Читать книгу Courage. Im Schatten des Nanga Parbat 1934 - Bettina Hoerlin - Страница 10

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In aufeinanderfolgenden Wintern bestiegen Hoerlin und Schneider verschiedene Aiguilles von Chamonix und von Courmayeur aus, das heißt von der französischen und italienischen Seite. Im Winter 1928 peilten die beiden gemeinsam mit zwei anderen Bergsteigern13 die Aiguille Verte an, die als einer der schwierigsten und eindrucksvollsten Berge im Mont-Blanc-Gebiet angesehen wurde. Um 4 Uhr früh brachen sie mit Skiern auf und überquerten im Licht ihrer Laternen einen gefährlichen Gletscher. Immer wieder mussten sie die Ski an- und abschnallen, je nachdem, was die Wegsuche im Labyrinth der bedrohlichen Spalten, Eistürme und Abgründe des Gletschers von ihnen verlangte. Als sie die steilen Couloirs der Aiguille erreichten, tauschte die Seilschaft die Ski gegen Steigeisen. Bei perfektem Wetter war das Aufsteigen in den lawinengefährlichen Rinnen anregend. „Es war wie in einem Märchen“, schrieb mein Vater enthusiastisch. „… Winter, die Sonne schien, der Himmel war dunkelblau und wir standen auf 4000 Meter Höhe.“14 Auf dem schmalen Gipfel führten die jugendlichen Eroberer einen Siegestanz auf, begleitet von Gejohle und Gebrülle – ein Ausdruck schierer Freude, der auch half, die gefrorenen Zehen aufzutauen. Dieses Ritual, der sprichwörtliche Tanz auf der Nadelspitze, wiederholten sie zwei Tage später, als sie mit der ersten Winterbesteigung der Les Droites einen weiteren Triumph feiern konnten.

1929 trafen sich Pallas und sein österreichisches Gegenüber erneut in Italien mit den Zielen Aiguille Noire und Aiguille Blanche de Peuterey, die damals zu den risikoreichsten Touren in den Alpen zählten und noch nie im Winter bestiegen worden waren. Sie waren entschlossen, zu Ehren eines ihrer Kameraden vom Vorjahr erfolgreich zu sein, der in der Zwischenzeit bei einem unglücklichen Kletterunfall ums Leben gekommen war.15 Trotz unsicherem Wetter erfüllten Hoerlin und Schneider ihre Mission. Ihre Winterbesteigung der Aiguille Blanche bedeutete zudem einen erstaunlichen Rekord: Sie war schneller als die bis dahin schnellste Sommerbesteigung gewesen. Bei der darauffolgenden Winterbesteigung der Aiguille Noire brach im Abstieg ein plötzlicher Sturm über sie herein, der sie zu einem Biwak ohne Schlafsäcke und warme Kleidung zwang. Am nächsten Tag erholten sie sich von ihrer Tortur, legten sich in die Sonne und ölten sich mit italienischem Olivenöl ein, um ihre Bräune zu verbessern (aber nicht ihren Geruch …). Auch im Glanz ihrer Erfolge konnten sich die beiden Bergsteiger an diesem Tag sonnen.

Aber ihre Taten waren noch nicht vorüber: Dem unermüdlichen Paar gelang die erste Winterüberschreitung der drei Mont-Blanc-Gipfel, Mont Blanc, Mont Maudit und Mont Blanc du Tacul – eine zermürbend lange Route, die in Frankreich begann und in einer sternenklaren Mondnacht in Italien endete. Auf ihrem Weg nach Courmayeur stolperten sie müde in ein bescheidenes Bauernhaus, dessen wohlwollender Besitzer ihnen Betten anbot. Es war das passende Ende eines glorreichen Tages. Mein Vater schrieb später: „Was wir in unseren kühnsten Träumen kaum gehofft hatten, ist Wirklichkeit geworden.“16 Pallas und Schneider hatten mehrere Bergsteigerrekorde aufgestellt und sich als außergewöhnlich schnelle Seilschaft etabliert, die nach Meinung eines führenden britischen Bergsteigers „ein brillantes Register großer Bergfahrten aufweist wie keine anderen jungen Bergsteiger in Europa“.17 Jahre später wurde Hoerlin noch weiter gelobt: „In den Jahren 1926 bis 1930, in einer Zeit, in der man die Grundlagen für die heutige Schwierigkeitsskala schuf [...] führte unser Mitglied Hermann Hoerlin in den Westalpen bereits großzügigste Fahrten im Sommer und im Winter.“18

Obwohl Pallas auf dem Gipfel eines Berges am glücklichsten war, riefen andere Aufgaben. Nach Abschluss seines Studiums am Technischen Institut Stuttgart kehrte er für ein Jahr nach Schwäbisch Hall zurück, um während einer Krankheit seines Vaters den Familienbetrieb zu führen. Nach einem Jahr stabilisierte sich der Gesundheitszustand seines Vaters und der 23-Jährige beschloss, sein Studium mit Schwerpunkt auf Fotophysik am Technischen Institut Berlin fortzusetzen. Es gab aufregende Entwicklungen in der Fotografie und der aufstrebenden Filmindustrie, und mein Vater fand sich in vorderster Front bei neuen Entdeckungen zur Verbesserung der Filmqualität, Techniken der Dokumentarfotografie und -filmerei wieder. Kinofilme kamen in Mode und Berlin war die Hauptstadt europäischer Filmkunst. Deutschlands erster Tonfilm, „Der Blaue Engel“, wurde über Nacht zu einer Sensation durch seine femme fatale, Marlene Dietrich, und seine Darstellung der damaligen Zeit: die Dekadenz des Kabarett-Lebens, die generelle Freizügigkeit, schockierende Nacktheit und offene Sexualität.

Der junge Mann aus Schwaben dürfte aus dem Staunen über diese neue Welt nicht hinausgekommen sein. Welch Kontrast zum konservativen und traditionellen Stil Stuttgarts, und erst recht zu Schwäbisch Hall! Berlin hatte sein strenges preußisches Image abgelegt und erfand sich als „… Hauptstadt des Modernismus“ neu.“19 Künstler, Musiker und Schriftsteller strömten in die pulsierende Stadt, um an ihrem Boom teilzuhaben und selbst ihre Spuren zu hinterlassen. Moderne Technik war überallhin sichtbar, ob in Form der gleißenden Straßenlaternen, dem Netzwerk von Schnellzügen, dem fortschrittlichen Trink- und Abwassersystem oder den großen, protzigen Kaufhäusern mit ihren schnellen Aufzügen. Auch in der Wissenschaft herrschte eine anregende Atmosphäre, mit Entdeckungen wie der Quantenmechanik oder der Relativitätstheorie. Die Physik veränderte die Sichtweise auf die Welt und zog die besten und hellsten Köpfe an. Berlins Art, Neuerungen mit offenen Armen zu empfangen, war ansteckend, und Hoerlin genoss es. Doch er vermisste die Großartigkeit und den Nervenkitzel des Bergsteigens.

Als er eine Einladung zur Internationalen Expedition zum Kangchendzönga 1930 erhielt, zögerte Hoerlin nicht. Seitdem er sich an den Aiguilles des Mont Blanc selbst übertroffen hatte, hatte er davon geträumt, einmal im Himalaya bergzusteigen. Hier lagen die höchsten Berge der Welt, vierzehn davon über 8000 Meter hoch – kein Vergleich zu den 4810 Metern des Mont Blanc. Niemand hatte bislang einen davon bestiegen. Das hohe Ziel der Expedition war die Besteigung des dritthöchsten Berges der Welt.20 Auch Schneider war eingeladen worden. Er und Pallas waren von einem bekannten Bergsteiger, dem Briten Frank Smythe, enthusiastisch für die Expedition empfohlen worden. Ihre und Smythes Wege hatten sich 1928 gekreuzt, als der Engländer zwei neue Wege in der Brenvaflanke (Südwand) des Mont Blanc eröffnete. Es war ein zufälliges Treffen gewesen. Smythe sah „… Herrn Hoerlin (als) einen von Deutschlands unternehmungslustigsten jungen Bergsteigern“ an21 – eine Einschätzung, die der erfahrene Expeditionsleiter, der Wahlschweizer Günter Oskar Dyhrenfurth, teilte.

Mit der Einladung bot sich für Hoerlin eine Gelegenheit, seine angehende Berufung (Physik) mit seiner blühenden Nebenbeschäftigung (Bergsteigen) zu kombinieren. Neben seiner Rolle als Schlüsselmitglied des Bergsteigerteams würde Hoerlin Forschungen auf dem Gebiet der Fotografie betreiben, wie die Beurteilung von Filmen, Belichtungszeiten, Objektiven, Filtern sowie der Vor- und Nachteile verschiedener Kameratypen.22 Auch würde er bei der Produktion eines Films mitwirken, „Himatschal – Thron der Götter“, der den Besteigungsversuch dokumentierte und dem Publikum die fremden Zivilisationen und Landschaften von Nepal und Sikkim näherbrachte. Das Resultat war der erste Film einer erfolgreichen Himalaya-Expedition (durch die Besteigung des Siebentausenders Jongsong Peak), nachdem die Engländer bereits 1922 und 1924 am Mount Everest Filme in Spielfilmlänge gedreht hatten, die auch in den Kinos gezeigt wurden.

Für einen 27-Jährigen war dies alles ungeheuer aufregend. Im Februar verließ er Berlin, machte Halt in Schwäbisch Hall, um sich von seiner Familie zu verabschieden, und bestieg in Venedig das Schiff nach Indien. Das gewohnheitsmäßige Lächeln seines Vaters war einem breiten Strahlen gewichen, wusste er doch, dass sein Sohn die Grenzen des Gewohnten durchbrechen würde – intellektuell wie körperlich. Es war so, wie er es sich für ihn erträumt hatte. Ja, es ging sogar darüber hinaus. Auch Hoerlins Schwester war begeistert. Gemeinsam mit ihrem abenteuerlustigen Bruder stieg sie die 54 Stufen der St. Michaelskirche hinauf, damit es ihm Glück brächte. Dabei lachten sie darüber, wie viele dieser Stufen es bräuchte, bis sie den Gipfel des Kangchendzönga erreichen würden. Seine stoische Mutter verbarg ihre Sorgen und backte als liebevolle Geste einer typischen Mutter „Hermännles“ Lieblingskuchen, eine Haselnusstorte. Als Hoerlin nach der Zugfahrt quer durch Europa in Venedig ankam, hatte er den ganzen Kuchen aufgegessen. Unter seinem ruhigen und gefassten Auftreten lag ein gieriger Appetit, nicht nur kulinarisch. Bald würde er zu einem neuen Abenteuer aufbrechen, per Schiff zu kaum bekannten Ländern und Kulturen reisen und zu Fuß zu noch nie betretenen Bergen gelangen.

Courage. Im Schatten des Nanga Parbat 1934

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