Читать книгу Courage. Im Schatten des Nanga Parbat 1934 - Bettina Hoerlin - Страница 16
ОглавлениеVor diesem Hintergrund und anhaltenden Gerüchten, Peck habe den niedrigeren Gipfel gar nicht erreicht, setzte sich die Expedition 1932 den höheren Südgipfel zum Ziel, den Peck nicht versucht hatte. Damit erkannten sie die Besteigung des Nordgipfels durch Peck an, die dieser im Alter von 58 Jahren im sechsten Anlauf gemeinsam mit zwei erfahrenen Schweizer Bergführern gelungen war. Der Nevado Huascarán weist enorme Spalten, brüchige Schneebrücken und fürchterliche Seracs (Eisabbrüche) auf, welche den Weg zur Garganta, dem Sattel zwischen Nord- und Südgipfel, blockieren.
Nachdem sie einen Weg durch das verschlungene Labyrinth gefunden hatte, hielt die Seilschaft von 1932, bestehend aus vier Deutschen und einem Österreicher76, auf den Südgipfel zu. Sie wateten durch Tiefschnee und versuchten sich von der monotonen Stapferei abzulenken, indem sie zunächst Schritte und dann auf Vorschlag des Expeditionsarztes ihren Pulsschlag zählten. Um 17 Uhr hatten alle den Gipfel erreicht. Schnell setzten sie einen 16 Meter hohen Fahnenmast, den sie in Segmenten hinaufgetragen hatten, zusammen und hissten die peruanische Flagge „… als Zeichen des Anstands“77 auf dem höchsten Berg des Landes. Wenige Tage später reichten sie in Yungay ein Teleskop unter den skeptischen Einheimischen herum, die noch immer Zweifel an Annie Pecks Besteigung hegten.78 So sahen sie mit eigenen Augen den Beweis, dass der Gipfel „ihres“ Huascarán erreicht werden konnte: Die Flagge war noch aus 19 Kilometern Entfernung sichtbar und blieb fünf Wochen lang stehen. Die Dorfbewohner schienen mehr darüber erfreut zu sein, ihre Landesflagge auf dem Gipfel wehen zu sehen, als über die erfolgreiche Gipfelbesteigung durch die „verrückten Gringos“. Traurigerweise stürzte durch ein Erdbeben 1970 ein gewaltiger Eis- und Felsblock vom Nevado Huascarán hinab und löste einen gigantischen Erdrutsch aus, der Yungay und einen Großteil seiner 19.000 Einwohner auslöschte.
Nevado Huascarán, der höchste Berg Perus
Nach dem Erfolg am Nevado Huascarán teilte sich die Gruppe auf. Die einzelnen Teilnehmer führten Erstbesteigungen von einigen zuvor unbestiegenen Gipfeln durch79 und gingen ihren jeweiligen topografischen, geografischen und kulturellen Forschungen nach. Was die Kartierung der Region anging, war es der Beginn einer langen Tätigkeit des angehenden Kartografen Schneider, der 1936, 1939, 1950 und 1954 nach Peru zurückkehrte.80 Heute verdeutlichen seine Aufnahmen und Messungen den dramatischen Rückgang der Gletscher über die Jahre. Seine genau gezeichneten Karten werden noch immer genutzt und von den peruanischen Bergführern gepriesen. Mein Sohn Noah und seine Verlobte Katherine erfuhren dies selbst, als sie im Herbst 2006 in Peru bergstiegen. Als Noah erwähnte, dass sein Großvater an der Expedition 1932 teilgenommen hatte, war sein Bergführer begeistert und zeigte ihm die Karte, die er benutzte – eine Landkarte des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins, erstellt von Erwin Schneider. Das Exemplar meines Vaters hängt in einem edlen Rahmen im Schlafzimmer von Noahs und Katherines kleinem Sohn.
Nestor Montez mit Hoerlins Geräten zur Messung der kosmischen Strahlung
Hoerlin hatte im Hochland der Cordillera Blanca mit seinen wissenschaftlichen Experimenten, den Messungen der kosmischen Strahlung, begonnen. Beim Aufstellen seine schweren Messinstrumente assistierte ihm ein bemerkenswerter Träger, Nestor Montez. „Der intelligente Mann überraschte mich mit Kenntnissen über unser Sonnensystem, […] der anderen Planeten, […] und auch politischen Gesprächen“, so mein Vater.81
Nestor82 war der kleinste unter den Trägern und besaß eine schier unersättliche Neugierde in Bezug auf die Forschung nach der kosmischen Strahlung. Mein Vater brachte ihm die Grundlagen bei, während Nestor ihn im Gegenzug über die politische Bewegung der APRA (Alianza Popular Revolucionaria Americana) aufklärte. Wie schon in Indien sympathisierte mein Vater mit der Revolution. Die Kämpfe hielten zehn Jahre an und kosteten schließlich auch Nestor das Leben.
Es war kein Problem, die sperrigen Gerätschaften Hoerlins auf einem Packesel zu transportieren. Sie jedoch zu einem 6000 Meter hoch gelegenen Beobachtungspunkt zur Messung der kosmischen Strahlung zu tragen, war etwas anderes. Das Strahlenmessgerät wog rund 300 Kilo. Es wurde zerlegt und von Trägern auf den Hualcan transportiert, einen der leichteren, aber dennoch nicht ungefährlichen Gipfel. Hoerlin errichtete dort eine Reihe von Messstationen, in denen er jeweils alleine einige Tage zubrachte: in der ersten auf 4700 m zwanzig Tage, in der nächsten auf 5500 m fünfzehn Tage und in der letzten auf 6100 m sechs Tage. Die letzte Station auf einer Schneekuppe machte es ihm einfach, während seines Aufenthalts mehrfach den nahen Gipfel (6122 m) zu besteigen.
Obwohl der Hualcan relativ einfach zu besteigen war, erwies er sich in anderer Hinsicht als unglückliche Wahl. Aufgrund seiner Lage innerhalb der Bergkette und zu den umliegenden Tälern zog er beständig eine Wolkendecke, heftige Gewitter und tosende Stürme an. Unter diesen furchteinflößenden Umständen und allein waren die Tage für Pallas quälend lang, und zu häufig verhinderte das Wetter jegliche Forschungsarbeiten. An einigen Tagen blieb dem einsamen Bergsteiger-Forscher nichts anderes übrig, als in seinem Zelt auszuharren. Seine einzige Begleitung waren attraktive, glänzende und – in einigen Augen – übergewichtige Instrumente, die sich ohne Entschuldigung in der engen Behausung breitmachten und ihm kaum Platz für seinen Schlafsack ließen. Andererseits dienten sie als sichere Verankerung für das Zelt, wenn Winde mit Sturmstärke drohten, ihn vom Berg zu blasen. In den schlimmsten Momenten der Gewitter verzog sich Pallas in eine Schneehöhle, die er gegraben hatte, da er befürchtete, das Zelt und sein Inhalt würden Blitze anziehen. Ein ums andere Mal riss der Himmel auf und erlaubte ihm, die Monotonie zu unterbrechen und den nahen Südgipfel des Hualcan zu besteigen, von wo aus er die spektakulären Berge der Umgebung bewundern konnte. „Da saß ich zufrieden und glücklich vor dem Zelt und freute mich der Schönheit [sic] dieser Hochgebirgslandschaft und der weiten Welt. Stundenlang konnte ich so sitzen …“83
Die höchste Messstation für kosmische Strahlung auf der Welt: Hoerlins Zelt mit dem Gipfel des Hualcan im Hintergrund
An diesen seltenen Tagen stapfte eine Handvoll Träger – meistens mit Nestor – in Begleitung des 47-jährigen Borchers den Berg hinauf, brachten Nachschub an Verpflegung und halfen, die Messinstrumente zu bewegen. Sehr zur Freude Hoerlins brachten sie Briefe von der Familie und Freunden – sicherlich einer der welthöchsten Postdienste. Diese willkommenen Abwechslungen, die mehr vom Wetter als von der Planung der wissenschaftlichen Arbeit bestimmt wurden, durchbrachen für kurze Zeit Hoerlins Einsamkeit, doch ansonsten war er über insgesamt 45 Tage allein. Pallas stellte damit vielleicht einen Rekord der anderen Art auf: die längste Zeit, die eine einzelne Person in dieser Höhe zugebracht hatte.84 Sicher brach er den Rekord für die Aufstellung und Besetzung der höchsten Messstation für kosmische Strahlung weltweit.
Bei Pallas’ Rückkehr ins Basislager herrschte große Freude. Den Teilnehmern der Expedition lag sehr viel am Erfolg seiner Forschungsarbeit. Seine Messinstrumente waren ein fester Bestandteil des Unternehmens geworden, eine geteilte logistische Herausforderung, die die körperliche und emotionale Unterstützung des ganzen Teams forderte. Borchers hatte eine Atmosphäre der gegenseitigen Unterstützung und Fürsorge geschaffen, weshalb Pallas ihn verdienterweise als „meinen Bergvater“85 bezeichnete. Mein Vater war in Hochstimmung über seine Resultate und seine Rückkehr in die „Zivilisation“, aber er schien um mindestens dreißig Jahre gealtert. Er sah faltig und abgemagert aus, sein glattes, jugendliches Gesicht hatte unter dem rauen Wetter und der Austrocknung in der Höhe gelitten. Als er ein Foto von sich selbst an seine Familie schickte, schrieb ihm seine Schwester zurück: „Mutter guckte das Photo an und sagte: Ist das mei Bua? Nein, er ist es nicht. Oder doch? Nein, nein, der ist es nicht.“86 Sie konnte ihren eigenen Sohn nicht wiedererkennen. Nach dem Leben in gefälligeren Höhen war das altersgemäße und vertraute Aussehen meines Vaters bald wieder hergestellt.
Die wesentlichen Ziele der Expedition waren erfüllt und ihre Teilnehmer trennten sich. Einige blieben, um weitere geologische Forschungen durchzuführen, andere, um weiter bergzusteigen87, und Hoerlin, um weitere Messungen vorzunehmen. Neben den Messungen auf Meereshöhe während der fünfwöchigen Anreise von Deutschland nach Peru konnte er weitere Ergebnisse während der einwöchigen Bootsfahrt von Peru nach Chile und der neunwöchigen Rückreise durch die Magellanstraße gewinnen.
Hoerlins südlichste Messungen, durchgeführt auf 42° südlicher Breite, waren fast genauso weit vom Äquator entfernt wie Hamburg, wo die nördlichsten Messwerte genommen wurden (53° N). Indem er Messwerte von beiden Orten verglich, konnte Hoerlin den Äquator-Effekt auf die kosmische Strahlung nachweisen und die Genauigkeit seiner Instrumente überprüfen. Seine Messergebnisse zeigten, grafisch aufgezeichnet, für Stärke und Richtung der kosmischen Strahlen ein fast symmetrisches Verhältnis zwischen beiden Erdhalbkugeln.
Ein amüsanter Aspekt des internationalen Wettbewerbs bei der Erforschung der Abhängigkeit der kosmischen Strahlung von der geografischen Breite wurde Anfang Dezember 1932 deutlich, als Hoerlin in Lima auf einen Frachter nach Europa wartete. Dort traf er die Assistenten von Millikan und Compton, den beiden Konkurrenten. Obwohl der Zeitpunkt des Treffens ein verblüffender Zufall war, war es doch nicht völlig zufällig, dass die ähnlichen Forschungsunternehmen auf der südlichen Hemisphäre in Kontakt kamen. Millikans Assistent war in den Bergen Südperus unterwegs gewesen, während Comptons Assistent Messwerte vom Dach eines Hotels in Lima aus genommen hatte. Die drei tauschten ihre Erfahrungen in einer spontanen Konferenz über kosmische Strahlung aus. Keiner der anderen Forscher hatte eine ähnlich reichhaltige und detaillierte Datensammlung über kosmische Strahlung in den Anden wie Hoerlin, aber beide nahmen an größeren Projekten teil, die über die ganze Welt ausgedehnt waren. Für meinen Vater war es der erste Kontakt mit der amerikanischen Wissenschaftsszene, die sich kühn in einem Forschungsgebiet zu etablieren begann, das bis dahin von Europäern dominiert worden war. Ein neues Zeitalter bahnbrechender Wissenschaft dämmerte, und die Sonne ging in den Vereinigten Staaten auf. Fünf Jahre später sollte Hoerlin selbst ein Teil dieser amerikanischen Szene sein.
Hoerlin vor seinen Forschungen zur kosmischen Strahlung am Nevado Huascarán.
Hoerlin, ausgedörrt, wettergegerbt und glücklich nach seiner einsamen Arbeitsschicht auf 4700 bis 6100 m am Nevado Huascarán.
Auf der Versammlung der American Association for the Advancement of Science zu Weihnachten 1932 nahmen Millikan und Compton an einem Symposium über kosmische Strahlung teil. Mein Vater befand sich zu diesem Zeitpunkt noch auf dem Frachtschiff nach Deutschland. Die beiden Wissenschaftler gingen kaum zivilisiert miteinander um und weigerten sich am Ende der Sitzung sogar, sich die Hand zu geben. Die Presse stürzte sich auf ihre beißende Debatte, welche schnell mit dem Bild von Wissenschaftlern als „[…] nüchtern, sachlich, vorsichtig, genau – und damit wert, gehört zu werden“ aufräumte. „Hier nun waren zwei Nobelpreisträger, die alle Leidenschaft und Fehlbarkeit gewöhnlicher Menschen zeigten.“88
Im Februar 1933 setzten sich schließlich Comptons Erkenntnisse durch: Die Abhängigkeit kosmischer Strahlung von der geografischen Breite war unbestreitbar und kosmische Strahlen somit definitiv Protonen. Mit den Worten eines angesehenen Wissenschaftshistorikers: „[Millikan] sprach fortan nicht mehr von Geburtsschreien der Atome und überließ es dem Klerus zu entscheiden, ob der Schöpfer noch immer am Werk sei.“
Erst im März beendete mein Vater seine Reise und kehrte nach Deutschland zurück. Seine Forschungsergebnisse, die mit jenen Comptons übereinstimmten, wurden erst im Juli 1933 in der renommierten Zeitschrift Nature veröffentlicht. Compton hatte seine Ergebnisse bereits in der Märzausgabe der Physical Review publiziert. Angesichts des großen Bekanntheitsgrads von Compton sowie der Größe und Ausdehnung seiner Forschungen – etwa sechzig Mitarbeiter und acht Expeditionen rund um die Welt – ist es nicht überraschend, dass ihm hauptsächlich die Feststellung des geomagnetischen Effekts auf kosmische Strahlung zugeschrieben wird. Aber wie in vielen anderen Bereichen der Wissenschaft war auch diese Entdeckung mehreren Forschern geschuldet. Einer davon war mein Vater.