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KAPITEL 1: DIE 54 STUFEN

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Es sind 54 Stufen, die zur St. Michaelskirche in Schwäbisch Hall hinaufführen. Seit 1507 sind die Kinder dieser klassischen mittelalterlichen Stadt die Stufen hinauf- und hinuntergerannt – trotz der obligatorischen elterlichen Warnungen: „Vorsicht!“ Der Wettlauf, wer als Erster oben ankommt, hat alle Zeiten überdauert. Es dürfte nicht vor 1908 gewesen sein, dass mein damals fünf Jahre alter Vater genügend kräftige Beine hatte, um richtig an diesem Ritual teilzunehmen. Aber ich habe keine Zweifel, dass er von dieser Zeit an seine Altersgenossen mit Können und Schnelligkeit auf dem Auf- wie auch dem Abstieg führte. Man könnte es als den ersten seiner vielen Gipfelerfolge bezeichnen.

Die Stufen laden geradezu dazu ein, gezählt und bestiegen zu werden. Sie locken jeden, der sie zum ersten Mal besucht – so auch mich, als ich 13 war. Mein Vater hatte mich nach Deutschland mitgenommen, damit ich zum ersten Mal meine Großmutter traf. Mit 78 Jahren führte sie mich langsam die einladende Treppe hinauf und erreichte die letzte Stufe mit feuchten Augen, aber einem triumphierenden Lächeln.

Fast 20 Jahre später, nachdem ich die Mutter zweier Kinder eines Witwers geworden war, beobachtete ich die beiden Sieben- und Zehnjährigen dabei, wie sie aufgeregt die Stufen hinauf- und hinabhüpften. Um einen leidenschaftlichen Geschwisterstreit zu schlichten, gingen sie anschließend langsam, Hand in Hand, die Stufen hinauf und zählten laut jede einzelne. Eines der beiden Kinder – ich weiß nicht mehr, welches – hatte Recht: Es waren 54. Als ich sie begleitete, wussten sie nicht (und ich ahnte es nur), dass ein kleiner Bruder, mein erstes Kind, auf seine eigene Weise an dem Wettbewerb teilnahm: Er bestieg alle Stufen sicher behütet in Mutters Bauch. Mehr als 30 Jahre später war dieses Stück „Gipfelpolitik“ für alle meine vier Kinder4 vollendet, als der Jüngste mit seiner Verlobten die Stufen hinaufstieg.

Am gleichen Abend sprachen sie mit einem älteren Bewohner von Schwäbisch Hall und fragten ihn, ob er zufällig vom Großvater meines Sohnes gehört hätte. Der Mann antwortete: „Ja, Hermann Hoerlin, ja.“ Er hielt inne … und sagte dann: „Er war ein Sportsmann.“ Der Ruf meines Vaters als ehemaliger Rekordhalter mit Erstbesteigungen auf drei Kontinenten, Europa, Asien und Südamerika, lebte noch immer fort.

Die strahlenden Erzählungen meines Sohns von der Schönheit der Stadt inspirierten mich und meinen Mann, Schwäbisch Hall 2005 zu unserem Reiseziel zu machen. Schwäbisch Hall liegt an den Ufern eines sich sanft dahinschlängelnden Flusses, der von zahlreichen mit Holzschindeln verkleideten Brücken überquert wird. Betritt man die Stadt, fühlt man sich wie auf einem Spaziergang durch die Zeit. Die Architekturstile wechseln harmonisch, es gibt enge Gassen mit Kopfsteinpflaster, mächtige Stadtmauern und eindrucksvolle Wachtürme. Doch der Höhepunkt sind die berühmten Stufen. Als wir sie ehrfurchtsvoll hinaufstiegen, erhaschten wir einen Blick auf die Hügel der Schwäbischen Alb, eine perfekte Wanderregion und für Geneigte ein herausforderndes Felskletterziel mit bis zu 150 Meter hohen Wänden. Mein Vater war einer dieser Geneigten gewesen, und wie andere aufstrebende Bergsteiger nutzte er die Schwäbische Alb als Trainingsplatz für anspruchsvollere Touren.


Die große, 60 Meter breite Treppe, die vom Marktplatz von Schwäbisch Hall zur römisch-gotischen Kirche leitet. Aufnahme aus dem Jahr 1937

Nicht weit von der Kirche liegt das barocke Rathaus der Stadt, in dem die Geburt meines Vaters am 5. Juli 1903 registriert ist. Als ich das vergilbte Dokument mit der Unterschrift seiner Eltern in den Händen hielt, bemerkte ich, dass Adolf und Maria über einen Monat gebraucht hatten, den Namen ihres Sohnes eintragen zu lassen: Hermann Julius Wilhelm Hoerlin. Diese Verzögerung und seine vielen Vornamen deuteten vielleicht schon an, wie viele verschiedene Namen mein Vater in den Folgejahren bekommen sollte. Obwohl er unter seinen Freunden und später unter seinen Kollegen als „Hermann“ bekannt war (das zweite „n“ strich er später als Zugeständnis an seine neue Heimat Amerika), nannten ihn seine Bergpartner „Pallas“. Seine tapferen, wagemutigen Besteigungen weckten Vergleiche mit dem Titan aus der griechischen Mythologie – dem Gott von Sieg, Kampf, Stärke und Kraft. Und der Name Pallas leitete sich von „pallo“ ab, „(mit einem Speer) drohen“. Wenn man den Speer durch einen Eispickel ersetzte, war das Bild in den Augen der Freunde passend. Meine Mutter, die kein Mitglied der Bergsteigergilde war und deshalb den Namen „Pallas“ nicht benutzen durfte, mochte niemals den Namen Hermann (oder Herman). Sie kreierte ihren eigenen Namen für ihn, indem sie ihn einfach Hoerlin nannte. Für mich war er jahrelang „Vater“, doch das wandelte sich irgendwann zu „Papa“.


Eine mittelalterliche Straße in Schwäbisch Hall mit einem der vielen Türme

Der kleine „Hermännle“, wie ihn seine Mutter nannte – oder „Maxile“, wie ihn seine Schwester Liesel unerklärlicherweise getauft hatte – wuchs in einem behüteten bürgerlichen Umfeld auf. Die Familie wohnte über dem Laden, der seit Generationen den Hoerlins gehörte: „Wilhelm Hoerlin Glas, Porzellan, Haus- und Küchengeräte“, der sich auf Hochzeitsgeschenke spezialisiert hatte. Sein Vater Adolf war ein erfolgreicher Geschäftsmann, dessen markante Gesichtszüge durch ein ständiges freundliches Augenzwinkern gemildert wurden. Seine fromme Mutter hatte einen eher reservierten und ernsten Ausdruck; täglich las sie die Bibel und betete.


Hermann Julius Wilhelm Hoerlin im Alter von drei Jahren


Maria und Adolf Hoerlin 1899

Seine fünf Jahre jüngere Schwester war eine schmächtige, liebenswürdige Person, blass und sanft. Alle gemeinsam waren sie eine angesehene Familie, anständige Bürger, die am Stadtleben teilnahmen und Anhänger der Luthers waren. Mutter und Tochter waren deutlich gläubiger als Vater und Sohn, die keine regelmäßigen Kirchgänger waren. Das Leben war im Allgemeinen wohlgeordnet, obwohl mein Vater bereits in jungen Jahren einen schelmischen Zug hatte. Während des Ersten Weltkriegs läuteten er und seine Freunde heimlich die Kirchenglocken – damals die öffentliche Mitteilung eines Siegs deutscher Truppen. Früh wurden sie deshalb der Schule verwiesen. Mit Fortdauer des Kriegs läuteten die Glocken immer seltener, aus dem einen wie auch aus dem anderen Grund.

Die Einwohner der Stadt hielten es für garantiert, dass Hermann in die Fußstapfen seines Vaters treten würde. Doch Adolf Hoerlin hatte andere Vorstellungen. Ihre Vorfahren waren hauptsächlich Bauern und Handwerker gewesen. So wollte er für seinen einzigen Sohn eine Universitätsausbildung und die Gelegenheit, die Welt zu bereisen. Er bedauerte, dass er selbst niemals gereist war und andere Kulturen kennengelernt hatte. Adolf hatte ein eher vorhersehbares Leben geführt: Er leitete den Familienbetrieb, heiratete ein Mädchen aus einem Nachbarort5, war ein guter Vater und ein aufrechter Bürger. Es war ein verdienstvolles Leben, aber kein aufregendes. Für seinen Sohn wollte er mehr. Er teilte diesen Wunsch offen mit, so dass der Weg für Hermann bereitet war, hinauszugehen und relativ unbekannte Gegenden zu erforschen. Wie mein Vater schrieb: „Wer hat aber nicht den Wunsch, unbetretene Pfade zu gehen?“6 Weder mein Vater und erst recht nicht sein eigener Vater konnten vorhersehen, wie weit weg diese Pfade führen würden.

Seine Reise von zuhause begann 1922, als er sich im nahen Technischen Institut von Stuttgart einschrieb, wo er sich mehr durch seinen Enthusiasmus für Klettern und Skifahren als durch seine akademischen Leistungen hervortat. Er trat zahlreichen Sportvereinen bei7 – und angesichts der Anzahl seiner Klettereien, die in ihren Jahresberichten aufgelistet wurden, ist schwer vorstellbar, wann er überhaupt Zeit zum Studieren hatte, geschweige denn für das Hauptfach Physik. Die Stimmung in den Vereinen ermutigte zu extremen sportlichen Abenteuern, Partys und Trinkgelagen. Kameradschaften wurden in Schnee und Fels geschlossen, während Winter- und Sommertouren und/oder auf Skitouren in den Alpen. Obwohl Frauen bisweilen an den Exkursionen teilnahmen und sogar offiziell Mitglieder in den Vereinen waren, nahm Hoerlin die generelle Atmosphäre als „… frauenfeindlich“8 wahr. Im Vordergrund standen männliche Kühnheit und Leistung. Da sie als Bastionen der jungen deutschen Männer angesehen wurden, wurden die Vereine später, nach Machtübernahme der Nationalsozialisten, fruchtbarer Boden für die Förderung arischer Ideale – sehr zum Missfallen meines Vaters. Mit politischer Rhetorik spornte man die aufstrebenden Idole dazu an, auf Berggipfeln Ruhm und Ehre für das Vaterland zu erringen. Das Ziel wurde, aus Liebe zur Heimat bergzusteigen – was später tragische Folgen nach sich ziehen sollte.

In den 1920er-Jahren jedoch war die Bergsteigerkommune noch relativ unschuldig, klein, unaufdringlich und freundlich. Das Bergsteigen war noch relativ neu und erst dabei, ein „Sport“ und damit populär wie auch international zu werden. Junge Alpinisten aus ganz Europa und Großbritannien suchten immer größere Schwierigkeiten, indem sie neue Routen oder unbestiegene Gipfel erschlossen. Mein Vater war einer von ihnen. Ihn erregte der Lohn des Gipfelerlebnisses und er schätzte es, eins mit der Natur zu sein. Bis 1926 hatte er zahlreiche Besteigungen in den österreichischen, Schweizer und italienischen Alpen durchgeführt, insgesamt etwa 20 Gipfel. Allein 1927 stand er auf 30 weiteren.9 Es war eine vielversprechende Bilanz, welche die Aufmerksamkeit anderer Bergsteiger auf sich zog – denn sie wussten, dass es dazu großer Sportlichkeit, Ausdauer und nicht zuletzt eines guten Einschätzungsvermögens bedurfte.

Auf einer seiner Touren traf Hoerlin einen wilden Österreicher namens Erwin Schneider, der zu seinem engsten und häufigsten Kletterpartner werden sollte. Beide teilten eine natürliche Begabung für das Bergsteigen und ähnliche Ambitionen. Stets suchten sie neue Herausforderungen. Während Sommerbesteigungen in den Alpen allmählich alltäglich wurden, waren Winterbesteigungen – welche skifahrerisches Können mit Kletterkönnen in Fels und Eis vereinigten – selten. Hoerlin und Schneider richteten ihr Augenmerk auf den Mont Blanc und seine umliegenden Berge, unbeeindruckt von seinem Ruf als höchster Berg der Alpen.

Einer Burg aus Schnee und Eis gleich, überragt das gewaltige Massiv majestätisch Frankreich, Italien und die Schweiz. Der erstmals 1786 bestiegene Gipfel fußt in tiefen Tälern und türmt sich aus weiten, offenen Almwiesen zu gigantischen Gletschern, Fels- und Eispfeilern und langen Graten auf, die zu seinem imponierenden Eisdom hinaufführen. Steile Felsnadeln (Aiguilles) durchbrechen die Konturen des Berges und sind meist schwieriger zu besteigen als der eigentliche Gipfel. Die beiden Kletterpartner beschlossen, dass Winterbesteigungen dieser spitzen Türme ein großes Abenteuer versprachen – und vielleicht auch mit etwas Glück eine größere Anerkennung ihrer Talente. Es war ein großer Schritt, ging über ihre anderen Besteigungen hinaus und bot eine willkommene Chance, ihre Grenzen auszutesten. Wie sich mein Vater in einer Bergzeitschrift ausdrückte: „Bei Winterbesteigungen finden Bergsteiger eine Einsamkeit, wie wir sie im Sommer vergeblich suchen. Der steile Wechsel von Eis und Fels in der winterlichen Landschaft des Mont Blanc ist einzigartig.“ Und er beschrieb weiter den besonderen Reiz von Winterbesteigungen: „Die im Sommer gefahrlosen tieferen Regionen bedrohen Lawinen, der Fels ist verschneit und vereist, der Wind hat die Firngrate blankgeweht und die Tage sind kurz und kalt; kurzum die Schwierigkeiten größer und vielseitiger.“10


Erwin Schneider, © Historisches Alpenarchiv des DAV, München

Hoerlin und Schneider waren ein seltsames Paar. Schneider war einen Kopf kleiner als mein Vater, hatte dichtes – und für die Zeit langes – schwarzes Haar, das ihm regelmäßig in sein faltiges Gesicht fiel. Der zottelhaarige Tiroler war ein überschwänglicher, ausgelassener Charakter, der ständig Witze riss. Mein Vater teilte mit ihm eine gewisse Aufmüpfigkeit, aber sie war bei ihm deutlich subtiler und kontrollierter. Pallas war ruhig und nachdenklich, stets adrett und von einer natürlichen Eleganz. In Eis, Schnee und Fels verschwand ihre Ungleichheit jedoch und sie bildeten eine schlagkräftige Seilschaft.

Um ihre Klettereien zu planen, studierten die beiden immer wieder eine großformatige (60 x 100 cm) Landkarte, die damals ein Klassiker war: die Carte Albert Barby „La Chaine du Mont Blanc“. Die Karte lässt sich leicht auf Taschenformat zusammenfalten, ihr Papier ist auch heute noch immer fest und das Kartenbild von beeindruckendem Detailreichtum.11 Wenn ich ihre glatte Oberfläche berühre, fühlt es sich an, als berühre ich die Haut meines Vaters. Bergsteigen war ihm tatsächlich in Fleisch und Blut übergegangen und spielte eine Schlüsselrolle bei der Formung seiner Persönlichkeit. Dies erkannte er selbst: „Diese Fahrten, bei denen man ganz auf sich selbst angewiesen ist, prägen sich am tiefsten unserem Gedächtnis ein.“12 Qualitäten wie Bescheidenheit, Ruhe, Integrität und Achtsamkeit waren allesamt ein zentraler Bestandteil seiner Persönlichkeit, am Berg wie auch im Tal.

Courage. Im Schatten des Nanga Parbat 1934

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