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Allgemeine Rechtsgrundsätze (Bernhard Kempen)
Lit.:
G. Jaenicke, Völkerrechtsquellen, in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. III, 2. Aufl., 1962, 766, 770; G. Ress, Rechtsgrundsätze, allgemeine, in: I. Seidl-Hohenveldern (Hrsg.), Lexikon des Rechts/Völkerrecht, 1985, 216.
In Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut werden als dritte Rechtsquelle die Allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie von den zivilisierten Nationen anerkannt werden, genannt. Dieser Begriff bedarf zunächst der Abgrenzung zum → Völkergewohnheitsrecht. Denn Allgemeine Rechtsgrundsätze sind nicht etwa jene Normen des Völkergewohnheitsrechts, die alle oder die überwiegende Mehrheit der → Staaten binden, es handelt sich nicht nur um eine andere Bezeichnung für universelles Völkergewohnheitsrecht. Die Allgemeinen Rechtsgrundsätze bedürfen zu ihrer Geltung im Gegensatz zum Völkergewohnheitsrecht nämlich nicht einer allgemeinen Übung. Vielmehr werden als Allgemeine Rechtsgrundsätze jene Regeln angenommen, die, vergleicht man die nationalen Rechtsordnungen, in einer Vielzahl von diesen übereinstimmend gelten. Festgestellt wird damit eine einheitliche Rechtsüberzeugung und schon diese Feststellung reicht für eine Bindungswirkung aus.
Keine übermäßige Bedeutung kann in diesem Kontext dem Kriterium der zivilisierten Nation zukommen. Denn mit dem Grundsatz der souveränen Staatengleichheit (→ Gleichheitsprinzip) ist eine Klassifizierung der Staaten, selbst wenn diese sich im Einzelfall völkerrechtswidrig oder „unzivilisiert“ verhalten, nicht vereinbar. Damit muss es ausreichen, dass ein Staat über eine entwickelte, der Analyse überhaupt zugängliche Rechtsordnung verfügt. In der Praxis wird allerdings zumeist nicht die einzelne nationale Rechtsordnung der Analyse unterzogen, sondern es wird nach Prinzipien gesucht, die einem ganzen Rechtskreis, wie z. B. dem kontinentaleuropäischen, gemein sind.
Die Herleitung Allgemeiner Rechtsprinzipien aus den Rechtsordnungen von Einzelstaaten wird insbesondere von jenen kritisiert, die als Geltungsgrund des Völkergewohnheitsrechts einen pactum tacitum, einen stillschweigend geschlossenen Vertrag, annehmen wollen – ein Staat könne nur einer Rechtsnorm unterworfen sein, deren Geltung er ausdrücklich anerkannt habe. Allerdings ist diese – zumeist von sozialistischen Ländern vorgebrachte – Kritik weniger einem generellen Zweifel an der Existenz überstaatlicher, allgemeiner Rechtsgrundsätze geschuldet, sondern der Sorge um deren zu starke Prägung durch westlich orientierte, als imperialistisch diskreditierte Rechtsordnungen.
Wie auch für das Völkergewohnheitsrecht kann dieser Auffassung entgegengehalten werden, dass sie die Tatsache ignoriert, dass Staaten bereit sind, sich den genannten Allgemeinen Rechtsgrundsätzen zu unterwerfen und damit deren Vorhandensein und Geltung bestätigen. Dabei ist die Grenze zwischen positivem Recht und rein ethischen Maßstäben fließend, ist doch Basis für eine gesetzgeberische Entscheidung in einer Vielzahl von Staaten häufig eine nahezu allgemein vorhandene sittliche Überzeugung.
Beispiele für Allgemeinen Rechtsgrundsätze finden sich insbesondere im Bereich des nationalen Vertrags- und Schuldrechts. So werden zum Beispiel der Grundsatz von Treu und Glauben, von bona fides, ebenso zu den Allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Völkerrechts gezählt wie das Verbot des Rechtsmissbrauchs, der Grundsatz der Schadensersatzpflicht bei Vertragsverletzungen und ganz allgemein der Grundsatz der Billigkeit, equity. Vielfach erwachsen die genannten Allgemeinen Rechtsgrundsätze durch ständige Übung selbst zu Gewohnheitsrecht oder stellen die Basis vertraglicher Kodifizierungen dar. So hat beispielsweise das Prinzip pacta sunt servanda Eingang in Art. 26 WVRK gefunden.