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EINFÜHRUNG: BRIEFE AUS DER VERGANGENHEIT

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Die einzige greifbare Geschichte, die zurückgewonnen werden kann, ist die aus persönlichen Erlebnissen. Saul Friedlander: Nazi Germany and the Jews

(NAZIDEUTSCHLAND UND DIE JUDEN)

Der kleine Lederkoffer mit den Initialen meines Vaters, H. W. H., hatte schon etliche Jahre im Keller gestanden. Er war ein Teil des dort verborgenen Mischmaschs von Sachen, die teils vergessen, teils ignoriert waren, von denen man sich aber noch nicht trennen wollte. Die Ansammlung war nach dem Tod meiner Eltern gewachsen, als ich allerhand Dinge erbte – darunter auch den Koffer. Ob es an meiner mangelnden Neugierde lag oder – was wahrscheinlicher ist – an der Schnelligkeit und den Anforderungen des Alltags, jedenfalls blieb er ungeöffnet. Aber eines Tages, vielleicht an einem Regentag, lockte er mich. Im Koffer waren über 400 Briefe, die meine Mutter im Vorkriegsdeutschland zwischen 1934 und 1938 an meinen Vater geschrieben hatte. Sie waren sorgfältig gebündelt und mit verblasstem blauem Band zu Päckchen von jeweils einem halben Jahr zusammengebunden. Er hatte sie alle aufgehoben, und ich fragte mich, ob er sich überhaupt an sie erinnert hatte. Niemand in der Familie wusste von den Briefen. Mein Vater war vor meiner Mutter gestorben, aber sie selbst hatte solche Briefe niemals erwähnt. Ich denke, auch sie hatte sie längst vergessen.

Es dauerte zwei weitere Jahre, bevor ich die Briefe las. Dies lag zum Teil daran, dass sie in Sütterlin geschrieben waren, einer preußischen Schriftart, die in Deutschland bis in die 1940er-Jahre verwendet wurde. In der Vorkriegszeit war es die Standardschrift, die an den Schulen gelehrt wurde. Anfangs verzweifelte ich an der kunstvollen Zierschrift, aber mit der Zeit meisterte ich sie – und frischte gleichzeitig mein Deutsch auf. Inzwischen hatte ich mehr als nur ein beiläufiges Interesse an den unbekannten Seiten meiner Herkunft und beschloss, noch tiefer in die Kisten in unserem Keller vorzudringen. Und ich fand einen weiteren Schatz: über 100 Briefe, die mein Vater in dieser Zeit, 1934 bis 1938, an meine Mutter geschrieben hatte. Zusammen mit den 400 Briefen meiner Mutter konnte ich daraus eine bewegende Liebesgeschichte rekonstruieren, die sich in Nazideutschland während einer der schrecklichsten Epochen der Weltgeschichte entwickelt hatte.

Als ich begann, die Briefe zu lesen, war ich von ihnen gebannt. Briefe waren damals ein bedeutendes Kommunikationsmittel und lieferten einzigartige Einblicke in die Zeit und die Zeugen dieser Zeit. Vor allem öffneten sie mir einen neuen Blick auf meine Mutter und meinen Vater, die kaum über ihre jeweilige Vergangenheit gesprochen hatten. Vor mir lag eine unredigierte Fassung einer Romanze zwischen zwei Menschen, die ich immer mit den Augen eines Kindes betrachtet hatte: Ich wusste, dass meine Eltern bemerkenswerte Menschen waren (aber nicht, wie bemerkenswert); ich wusste, dass sie in ihrem Leben viele Hürden überwunden hatten (aber nicht, wie viele); und ich wusste, dass sie sich geliebt hatten (aber nicht, wie sehr). In Bezug auf die eigenen Eltern gibt es immer das „Andere“ – jene Dinge, die dich von ihnen unterscheiden, eine Kluft zwischen den Generationen und den Blickwinkeln. Die Briefe warfen mich direkt hinein in ihre Beziehung – ihre Leidenschaft und Aufregung – und bald auch ihre Missachtung der Diktate des Nationalsozialismus.

Die Stimmen meines Vaters und meiner Mutter zu „hören“, ihre gegenseitige Liebe zu fühlen und ihren Mut in einer Zeit gewaltiger Umwälzungen zu spüren, war der Hauptantrieb zu diesem Buch. Neben der Schatztruhe von Briefen fand ich bei ausgedehnten Recherchen bislang unveröffentlichtes Archivmaterial, welches es mir erlaubte, ihre persönliche Geschichte in einen geschichtlichen Zusammenhang zu stellen. Die persönliche Geschichte meiner Eltern spielte sich in einem der bedeutendsten Abschnitte des 20. Jahrhunderts ab: dem Aufstieg des Dritten Reichs, den Erfahrungen der Auswanderer nach Amerika und der anhaltenden Bedrohung des Atomzeitalters.

Meine Eltern hatten sich durch einen Berg kennengelernt – einen der höchsten Berge der Welt. Keiner von ihnen war jedoch an seinen eisigen Flanken, als dort zehn Bergsteiger starben. Die deutsche Himalaya-Expedition von 1934 hatte etwas versucht, was bis dahin noch niemandem gelungen war: die Besteigung eines Achttausenders. Siegessicher nutzte Hitler die Expedition als Gelegenheit, die Überlegenheit der arischen Rasse und die internationale Vormachtstellung Deutschlands zu proklamieren. Stattdessen setzte die Expedition einen anderen Markstein: die bis dahin größte Bergsteigertragödie. Mein Vater hatte es abgelehnt, sich dieser Gruppe von Elitebergsteigern anzuschließen. Er war in Deutschland geblieben, um seine Doktorarbeit fertigzustellen. Hätte er zugestimmt, wäre er möglicherweise unter den Opfern gewesen und hätte meine Mutter niemals getroffen, welche die Pressearbeit für die Expedition übernommen hatte. Damit sie die grausamen Details aufarbeiten konnte, stellte ihr der Deutsche Alpenverein einen erfahrenen Bergsteiger zur Seite – meinen Vater, Hermann Hoerlin.

Hermann Wilhelm Hoerlin hatte während des heroischen Zeitalters des Alpinismus in den 1920er- und 1930er-Jahren mehrere Weltrekorde gehalten – einer Ära, in der wissenschaftliche Unternehmungen und Forschungsreisen mit dramatischen Bergbesteigungen verbunden wurden und in der die großen Nordwände der Alpen erstmals durchstiegen wurden.1 Eines Morgens, nachdem ich mich mehrere Tage in die Geschichte der Internationalen Himalaya-Expedition von 1930 vertieft hatte, murrte ich beim Frühstück zu meinem geduldigen Ehemann: „Heute muss ich meinen Vater auf den Gipfel bringen.“ „Vergiss nicht, ihn wieder runterzubringen“, meinte er mit einem Lachen.

An diesem Tag bewältigte mein Vater den Auf- und Abstieg von einem Gipfel im Himalaya, der damals der höchste Berg war, den Menschen bestiegen hatten. Das Ereignis hatte 80 Jahre vor unserem Frühstücksgespräch stattgefunden. Als er diesen Höhenrekord aufstellte, wurde mein Vater zum Aushängeschild für arische Ideale. Er war der perfekte Prototyp: blond, groß, gut aussehend. Bergsteiger wurden damals verehrt und gefeiert. In Deutschland war die Öffentlichkeit wohl ähnlich fasziniert vom Bergsteigen wie jene im heutigen Amerika von Raumfahrt und Baseball. Mein Vater war ein teutonischer Held.

Der Versuch, den Charakter meiner Mutter zu erfassen, war eine weitere Herausforderung. „Sie nimmt mich schon wieder in Beschlag“, beklagte ich mich gegenüber einem guten Freund. Meine Mutter, Käthe Tietz, hatte den Hang, einen ganzen Raum zu dominieren; ich war nicht gerade erfreut darüber, dass sie nun auch drohte, das Buch zu dominieren. Als eine charismatische Schönheit übte sie eine geradezu unheimliche Anziehungskraft auf die Menschen aus. Mit ihrer koketten und lebendigen Art wickelte sie sie leicht um den Finger. Zu ihren Freunden zählte die kulturelle und wirtschaftliche Elite Deutschlands, die Vertreter einer Epoche enormer intellektueller und kreativer Energie – trotz wirtschaftlicher Probleme. Diese endete auf traurige und schreckliche Weise mit dem Aufstieg Hitlers. Das Leben meiner Mutter änderte sich unwiderruflich, als ihr erster Mann, Willi Schmid, am 30. Juni 1934 in der berüchtigten „Nacht der langen Messer“2 von den Nationalsozialisten ermordet wurde. Mindestens 90 Menschen, angebliche Staatsfeinde, wurden vor Exekutionskommandos gestellt und standrechtlich erschossen. Die Rechtsstaatlichkeit Deutschlands war vorüber, ersetzt durch ein Terrorregime. Dass die Nationalsozialisten zugaben, Schmids Tod sei ein „Fehler“ gewesen,3 war für Käthe und ihre drei Kinder kaum ein Trost.

Meine Eltern waren ein ungleiches Liebespaar. Sie lebten in verschiedenen Welten. Mein Vater in einer der Wissenschaft und des Bergsteigens, meine Mutter in einer der Musik und Literatur. Hoerlin und Käthe lebten beide in einem Land, an dem sie sehr hingen, das aber zusehends unter dem Absatz des Faschismus zerbrach. So bekämpften beide den Nationalsozialismus auf ihre Art. Er stellte sich gegen die Nazifizierung von Wissenschaft und Bergsteigen und redete beständig gegen die politische Einmischung an. Sie traf sich unzählige Male mit den Mitgliedern von Hitlers Kabinett und anderen hochrangigen Nationalsozialisten in Berlin, um von genau jenen Funktionären Vergeltung für den ungesetzlichen Tod ihres Mannes zu fordern, die für seine Ermordung verantwortlich waren und später den Holocaust vorbereiten sollten.

Während sie ihre jeweiligen Kämpfe führten, verband Käthe und Hoerlin ihre Entschlossenheit, zu heiraten und ihre Heimat zu verlassen. Ihnen stellten sich gewaltige Hindernisse entgegen, darunter vor allem ein Geheimnis, welches sie zeitlebens für sich behielten. 1938 schafften sie es schließlich, nach Amerika zu fliehen. Es war ein vergleichbar sicherer Hafen, der aber mit seinen eigenen Herausforderungen aufwartete. Emigranten, selbst ein begabter Physiker wie mein Vater, waren nicht notwendigerweise willkommen in einem Land, das mit seiner eigenen wirtschaftlichen Sicherheit und schließlich auch mit dem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg zu kämpfen hatte. Der Status meiner Eltern als „Bindestrich-Amerikaner“ – in ihrem Fall Deutsch-Amerikaner – war während des Kriegs Quelle von schmerzlichen Verdächtigungen und Vorurteilen. Man sah meinen Vater als „feindlichen Ausländer“ an und beschlagnahmte sein Vermögen, auch seine Arbeitsstelle war gefährdet. Nur durch eine Verbindung zur Präsidentengattin Eleanor Roosevelt kehrte das Leben für meine Eltern zur Normalität zurück.

Als der Frieden ausgerufen wurde, mussten sie sich den Tragödien in ihrer früheren Heimat stellen und gleichzeitig ein neues Leben aufbauen. Wie in Deutschland kultivierten sie eine faszinierende Gruppe von Freunden: Schriftsteller, Künstler, Musiker und Wissenschaftler. 1953 brachen sie ihre Zelte in der Provinz New York ab und zogen an einen frostig-futuristischen Ort: „Atomic City“ Los Alamos in New Mexico, den Geburtsort der Atombombe. Nun war der Ort tief verwickelt in das Wettrüsten des Kalten Kriegs. In dieser angespannten Zeit, unter ständiger Bedrohung durch einen Atomkrieg, konzentrierte sich die Arbeit meines Vaters auf Techniken zur Erkennung von Atomtests in der oberen Atmosphäre. Es war ein Wegbereiter für das erste internationale Abkommen zur Waffenkontrolle. Seine Aussage zu dem Thema vor dem Kongress im Jahr 1962 war dabei überzeugend und ein Wendepunkt.

Der Bogen der Liebesgeschichte meiner Eltern reicht von einer Zeit, in der ein Diktator alle Juden auslöschen wollte, bis zu einer Zeit, in der Massenvernichtungswaffen die gesamte Menschheit auszulöschen drohten. Mit dem Erzählen dieser Geschichte habe ich die Entscheidungen beschrieben, die in einem Umfeld gefällt wurden, das zu oft zwischen Angst und Chaos wechselte. Und ich habe die Personen beschrieben, die diese Entscheidungen fällten. Wie weit dieses Umfeld die Menschen prägte, ist schwer vorstellbar. Einmal sagte ich jemandem im Vertrauen, ich fände eine bestimmte Person langweilig, weil sie „keine Ecken und Kanten“ hätte. Die Personen in diesem Buch haben Ecken und Kanten, und Ecken hinter den Ecken. Manche davon sind attraktiv, andere weniger. Eine „Ecke“ meiner Eltern war ein Geheimnis, das sie jahrelang hüteten und das ich als Teenager entdeckte. Eine andere „Ecke“ war ihr anhaltender Mut. An seinem 80. Geburtstag erzählte mein Vater im Kreis seiner Kinder und Enkel, eine der entscheidenden Qualitäten im Leben sei Mut. Er und meine Mutter hatten ihn in Hülle und Fülle. Als ihre Tochter bin ich ihnen ewig dankbar dafür.

Courage. Im Schatten des Nanga Parbat 1934

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