ließ.

»Tarkon«, sagte Maeknas jetzt leise, aber bestimmt. »Du wirst in der Ratshalle erwartet.«

»Was ist ...?« Tarkon hielt inne, als er das leichte Kopfschütteln, begleitet von einem längeren Schließen der Augenlider seines Gegenübers wahrnahm.

Maeknas legte ihm vielmehr den Arm um die Schulter und zog ihn sanft mit sich.

Seine Gedanken rasten, suchten nach einer Antwort, und als sie die Halle betraten, bemerkte er kaum die vielen Menschen, die stumm und mit auf den Boden geheftetem Blick scheu vor ihnen auseinanderwichen, um ihnen eine Gasse freizumachen.

Er sah nur die Ratsmitglieder, die mit versteinerten Mienen auf ihren Stühlen saßen.

Und dann wurde er gewahr, dass Larunas Eltern neben Beruns standen. Der alte Schiffsbaumeister wirkte gefasst, während seine Frau sich schluchzend an seine Schulter schmiegte.

Daneben seine Mutter, die mit gesenktem Kopf und auf ihrem Schoss gefalteten Händen auf einem Schemel saß.

Hinter ihr stand aufrecht sein Großvater, der seine Hände wie schützend auf die Schultern seiner Schwiegertochter gelegt hatte.

Tarkons Herz begann wie wahnsinnig zu schlagen, und ein eiskalter Nebel verwirrte seine Sinne, während er wie in Trance vor den Ältestenrat schritt.

Wie aus weiter Entfernung drang plötzlich die Stimme Beruns an sein Ohr.

»Tarkon, wann hast du Laruna das letzte Mal gesehen – und wo bist du gewesen?«

Pelz lag auf seiner Zunge, und seine Kehle war mit einem Male ausgedörrt wie bei einem Verdurstenden.

»Wo ...? Wann ...? Ich ...«, stammelte er hilflos, während ein kleiner, noch wacher Teil seines Verstandes fieberhaft zu arbeiten begann.

»Brücke«, ächzte er nur, »sie ging über die Brücke ... und dann ...«

Er verstummte. Ihm war übel geworden, und alles um ihn begann zu verschwimmen, bis ihn die Stimme Beruns’ mit kristallener Schärfe wieder in die Wirklichkeit zurückriss.

Noch bevor er das, was er nun hören musste, verinnerlicht hatte, wusste Tarkon um die schicksalhaft endgültige Bedeutung der Worte Beruns.

»Tarkon! Laruna ist tot! Ermordet! Erstochen und vergewaltigt! Wir haben sie im Birkenwald gefunden.«

Seltsamerweise blieb er dabei vollkommen ruhig. Die Botschaft schien an ihm abzuprallen, und keine Träne benetzte seine Augen.

Er begann zu frösteln, und unsägliche Mattigkeit betäubte sein Herz.

»Laruna ist tot«, hörte er sich tonlos sagen.

Er nickte mehrmals und verließ dann wie schlafwandelnd die Halle.

Seine Mutter wollte ihm folgen, doch Maeknas hielt sie zurück.

»Er muss sich – und sie – erst wieder finden«, sagte er nur.

Larunas Mutter Ethla war in den frühen Morgenstunden durch einen bedrückenden Albtraum aus ihrem Schlaf gerissen worden.

Sie hatte das totenbleiche Antlitz ihrer Tochter vor sich gesehen, aus dessen Mundwinkeln helles Blut sickerte.

Der furchtbaren Ahnung folgend, war sie aufgestanden und hatte das Bett ihrer Tochter leer vorgefunden.

Voller Pein hatte sie Truns, ihren Mann, wachgerüttelt und ihm von ihrem Traum erzählt.

Beide waren sodann zu Tarkons Mutter geeilt und hatten sie durch ihr beständiges Klopfen an der Haustür aufgeweckt.

Nachdem sie feststellen mussten, dass auch Tarkon nicht zu Hause war, hatten sie eiligst ein paar Männer, welche noch oder wieder einigermaßen nüchtern waren, zusammengerufen, um sich mit ihnen auf die Suche nach den beiden zu machen.

Mit Fackeln hatten sie als Erstes die nähere Umgebung abgesucht, wobei sich die Suche zunächst auf das lichte Birkenwäldchen konzentrierte, welches sich unweit von des Schiffsmeisters Haus ins Landesinnere erstreckte.

Und dort fanden sie auch alsbald den entstellten Leichnam Larunas.

Die Tote wies mehrere Stichwunden in der Brust auf, und die zerrissenen Kleider, sowie der entblößte Schoß zeugten von der Vergewaltigung, die dem Mord vorangegangen sein musste.

Sie hatten sie in ihr Elternhaus getragen und sie dort aufgebahrt.

Nachdem das ganze Dorf geweckt worden war, hatten sie sich in der Ratshalle versammelt, nicht ohne zuvor ein paar Männer auf die Suche nach Tarkon auszusenden.

Dann aber war Tarkon überraschenderweise von alleine ins Dorf gekommen und von Maeknas in die Halle begleitet worden.

Hatten bis dahin nicht wenige Leute den Verdacht gehegt, dass Tarkon als Mörder Larunas infrage kommen könnte, so hatte sich dieser spätestens mit seinem Erscheinen vor dem Rat in Luft aufgelöst.

Kurz nachdem Tarkon die Ratsversammlung verlassen hatte, kam eine der Frauen, die Larunas Leichnam für die Bestattung vorbereitet hatten, in die Halle und bahnte sich laut rufend ihren Weg durch die dicht beieinander stehenden Dorfbewohner, die über das jüngst Geschehene emotionsgeladen und heftig gestikulierend sprachen.

Als sie endlich keuchend und mit vor Erregung geröteten Wangen vor Beruns zu stehen kam, hielt sie ihm ein kleines, fleckiges Leinenbündel entgegen.

»Ruhe!«, donnerte Beruns in die aufgebrachte Menge.

Augenblicklich verebbte das Stimmengewirr in der Halle, und alle richteten ihr Augenmerk wieder auf den Ältestenrat.

»Was hast du uns mitgebracht?«, fragte Beruns.

Mit zittrigen Händen begann sie das Bündel umständlich auszuwickeln. Den Inhalt, ein schmales und offensichtlich blutverkrustetes Metallstück, reichte sie Beruns.

»Das haben wir aus einer der Stichwunden in ihrer Brust gezogen«, sagte sie, und ihre Stimme bebte in verhaltener Wut.

Es war die abgebrochene Spitze eines Bronzedolches.

Beruns nahm das Artefakt an sich und rieb es mit dem Tuch sauber, um es dann intensiv zu betrachten.

Das Bruchstück war etwa so lang wie der Zeigefinger eines Erwachsenen und wies eine fein geätzte, verschlungene Verzierung längs der Mittellinie auf.

Er reichte die Spitze an den rechts neben ihm Sitzenden weiter.

»Lasst es herumgehen. Jeder soll sich die Klinge genau ansehen. Vielleicht erkennt sie ja einer von euch – und damit auch ihren Besitzer«, forderte er die Dorfbewohner auf.

»Und«, setzte er hinzu, »holt Tarkon hierher zurück! Es ist möglich, dass er uns dazu etwas sagen kann!«

Tarkon war indes wieder zu dem Steg gegangen, auf dem ihrer beider Schicksal eine so brutale Wendung genommen hatte.

Er kauerte sich an das Geländer und starrte ins Wasser.

Es war nicht die Trauer, die seinen Schmerz verursachte, sondern vielmehr seine ohnmächtige Wut auf die perversen Umstände, die zu ihrem Tod geführt hatten.

Vielleicht war das aber alles bloß ein böser Traum, aus dem er bald wieder erwachen würde.

Er dachte an ihren leidenschaftlichen Abschied.

Hatte sie gewusst, dass sie sich niemals wieder sehen sollten?

Noch einmal erlebte er diese hässliche Szene an der Klippe auf der heiligen Insel.

Hatte sie in der Vision ihren baldigen Tod geschaut und daraufhin versucht, sich von ihm zu lösen?

Das allein könnte die Erklärung ihres für ihn damals so unverständlichen Verhaltens gewesen sein, mit dem sie ihn so ruppig und fast hasserfüllt von sich gewiesen hatte.

Dass es einem Menschen bestimmt war, irgendwann zu sterben, war ihm bewusst, denn das lag in der Natur des Menschen.

Tarkon glaubte, wie alle anderen auch, dass ein Mensch, hatte er einmal seinen Körper verlassen, ein neues, ewiges und glückliches Leben in der sonnenhellen Anderswelt führen durfte.

Deswegen hätte er sich, wäre sie eines natürlichen Todes gestorben, nach einem kurzen, durch den verzeihlichen menschlichen Egoismus verursachten Trennungsschmerz, mit den anderen Dorfbewohnern am Tage ihrer Beisetzung zu einem fröhlichen Totenfest versammelt, um ihr Glück zu feiern.

So aber war sie einem feigen Mord zum Opfer gefallen, und damit war ihre nunmehr unstete Seele bis zu ihrer Sühne der graukalten Zwischenwelt anheim gefallen.

Eine ihm nur zu bekannte Stimme neben ihm ließ ihn aus seinen dunklen Gedanken aufschrecken.

Kieruns, sein Bruder, hatte ihn nach kurzer Suche am Steg erspäht und war sofort zu ihm gerannt.

»Tarkon«, japste er, »Beruns will, dass du sofort vor dem Rat erscheinst.«

Tarkon stand langsam auf und sah seinen Bruder an, als ob ein Geist vor ihm stünde.

»Die Frauen haben eine abgebrochene Dolchklinge in Larunas Brust gefunden«, erklärte Kieruns atemlos. »Du sollst sie dir anschauen. Vielleicht weißt du etwas über ihre Herkunft.«

Ohne ein Wort zu verlieren, stürmte Tarkon davon.

»Zeigt mir das verdammte Ding«, schrie Tarkon mit überschnappender Stimme, als er in die Halle trat.

»Komm her und sieh«, rief Beruns dem Rasenden entgegen.

Tarkon ging hastig auf Beruns zu, wobei sein Blick wie gebannt auf das glänzende Stück Metall in dessen Händen geheftet war.

Als er vor dem Dorfältesten stand, fuhr er sich zuerst mehrmals fahrig durch sein Haar und leckte seine spröden Lippen.

Erst dann streckte er langsam seine rechte Hand aus und nahm die Klinge vorsichtig mit Daumen und Zeigefinger an sich.

Die Wut hatte seine Augen vernebelt, doch jetzt lichtete sich der Schleier, und die Bronze stach ihm grell in die Pupillen.

Ganz zärtlich glitten seine Finger über das filigrane Muster der Spitze.

Er erkannte die Klinge augenblicklich, und der Schock dieses Wiedererkennens raubte ihm zunächst den Atem und ließ ihn aschfahl im Gesicht werden.

Als ob das Metall glühend heiß wäre, ließ er es mit einem gequälten Stöhnen zu Boden fallen.

Dann richtete er seinen Blick, in dem sich seine angstvolle Hilflosigkeit, seine Trauer, aber auch sein ohnmächtiger Zorn gleichermaßen widerspiegelten, auf Beruns.

Alle, die in der Halle versammelt waren, hielten den Atem an und fieberten dem entgegen, was Tarkon nun aussagen würde.

Nach einer für alle unerträglich langen Zeit senkte Tarkon erneut den Kopf und schloss die Augen.

»Urms!«, murmelte er tonlos.

Als hätte man ein Schwert auf einen Stein geschlagen, zerriss der Name die qualvolle Stille.

»Bist du sicher?«, fragte Beruns verhalten nach.

»Ich habe ihm diesen Dolch doch geschenkt, nachdem er mir das Leben gerettet hatte«, presste Tarkon aus zusammengebissenen Zähnen hervor, wobei er am ganzen Leib zitterte.

»Es ist die Waffe – aber wurde die Tat auch von ihrem Besitzer begangen?«, gab Beruns vorsichtig zu bedenken.

»Wo ist Urms überhaupt? Hat ihn jemand gesehen?«

Jetzt kam Leben in die Reihen der Dorfbewohner, die bis dahin das Geschehen wie gelähmt verfolgt hatten.

Die aufgestaute Spannung entlud sich in einem tumultartigen Stimmengewirr, welches nur den Verbleib Urms’ zum Thema hatte.

Dann trat wieder Ruhe ein, und ein Mann, Lukne, das Haupt der Fischergilde, trat vor.

»Urms ist das letzte Mal um Mitternacht auf dem Festplatz gesehen worden«, verkündete er das Ergebnis der lautstarken Beratung.

»Und jetzt werden wir uns auf die Suche nach ihm machen.«

Alle verließen daraufhin geschlossen die Halle.

Zurück blieben die Ratsmitglieder, Tarkon und seine Mutter – und die Eltern Urms’.

Erschüttert und verständnislos hatten sie die für sie tragische Wendung der Ereignisse verfolgt und standen nun eng umschlungen und völlig verstört vor dem Rat.

Mitleidsvoll ging Beruns zu ihnen und begann beruhigend auf sie einzureden.

»Geht jetzt nach Hause«, sagte er ihnen schließlich. »Niemand von uns kann – und will euch ob der Tat eures Sohnes, wenn er sie denn wirklich begangen hat, verurteilen! Seid unser aller Mitgefühl in dieser auch für euch so schlimmen Zeit versichert.«

Er sah ihnen nach, während sie, bedrückt und gebeugt, langsam aus der Halle schritten.

Dann wandte er sich zu Tarkon und betrachtete ihn, wie er, in fassungsloser Lethargie verharrend, neben seiner Mutter stand und ins Leere starrte.

Beruns wusste sehr wohl um die unsägliche Pein, die Tarkon gerade durchleben musste.

So, wie die Dinge sich zur Zeit darstellten, hatte der beste Freund Tarkons sich an Laruna vergangen und sie hernach gemeuchelt.

Derselbe Urms, der vor einigen Jahren während einer Waljagd das Leben Tarkons gerettet hatte und den Tarkon wiederum während des Aufenthaltes auf der heiligen Insel vor einem tödlichen Absturz an der Steilwand bewahrt hatte, war jetzt aus Neid und blinder Triebgier offenbar zum Mörder geworden.

Sollte Urms wirklich aufgegriffen und des Mordes überführt werden, dann wäre Tarkon durch ein uraltes Gesetz gezwungen, ein Urteil zu vollstrecken, welches an Grausamkeit für den Delinquenten wie auch für Tarkon selbst nicht zu überbieten war:

Tarkon wäre verpflichtet, Urms lebendig unter dem Baumsarg Larunas zu beerdigen.

Das Gesetz sah es so vor, doch seit undenklichen Zeiten war ein solcher Spruch nicht mehr ergangen.

Beruns wusste, dass Tarkon sich dessen auch bewusst war, und so litt er mit ihm und hoffte, dass die Tat von einem anderen begangen worden war.

Dann handelte es sich einfach nur um einen perfiden Mord, und der Täter würde im Moor sterben. Tarkon aber wäre nicht gezwungen, die Exekution eigenhändig durchzuführen, da er in diesem Falle nur indirekt betroffen wäre.

Es war Abend geworden, und nach und nach trafen die Männer wieder ein, die nach Urms gesucht hatten.

Sie waren müde und niedergeschlagen, denn ihre Suche war erfolglos geblieben.

Es schien, als ob der Erdboden Urms verschlungen hätte.

Nachdem die Feuer neuerlich entzündet worden waren, versammelten sie sich alle wieder auf dem Dorfplatz, um zu beratschlagen, was nun noch getan werden könnte.

Die Stimmung der Leute war geprägt durch die Wut auf Urms, die natürlich durch das entmutigende Ergebnis ihrer fieberhaften Suche nach ihm gesteigert wurde.

Dass Urms der Täter sein musste, war nach dessen Verschwinden auch dem letzten Zweifler klar geworden.

»Wir werden unsere Suche im Morgengrauen wieder aufnehmen«, bestimmte Beruns.

»Und wo sollen wir ihn dann suchen«, fragte Truns, Larunas Vater, erbittert. »Die Nacht lässt seinen Vorsprung doch nur größer werden! Urms kann sonst wohin geflüchtet sein!«

Nach diesen Worten legte sich ein ratlos bedrückendes Schweigen über die an den Feuern versammelten Menschen.

Dieses wurde aber jäh von einem erregten Wortwechsel unterbrochen, der vom westlichen Tor der Umfriedung herüberschallte.

Wenige Augenblicke später traten zwei Männer in den Feuerkreis.

Der eine war Kieruns. Sein Begleiter war zur großen Überraschung aller Anwesenden Rullo, der Sohn des Dorfältesten der Nachbargemeinde, welcher ja ebenfalls gerade von der heiligen Insel zurückgekehrt war.

»Was führt dich zu so später Zeit in unsere Mitte?«, fragte Beruns ernst, nachdem sich das staunende Geraune auf dem Dorfplatz gelegt hatte.

»Zunächst überbringe ich euch die Grüße unseres Rates. Und vor allem du, Beruns, sollst der Hochachtung meines Vaters Kilnies versichert sein«, sprach er höflich die formellen Grußworte.

Dann räusperte er sich und schaute etwas verlegen in die Runde.

»Nur zu«, ermunterte ihn Beruns, »wir alle hier sind begierig zu erfahren, was euer hoher Rat uns zu übermitteln hat!«

Noch einmal räusperte er sich, dann setzte er seine Rede fort.

»Heute, es war zur Mittagsstunde, brachten unsere Jäger einen Mann in unser Dorf, der es offenbar sehr eilig hatte, sich unerkannt durch unsere Wälder zu schleichen. Sein Verhalten, aber auch seine blutbefleckte Kleidung, erschien unseren Leuten verdächtig, und so nahmen sie ihn nach heftiger Gegenwehr in Gewahrsam und führten ihn vor unseren Rat. Der Mann ...« Er unterbrach seine Rede und schaute suchend um sich, bis sein Blick auf Tarkon fiel.

Er las in dessen vor Schmerz verzerrten Gesichtszügen genug, um zu wissen, welche Bedeutung seine nächsten Worte haben würden.

»Der Mann«, fuhr er mit erhobener Stimme fort, »ist euch nur allzu gut bekannt! Es ist Urms, und da er nur wirre Dinge von sich gab, als wir ihn über die fragwürdigen Umstände seiner, sagen wir überhasteten Abreise, verhörten, hielt es unser Rat für angemessen, ihn zu euch zurückzubringen, damit ihr ein Urteil über das fällen werdet, was er, wie ich jetzt annehmen muss, hier verbrochen hat.«

»Wo ist das Tier?«, schrie Tarkon darauf unbeherrscht und mit ihm forderten alle anderen, Urms’ derzeitigen Aufenthaltsort zu erfahren.

Vergeblich mahnte Beruns die Umstehenden zur Ruhe.

»Wir wollen den Mörder sehen!«, skandierte es hasserfüllt aus den Reihen der Dorfbewohner.

Beruns erhob sich und breitete seine Arme aus.

»Ihr sollt Ruhe bewahren«, befahl er nochmals. »Versteht doch – noch ist seine Tat nicht bewiesen!«

»Welchen Beweis brauchst du noch, Beruns!«, brüllte Larunas Vater außer sich vor Hass.

Dann ging er zu Rullo, packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn grob.

»Wo hast du ihn versteckt«, sagte er gefährlich leise, »raus damit, auf der Stelle, sonst ... !«

»Lass ihn sofort los!«, fuhr Beruns dazwischen. »Unser Gast weiß doch überhaupt nicht, was hier passiert ist!«

Seine schneidende Stimme beendete die peinliche Szene und ließ die Umstehenden wieder zur Besinnung kommen.

Beruns legte seinen Arm begütigend um Rullos Schultern.

»Hör zu, mein junger Freund! Urms steht im Verdacht, Laruna vergewaltigt und anschließend ermordet zu haben«, erklärte er sanft. »Sieh uns also bitte unseren Mangel an Gastfreundschaft in diesem besonderen Falle nach, wenn du kannst!«

Rullo stand da, wie vom Donner gerührt.

Um seine Mundwinkel zuckte es, während er ungläubigen Blickes in die wutverzerrten Gesichter der Menschen schaute, die um ihn herum standen.

Gewiss, als Urms gegen Mittag ins Dorf gebracht wurde, hatte auch Rullo den Verdacht gehegt, dass Urms irgendeine Untat begangen haben musste, die ihn zur eiligen Flucht aus seiner Heimat veranlasst hatte.

Denn dass er auf der Flucht war, bezeugten die blutbefleckte, zerrissene Kleidung und sein auch ansonsten verwahrlostes Äußeres.

Rullos Vater und die anderen Ratsmitglieder hatten ihn verhört, aber Urms zeigte sich verstockt und wollte nichts sagen.

Die Jäger, die ihn gefunden hatten, berichteten von unzusammenhängenden, sinnlosen Worten, die er vor sich hin gebrabbelt hatte, als sie ihn ins Dorf brachten.

Seit seinem Verhör aber war er gänzlich verstummt.

Nur einmal, als der Rat schließlich beschlossen hatte, ihn an seine Heimatgemeinde auszuliefern, hatte er leise aufgestöhnt und angefangen, am ganzen Leib zu zittern.

Doch dann, auf dem Schiff, war er wieder in jene Starre verfallen, die Menschen zeigen, deren Herz zwar noch schlägt, deren Seele aber schon nicht mehr im Körper wohnt.

Das, was Rullo nun hier erfahren musste, wandelte seinen Verdacht in schreckliche Gewissheit.

Rullo hatte vorhin seine Worte deshalb so rücksichtsvoll formuliert, da er um die tiefe Freundschaft Tarkons und Urms wusste.

Jetzt aber erkannte er, dass Urms Tat mehr als nur eine Freundschaft zerstört hatte.

Wieder suchte sein Blick Tarkon, und er empfand unsagbares Mitleid für ihn.

Er wandte sich an Beruns.

»Er ist auf dem Schiff«, sagte er mit brüchiger Stimme.

»Meine Leute bewachen ihn. Wir hätten ihn hierher tragen müssen, und außerdem klammert er sich derart an der Reling fest, dass wir gezwungen wären, seine Hände abzuhacken.«

Er berichtete kurz über den jämmerlichen Zustand Urms’.

»In seinen Augen ist Wahnsinn, und er riecht nach Tod«, beendete er seine Ausführungen.

»Ich werde ihn holen, und wenn ich die Reling in Stücke hauen müsste!«, schrie Truns. »Kommt, Leute, helft mir!«

»Nein, Truns! Ich werde ihn holen! Ich ganz alleine«, meldete sich da unerwartet Tarkon zu Wort.

Was er sagte, klang gefasst und bestimmt.

»Du? Du wirst ihn töten!«, knurrte Truns. »Du wirst ihn töten, bevor er vor seinen Richtern steht!«

»Oh, ich glaube, er ist schon tot«, entgegnete Tarkon mit ruhiger Stimme. »Aber ich werde die Worte finden, die ihn so lange wieder zum Leben erwecken, bis er sein Urteil gehört haben wird.«

»Worte ...«, höhnte Truns.

»Bleib hier, Junge, und lass Männer ihre Arbeit tun!«

Truns zog ostentativ seine Axt aus dem Gürtel und wollte die Halle verlassen, als Beruns ihm warnend Einhalt gebot.

»Truns«, sagte er, »wir verstehen deinen Zorn. Aber ich bin dennoch überzeugt, dass es Tarkons Aufgabe ist, Urms seinen Richtern zu überstellen.«

Er schaute Tarkon nachdenklich in die Augen.

»Geh jetzt, Tarkon! Ich weiß, dass von uns allen nur dir es gelingen wird, sich ihm zu nähern und ihn zu uns zu bringen.«

Tarkon nickte kurz, um sich dann, gefolgt von Rullo, auf seinen Weg zum Strand zu machen.

»Warum schickst du den Jungen? Ich bin immerhin ihr Vater!«, ereiferte sich Truns, und nicht wenige der Männer, die sich um ihn geschart hatten, pflichteten seinem Protest bei.

Beruns sah Truns eine Weile ernst an, dann wies er auf Larunas Mutter.

»Ethla, sprich du zu uns, und erkläre deinem Mann, was er offenbar nicht verstehen will«, forderte er sie auf.

Ethla trat dicht vor ihren Mann, wobei sie ihn nur mit einem kurzen, abfälligen Blick. bedachte.

»Du hast deine Tochter verloren – genau wie ich, die ich sie unter Schmerzen gebar«, begann sie leise und eindringlich zu sprechen.

»Du bist gerade dabei, den Baumstamm auszuhöhlen, der bald ihren Körper im Grabe bergen wird. Wir beerdigen unsere Tochter!«

»Doch Tarkon«, fuhr sie mit erhobener Stimme fort, »Tarkon muss zwei Menschen, die er liebte, beerdigen. Die Frau, die er heute heiraten wollte, und ihren Mörder, der bis heute sein bester Freund war.

Keinem unter uns ist es jemals widerfahren, sich einem solchen Schicksal unterwerfen zu müssen!

Urms hat einst das Leben Tarkons gerettet, und, wer weiß, vielleicht hätte auch Tarkon zu einer anderen Zeit und bei einer anderen Gelegenheit als auf der heiligen Insel die Möglichkeit bekommen, seine Lebensschuld an Urms zu begleichen.

Aber auf der Insel, während der Zeremonie der Initiation, bei der Urms dem in seinen Visionen ohne Zweifel geschauten vorherbestimmten Schicksal begegnet ist, hätte sich keiner seiner Bestimmung entgegenstellen dürfen.

Urms war es bestimmt, einen frühen Tod zu finden, und Tarkon wie auch Laruna hätten ihn in dieser besonderen Situation nicht verhindern dürfen!

Das müssen sie jetzt büßen. Und das ist auch der Grund, warum wir uns nicht einmischen dürfen, und wäre Moruns hier, würde er meine Worte bestätigen.

Nein, ich beneide Tarkon nicht um seinen einsamen und schweren Weg, den er nun gezwungen ist zu gehen!«

Ihre Worte verfehlten ihre Wirkung nicht, und alle, die sie gehört hatten, verharrten stumm. Ernste Betroffenheit war in ihren Mienen zu lesen.

Seit alters her lebten sie in dem unerschütterlichen Glauben an die Allmacht des Schicksals, die ihnen ihren Platz und ihre Aufgaben in dem unergründlichen Wirken der Natur zuwies.

Unterwarf man sich dem Schicksal, führte es den Menschen mit sanfter Hand. Versuchte man jedoch, sich dagegen aufzulehnen, riss es einen gewaltsam mit sich fort.

Unterdessen waren Tarkon und Rullo am Strand angekommen.

Das Schiff lag in einiger Entfernung im seichten Ebbewasser und dümpelte träge in der leichten Dünung.

Mond und Sterne gaben ausreichend Licht, sodass sie auf ihre mitgebrachten Fackeln verzichten konnten.

Rullo pfiff scharf und rief seiner Mannschaft zu, dass sie jetzt an Bord kommen würden.

Dann wateten sie zum Schiff. Als sie dort angelangt waren – das Wasser reichte ihnen nun bis zum Kinn - beugten sich zwei von Rullos Leuten über die Reling und halfen ihnen, an Bord zu klettern.

Tarkon schaute sich nach Urms um, konnte ihn aber zunächst nicht entdecken. Rullo wies mit dem Kopf nach achtern, wo Urms unter dem Hecksteven kauerte, die Arme wie ein Frierender um den Körper geschlungen.

Er wiegte sich unmerklich hin und her, wobei er die Melodie eines Kinderliedes summte.

Tarkon trat vor ihn hin und berührte seine Schulter.

»Urms«, sagte er sanft, »komm, steh auf! Wir gehen nach Hause.«

Zuerst schien Urms ihn nicht zu bemerken, und seine glanzlosen Augen blickten wie durch ihn hindurch.

Tarkon hockte sich vor ihn.

»Urms! Lass uns gehen, deine Eltern erwarten dich«, beschwor er ihn eindringlich.

Jetzt erst kam Leben in seine bis dahin teilnahmslosen Züge.

Urms’ Augen verengten sich, seine Hände fuhren ruckartig seitwärts nach oben und krampften sich um das Holz des Stevens.

Er begann leise zu kichern. Es klang irre.

»So, mein Freund. Meine Eltern erwarten mich, sagst du?«, flüsterte er. »Hm, wahrscheinlich auch mein Grab, hm? Mein Grab ...«

Tarkon wie auch Rullo und seine Mannschaft erschauerten bei diesen Worten bis ins Mark.

Jäh ließ Urms den Steven fahren und war mit einem Satz auf den Beinen.

Das geschah so plötzlich, dass einige Männer der Besatzung instinktiv zu ihren Dolchen griffen.

Als er dies sah, stieß Urms ein heiseres Lachen hervor.

»Na los! Ich bin unbewaffnet! Streckt mich nieder, dann habe ich es hinter mir! Oder noch besser, ihr gebt Tarkon eine Waffe, dann macht ihr euch eure Hände nicht schmutzig!« Wieder das irre Lachen.

Schließlich wandte er sich direkt an Tarkon. Seine Gesichtszüge entspannten sich und nahmen einen fast liebevollen Ausdruck an, wären da nicht seine kalten, starr blickenden Augen gewesen.

»Komm, Tarkon, nimm dir einen Dolch und genieße deine Rache!«, ermunterte er ihn, und seine Stimme klang dabei so sanft und heiter, als ob er ihm die letzten Bedenken nehmen würde, zu einem Fest zu gehen, von dessen Teilnahme sich Tarkon nicht gänzlich überzeugt zeigte.

»Oh«, fuhr er im selben Tonfall weiter fort, »ich habe dir wohl deine Hochzeit vereitelt, fürchte ich. Und deine Braut ermordet, glaube ich.«

Dann brach er in ein schrilles Gelächter aus.

Wenn Tarkon bis dahin noch einen Funken Hoffnung in sich getragen hatte, dass Urms vielleicht doch zu Unrecht des Mordes verdächtigt worden war, so war dieser Funken nun brutal zum Erlöschen gebracht worden.

Seine aufgestaute Wut auf den Mörder entlud sich in seinem Kopf, und vor seinen Augen loderte nur noch die grelle Waberlohe seines Hasses.

Mit einem heiseren, unmenschlichen Aufschrei riss er Rullo den Dolch aus dem Gürtel und stürzte sich auf Urms, der immer noch lachend und mit weit ausgebreiteten Armen vor ihm stand.

Doch bevor er sein todbringendes Vorhaben vollenden konnte, hatte Rullo geistesgegenwärtig den bereits zum Stoß erhobenen Arm gepackt und mit aller Kraft nach hinten gerissen, sodass Tarkon sein Gleichgewicht verlor und aufs Deck stürzte.

Im gleichen Moment war Rullo über ihm, kniete sich auf seine Arme und entwand ihm mühsam die Klinge, die er dann achtlos von sich schleuderte.

Unablässig bäumte sich Tarkon gegen die ihn zu Boden drückende Schwere von Rullos Körper auf, doch es war vergeblich.

Wie ein waidwunder Wolf heulte er daraufhin auf und versuchte, Rullo in die Arme zu beißen.

Doch der kam ihm zuvor und versetzte ihm einen heftigen Faustschlag auf die Schläfe, welcher ihn augenblicklich betäubt zusammensacken ließ.

Als er wenig später wieder zu sich kam, spürte er immer noch das Gewicht Rullos auf seinem Leib.

»Wirst du jetzt Ruhe geben, oder muss ich dir auch Fesseln anlegen«, knurrte Rullo.

Noch immer benommen, blickte Tarkon um sich und sah, dass Urms an Händen und Füßen gefesselt an Deck lag.

»Du ... du kannst mich jetzt loslassen«, presste Tarkon kurzatmig hervor.

Rullo lockerte behutsam seinen Griff und stand dann auf, wobei er Tarkon immer im Auge behielt.

Doch der betäubende Hieb hatte seine Wirkung getan und Tarkon wieder zu Verstand gebracht.

»Na los! Komm, ich helfe dir hoch«, sagte Rullo gutmütig und streckte ihm seine Hand hin.

Tarkon ergriff sie und rappelte sich auf. Er schüttelte sich kurz.

»Was ... was ist ... was habe ich ...?«

»Eine große Dummheit hättest du beinahe gemacht«, fiel ihm Rullo gelassen ins Wort.

»Wenn es dir gelungen wäre, ihn jetzt schon zu töten, hättest du ihm einen Gefallen getan – und dich selbst zum Schuldigen gemacht, denn nur euer Rat darf seinen Tod bestimmen. Erst dann darfst du ihn richten.«

»Danke, Rullo! Und verzeih mir! Ich ... ich habe mich wohl gehen lassen«, sagte Tarkon kleinlaut.

Rullos Lippen verzogen sich zu einem verlegenen Grinsen.

»Schon gut, mein Freund«, brummte er. »Wäre ich an deiner Stelle, wüsste ich nicht, wie ich mich verhalten hätte. Wahrscheinlich schlimmer!«

Dann wandte er sich Urms zu.

»Wirst du jetzt freiwillig mit uns kommen, oder müssen wir dich in dein Dorf schleifen?«

Urms ignorierte ihn und schaute ostentativ in eine andere Richtung.

»Auch gut«, sagte Rullo schulterzuckend. »Komm, Tarkon, wir werden im Dorf erwartet!«

Nacheinander sprangen sie über die Reling.

»So! Hievt das Stück Dreck von meinem sauberen Schiff! Ich werde ihn tragen«, rief Rullo seinen Gefährten zu, als sie wieder im Wasser standen.

Etwas unsanft ließen die Männer Urms an der Bordwand hinuntergleiten, was dieser widerstandslos über sich ergehen ließ.

Rullo packte ihn am Gürtel und zog ihn sich über die rechte Schulter.

»Schon gut! Ich kann das besser alleine«, schlug er knapp Tarkons Anerbieten aus, ihm zur Hand zu gehen.

Am Strand wurden sie von einigen Männern aus dem Dorf erwartet, die ihnen mit Fackeln den Weg gewiesen hatten.

Rullo ließ seine Last wie einen Sack in den Sand fallen.

»So«, atmete er sichtlich erleichtert auf, »meine Aufgabe ist erfüllt. Wir segeln nach Hause.«

»Wollt ihr nicht lieber die Nacht bei uns im Dorf verbringen«, bot Tarkon ihm an.

»Die Flut kommt, die Sterne leuchten – gutes Wetter für eine gute Fahrt!«, erwiderte Rullo. »Außerdem ist es ja nicht allzu weit!«

»Dann danke ich dir und deinen Männern für die Mühen, die ihr unseretwegen auf euch nehmen musstet! Ich hoffe, dass ich euch das bald einmal vergelten kann«, sagte Tarkon bewegt und umfasste Rullos rechte Hand.

»Ganz sicher – in besseren Zeiten! Jetzt aber wünsche ich dir Stärke auf deinem schweren Weg, der noch vor dir liegt. Und vergiss nie, dass du immer auf mich zählen kannst.«

Noch einmal schüttelten sie sich die Hände, dann – und ohne sich noch einmal umzudrehen – warf Rullo sich in die mittlerweile immer höher anlaufenden Wellen und kraulte zügig zu seinem Schiff zurück.

Sie sahen ihm noch eine Weile hinterher, dann machten sie sich auf den Weg zurück ins Dorf.

Sie hatten Urms zwar von seiner Fußfessel befreit, doch da er keine Anstalten machte, mit ihnen zu gehen, hatten ihn zwei Männer unter die Achseln gegriffen und schleppten ihn zwischen sich mit.

Die Dorfbewohner hatten unterdessen mit Fackeln in ihren Händen eine Gasse gebildet, die vom Tor der westlichen Umfriedung bis zur Ratshalle führte.

Als Tarkon und die anderen mit ihrem Gefangenen am Tor angelangt waren, wurden sie von Maeknas in Empfang genommen. Gleichzeitig erschallte von der Halle her der lang anhaltende, durchdringende Zweiklang der Luren.

Wortlos setzte sich Maeknas an die Spitze des kleinen Trupps, während Tarkon den Schluss bildete.

Kein Wort der Entrüstung oder des Abscheus drang aus dem bedrohlich eng stehenden Spalier der Menschen, welches sie nun durchschritten.

Außer dem fauchenden Zischen und Knistern der Kienspäne war nichts zu hören. Tarkon spürte diese brütende Stille körperlich. Seine Kehle war wie zugeschnürt, und in seinem Magen rumorte es.

Hinter ihm schloss sich die Gasse, und die Leute folgten ihnen in achtbarem Abstand.

Vor dem Ältestenrat blieben sie stehen.

Die zwei Männer, die Urms mit sich geführt hatten, ließen ihn los, worauf er in die Knie sank. Maeknas nahm seinen Platz im Rat ein, während Tarkon und die anderen ein paar Schritte zurücktraten.

Beruns wartete, bis sich alle Dorfbewohner in der Halle eingefunden hatten, dann erhob er sich.

Was nun geschah, nahm Tarkon nur noch wie im Traum wahr.

Kaum konnte er Beruns emotionsloser Rede zur Aufnahme des Verfahrens folgen, noch der sich anschließenden, flammenden Anklage Truns’.

Während der ganzen Verhandlung blieb sein Blick vielmehr auf die Gesichter von Urms’ Eltern fixiert, die aufrecht, Hand in Hand hinter ihrem Sohn standen und das Geschehen gefasst, aber mit ängstlichen Mienen verfolgten.

Dann kam der Moment, in dem Beruns die abgebrochene Dolchspitze emporhielt, um sie darauf dicht vor Urms’ Augen zu halten.

Urms wich so hastig davor zurück, dass er haltlos zur Seite fiel. Ein gequältes Stöhnen kam über seine Lippen.

Er zog die Knie an die Brust und begann wieder mit dem wimmernden Singsang des Kinderliedes.

Seinem plötzlich wieder aufkeimenden Mitleid folgend, wollte Tarkon dem einstigen Freund in seiner Pein Beistand leisten, doch da erschien vor ihm das blutleere Gesicht Larunas, welches ihn aus traurig hohlen Augen betrachtete.

Wie aus unendlicher Ferne drang ihre Stimme zu ihm.

»Willst du mir keine Ruhe gönnen ...?«

»Laruna«, hörte er sich rufen. »Warte, ich komme!«

Er drehte sich um und suchte wie traumwandelnd einen Weg zum Hallenausgang, als ihn eine Stimme, die wiederholt laut und deutlich seinen Namen rief, in die Wirklichkeit zurückriss.

Es war die Stimme Beruns’.

»Tarkon, du darfst die Versammlung nicht vor dem Richtspruch verlassen«, belehrte er ihn ernst.

Beruns ließ seinen Blick eine Weile über die Versammlung schweifen, dann erhob er seinen Amtsstab und stieß ihn dreimal kräftig auf die hölzernen Bodenplanken des Ratspodestes.

»Hört nun alle den Spruch eures Rates«, ließ er daraufhin seinen volltönenden Bass erklingen.

»Heute wurde in diesem Dorf ein scheußlicher Mord begangen. Eine Frau aus unserer Gemeinschaft, Laruna, die Tochter Truns’, des Schiffsbaumeisters, wurde von Urms, ebenfalls ein Mitglied unserer Gemeinschaft, an ihrem Hochzeitstag auf bestialische Weise vergewaltigt und anschließend getötet! Der Beweis für die Schuld des Urms wurde unwiderlegbar erbracht.

Somit ergeht folgendes Urteil: Urms wird zur Sühne seines Opfers am Tag der Beisetzung Larunas lebendig unter ihrem Sarg begraben. Sein Name und Andenken sei für immer ausgelöscht in unserer Mitte!«

Er unterbrach sich, und seine Augen suchten Tarkon.

»Was ich nun als Ergänzung zu unserem einstimmig ergangenen Urteil zu sagen habe, fällt mir außerordentlich schwer«, setzte Beruns dann seine Rede leiser und etwas stockend fort.

»Es hat in der Vergangenheit immer wieder einmal Verbrechen gegeben, die von Menschen, die in unserer Gemeinschaft gelebt haben, aus welchen Gründen auch immer verübt worden sind. Zumeist hat es sich dabei glücklicherweise um lässliche Delikte gehandelt, die einer materiellen oder zeitlich begrenzten Ahndung unterworfen waren. Nur sehr selten geschah es bisher, dass ein Delinquent der lebenslangen Ächtung oder gar dem Tod überantwortet wurde. In diesem Falle aber fordern die besonderen Umstände, die dieser abscheulichen Tat zugrunde liegen, eine Urteilsvollstreckung, die demjenigen, der sie durchzuführen hat, etwas abverlangt, was weit über das menschlich Erträgliche herausragt. Du, Tarkon«, und jetzt begann seine Stimme zu zittern, »musst Urms mit deinen eigenen Händen lebendig in sein Grab legen!«

Allen, die in der Halle versammelt waren, stockte nach diesen Worten schier der Atem.

Tarkon selbst blieb ruhig.

»Ich werde das tun, was das Gesetz von mir verlangt«, hörte er sich zu seiner eigenen Verwunderung gelassen sagen.

Zwei Tage nach der Urteilsverkündung war die Beisetzung Larunas anberaumt worden.

Es war Vormittag, und die Sonne, die von einem wolkenlosen Himmel schien, gab dem Leichenzug, der sich nun aus dem Dorf bewegte, ihr helles Geleit.

Das Gräberfeld des Dorfes erstreckte sich auf der anderen Seite des Birkenhages, in dem Laruna ermordet worden war.

Als ihre Ahnen vor sehr langer Zeit mit ihren Herden aus dem Osten hergezogen waren, fanden sie an der Stelle, wo sie schließlich das Dorf errichteten, die verfallenen Reste einer längst verlassenen Siedlung vor, deren unbekannte Bewohner ihre Toten in mächtigen, steinernen Grabkammern beigesetzt hatten, die dann mit Erde zu großen Hügeln aufgetürmt worden waren. Diese Totenstatt befand sich vor der westlichen Palisade am Fuße der Dünen in der Nähe des Schiffsanlegeplatzes.

Aus Respekt vor den Toten der ursprünglichen Bevölkerung dieser Gegend hatten die Ahnen beschlossen, ihren Begräbnisplatz weit entfernt davon und in ostwärtiger Richtung anzulegen, vielleicht auch, um an ihre verlorene Heimat im Osten zu erinnern.

Doch sie übernahmen den Brauch, Sand und Erde über den Toten zu einem kreisförmigen Hügel aufzuhäufen, um an sein Gedenken zu mahnen. Nur errichteten sie zuvor keine Kammern aus Steinen, sondern setzten die Verstorbenen mit ihren Beigaben in ausgehöhlten Baumstämmen bei.

Der Leichenzug war jetzt auf dem Gräberfeld eingetroffen.

Die Spitze des Zuges bildete Beruns, der vor den Eltern Larunas einherschritt.

Ihnen folgten sechs Frauen und Männer aus dem engsten Freundeskreis Larunas, die ihren auf eine Bahre gebetteten Körper auf den Schultern trugen.

Dahinter hatten sich alle übrigen Dorfbewohner angeschlossen, um Laruna auf ihrem letzten Weg zu begleiten.

Am Schluss und in einigem Abstand von den anderen ging Urms, der mit auf dem Rücken gefesselten Händen von zwei Männern mitgeführt wurde.

Alle hatten helle Festkleidung angelegt, und das Gold und die Bronze ihres Schmuckes und ihrer Waffen erglänzte gleißend in den Strahlen der Sonne über ihnen.

Während des ganzen Weges sangen sie.

Sie sangen von den Ahnen, von der Erde und von der Sonne.

Tarkon war nicht mit dem Leichenzug gegangen.

Er hatte sich seit Anbruch des Tages ganz allein zwischen den Hügeln des Gräberfeldes aufgehalten, um sich auf die Begräbniszeremonie und seine damit verbundene, düstere Aufgabe vorzubereiten.

Als der Zug auf dem Feld eintraf, stand er neben dem Kreis aus Feldsteinen, der das zukünftige Grab Larunas umgrenzte.

Innerhalb des Rundes war eine flache Grube ausgehoben worden, neben welcher der Sarg Larunas aufgestellt worden war.

Der Sarg selbst war aus einem mannshohen Baumstammteil gefertigt, das zunächst der Länge nach auseinandergesägt worden war. Danach hatte man die beiden Hälften sorgfältig ausgehöhlt und ihre Innenseiten mit Rindshäuten ausgekleidet.

Beruns betrat den Steinkreis und stellte sich an das Kopfende der unteren Sarghälfte.

Dann winkte er Tarkon an seine Seite.

Als sich alle um den Steinkreis versammelt hatten, gebot er den Bahrenträgern, Larunas Körper in den Sarg zu legen.

Man hatte ihre Leiche gewaschen und sie dann mit ihrer schönsten Festtracht bekleidet. An ihren Hand-und Fußgelenken, sowie an ihren Armen und um ihren Hals funkelte all ihr kostbares Geschmeide aus Gold, Bronze und Bernstein.

Tarkon, der von diesem Anblick zutiefst berührt und auch überwältigt war, betrachtete sie fasziniert und versonnen zugleich. Ein ruhiger, friedvoller Ausdruck lag in ihren Zügen, und ihre Lippen schienen zu lächeln. Hätte ihre Haut nicht diese fahle, blutleere Blässe aufgewiesen, hätte ein Unbeteiligter leicht den Eindruck gewonnen, auf eine Schlafende zu blicken, die gerade einen süßen Traum erlebt.

Jäh wurde Tarkon aus seiner Betrachtung gerissen, als Beruns mit lauter Stimme befahl, Urms vor ihn zu bringen.

Mit aller Macht drang ihm nun wieder ins Bewusstsein, welcher unsäglichen Pflicht er sich jetzt zu unterziehen hatte.

Sein Herz schlug ihm bis zum Halse, und seine Knie drohten nachzugeben.

Dann hatten sie Urms vor Beruns geschleppt.

Tarkon richtete den Blick auf seinen einstigen Freund, der nun apathisch und mit gesenktem Kopf vor Beruns kniete.

Kurz schaute er, wie um Kraft zu schöpfen, noch einmal zu Laruna, um sich dann wieder dem zuzuwenden, was nun geschehen sollte.

Beruns hatte unterdessen die Anklage und das Urteil über Urms neuerlich formuliert.

Am Ende seiner Rede zog er einen einfachen hölzernen Stab aus seinem Gürtel und hielt ihn mit beiden Händen über Urms’ Kopf.

»Die Gemeinschaft unseres Dorfes, die ihr Vertrauen in die Hände ihres Ältestenrates, zu dessen Haupt und Sprecher ich erwählt wurde, gelegt hat, hat aufgrund deines unfasslichen Vergehens an Laruna, der Tochter unseres Schiffsmeisters, beschlossen, dich hier den richtenden Händen des Todes auszuliefern. Das Gewicht des Sarges, der den Körper deines Opfers umhüllt, wird auf dir lasten wie deine mörderische Tat, der du dich schuldig gemacht hast.«

Beruns hielt einen Moment inne und holte tief Luft.

»Dies ist der Stab deines Lebens, der dir in die Wiege gelegt wurde«, fuhr er dann mit zitternder Stimme weiter fort, »und diesen Stab werde ich jetzt über dir brechen, auf dass dein Leben beendet und dein Andenken für alle Zeiten ausgelöscht sein werde.«

Das hohle Knacken, mit dem der Stab zerbrach, unterstrich die Endgültigkeit dieses Urteils und ließ alle Anwesenden dumpf aufstöhnen.

»Es ist nun an dir, Tarkon, das Urteil zu vollstrecken!«

Tarkon hörte es, und mit einem Male war alle Scheu vor dem, was er jetzt tun musste, von ihm gewichen. Keine hindernden Emotionen bewegten ihn mehr.

Er fühlte sich einfach nur noch leer und wunderbar leicht.

Alles, was um ihn war, schien verschwunden, und er glaubte, an einem kalten, klaren Wintermorgen auf einem weiten, weiß schimmernden Schneefeld zu stehen, auf das eine rote Sonne von einem blassblauen Himmel schien. Er roch förmlich die metallwürzige Luft, die der Schnee um ihn verbreitete.

Und dann sah er ein unförmiges schwarzes Bündel, welches die kristallreine Schneedecke wie ein hässliches Geschwür verunstaltete.

Er ging darauf zu und warf es in einen gähnenden, feuchtdunklen Abgrund, der sich plötzlich daneben auftat.

Augenblicklich schloss sich der Abgrund wieder, und es blieb ein dunkler Flecken Erde, den er darauf sorgsam mit Schnee bedeckte.

Als er sich wieder aufrichtete, sah er, dass das Schneefeld sich nun wieder rein und makellos vor ihm erstreckte.

Eine tiefe Ruhe erfüllte seine Seele.

Er blickte nach vorne und setzte seinen Weg über die weiße Unendlichkeit fort.

Es war alles sehr schnell gegangen. Tarkon hatte Urms, der die ganze Zeit über starr und stumm auf dem Boden gekniet hatte, in die Grube gestoßen, wo er auf seine rechte Seite zu liegen kam.

Dann hatte Tarkon damit begonnen, ihn mit der Erde, die neben der Grube aufgehäuft war, zu bedecken.

Mit einem Male und ohne sein Werk zu vollenden, war er plötzlich aufgestanden, um traumverloren durch die Reihen der Dorfbewohner zu wandeln, die ihm staunend und ehrfürchtig den Weg freimachten.

Dabei lag in seinen Augen ein seltsam entrückter Glanz, und um seine Lippen spielte ein unmerkliches Lächeln.

Niemand wollte ihn zurückhalten, und auch Beruns hob hinter ihm grüßend die Hand.

Nachdem Tarkon den Begräbnisplatz verlassen hatte, widmeten sich die Übrigen wieder andächtig dem Fortgang der Zeremonie.

Zunächst schaufelten ein paar junge Männer die Grube, in der Urms immer noch bewegungs- und teilnahmslos lag, vollends zu, doch erst als der letzte Rest Erde über ihm verteilt worden war, drang ein leises, ersticktes Röcheln hohl aus dem lockeren Erdreich.

Darauf stellten sie zum Schluss noch die untere Sarghälfte, in der Larunas Körper ruhte, und traten dann ehrfurchtsvoll zurück.

»Jetzt, nachdem wir den Tod Larunas gesühnt haben, wollen wir Abschied nehmen von ihrem Körper«, sprach Beruns bewegt. »Kommt alle, und bringt eure guten Wünsche und Gebete!«

Larunas Eltern stellten sich daraufhin am Kopfende des Sarges auf und legten ihre rechte Hand auf das Holz des Stammes, während Beruns als Erster vor sie hintrat und, ebenfalls das Holz berührend, sich tief vor der Toten und ihren Eltern verneigte. Dann legte er eine bronzene Armspange zu Füßen Larunas in den Sarg, sprach leise ein kurzes Gebet und trat dann zur Seite.

Seinem Beispiel folgend, schritten die übrigen Dorfbewohner, einzeln oder als Paar zum Sarg und nahmen auf ähnliche Weise Abschied von Laruna. Jeder brachte ihr eine kleine, letzte Gabe dar, Haar- und Gewandnadeln aus Bronze, Armspiralen, Fußspangen und Ketten aus Bernstein oder Bronze. Auch Ringe und Armbänder aus Gold wurden ihr mitgegeben, und ihr Körper war bedeckt von vielen bunten Sträußen aus duftenden Feldblumen.

Ganz zum Schluss näherten sich auch Urms’ Eltern dem Sarg, wagten es aber nicht, bis ganz an ihn heranzutreten, sondern blieben in einiger Entfernung sichtlich beschämt und verunsichert stehen.

»Niemand von uns macht euch für die Tat eures Sohnes verantwortlich. Vor allem nicht, nachdem er dafür gebüßt hat«, sagte Beruns ruhig. »Kommt und sprecht euer Gebet!«

Die beiden waren in all ihrem Schmuck erschienen und traten nun Hand in Hand vor den Sarg.

Sie verneigten sich stumm und begannen dann, sich ihrer Armreifen, Ringe, und was sie sonst noch an Schmuck an ihrem Körper trugen, zu entledigen und sie vor dem Fußende des Sarges abzulegen.

Kaies, Urms’ Vater, legte zudem noch seine kostbaren Waffen, sein Schwert, seinen Dolch und seine Axt dazu, was für ihn ein besonderes Opfer war, galt er doch als einer der besten Kämpfer im Dorf.

»Das ist alles, was wir haben«, sagte er schließlich und blickte unbeholfen zu Boden.

»Nur noch dies, wenn ich darf«, meldete sich Rhea, seine Frau, mit leiser, vom Kummer heiser gewordener Stimme zu Wort.

Umständlich nestelte sie einen kleinen Bund Kornblumen unter ihrem Obergewand hervor und hielt ihn mit zitternden Händen flehentlich Larunas Eltern entgegen.

Ethla konnte sich ob dieser Geste ihrer Tränen nicht länger erwehren und schaute ihren Mann an, der in diesem Moment ebenfalls um seine Fassung rang.

»Das muss doch einmal ein Ende haben«, rief Ethla gequält.

Sie lief mit ausgebreiteten Armen zu Rhea und umarmte sie innig.

»Wir haben doch beide unsere Kinder verloren«, schluchzte sie, »ist das nicht genug? Urms hat seine Tat gesühnt. Lasst uns nun unseren Frieden auf ihrem Grab machen!«

Unterdessen war auch Truns zu Kaies gegangen und bot ihm die Hand.

»Nimm deine Waffen wieder auf, Kaies!«, sagte er beherrscht und mitleidsvoll zugleich. »Unsere Frauen haben Recht! Es gibt keinen Grund, dass Feindschaft zwischen uns sei. Ihr habt euren gesamten Besitz hierher gebracht – nehmt ihn wieder zurück und gebt ihr meinethalben eine Spange ins Grab. Es ist, wie Beruns sagte: Die Tat eures Sohnes ist nicht die eure! Lasst uns also versöhnt den Grabhügel über unsere Kinder errichten.«

Kaies bückte sich verlegen und griff nach seinem Schwert.

»Nimm dies als Dank für deine Güte«, murmelte er und wagte nicht, in Truns’ Gesicht zu sehen.

»Behalte deine Waffe, Kaies! Dir steht sie besser als einem Schiffsbaumeister!«, wehrte Truns sein Anerbieten ab.

Kaies erhob sich und umfasste linkisch Truns’ rechte Hand.

»Ich danke dir und Ethla für das Mitgefühl, dass ihr uns hier habt zuteil werden lassen. Wir stehen tief in eurer Schuld, das wissen wir! Aber wir wissen auch, dass wir die Toten durch’ nichts mehr zum Leben erwecken können. Wollen wir also zusammen die Erde über die Körper unserer Kinder schichten.«

Gemeinsam schauten sie nun zu Beruns, der bis dahin dem Geschehen abwartend beigewohnt hatte.

»So sei es«, gebot Beruns darauf mit lauter Stimme. »Die Toten sind gesühnt, und auch wenn wir Urms’ Namen seiner Tat wegen aus unserer Erinnerung gestrichen haben, sollten wir nicht vergessen, dass auch er nur das Werkzeug eines unabwendbaren Schicksals gewesen war. Schließt nun den Sarg und lasst die Toten ruhen!«

Auf sein Geheiß traten wieder die jungen Männer an den Sarg, die ihn zuvor an dieser Stelle abgesetzt hatten.

Sie legten die über den Sargrand hängenden Rinds-häute über den Körper Larunas und hoben hernach die als Deckel gedachte zweite Stammhälfte auf das Unterteil.

Mit bronzenen Nägeln verschlossen sie am Ende den Sarg, um dann ehrfurchtsvoll zurückzutreten.

Noch einmal ergriff Beruns das Wort.

»Wir haben uns im Rat darüber Gedanken gemacht, wer noch außer den nächsten Verwandten der Toten die Ehre haben darf, diesen Hügel zu errichten, und wir sind einhellig zu der Überzeugung gelangt, dass es die jungen Frauen und Männer sein sollen, die mit ihr auf der Insel waren. Mögen sie daher gleich mit ihrer Arbeit beginnen!«

»Dann bin ich ja zur rechten Zeit gekommen«, ließ sich da Tarkons Stimme vernehmen, der, von allen unbemerkt, zum Begräbnisplatz zurückgekehrt war.

Er betrat den Steinkreis und kniete kurz vor dem Sarg nieder.

Danach erhob er sich und ergriff einen der hölzernen Spaten, die am Rande des Rundes abgelegt worden waren.

»Jetzt lasst uns unsere Arbeit tun«, rief er und warf als Erster die sandige Erde über den Sarg.

Die Kinder der Sonne/Die Nomaden der Meere

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