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KAPITEL 2: DER THRON DER GÖTTER

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Die Reise von Venedig nach Bombay dauerte 16 Tage. Langsam tuckerte der Dampfer durch den Suezkanal, die legendäre 160 Kilometer lange Schifffahrtsverbindung zwischen Europa und Asien. Auf beiden Seiten des engen Einschnitts lag Wüste, und meinem Vater kam es vor, als könnte er die drückende Hitze geradezu greifen. Er und die anderen Expeditionsmitglieder mussten sich dazu zwingen, ihre Fitnessübungen zu machen. Anschließend gönnten sie sich eine Atempause in einem behelfsmäßigen Swimmingpool auf dem Oberdeck. Die Abende waren kühler und die Bergsteiger kleideten sich in Anzug und Krawatte für die förmlichen Abendessen. Manchmal wurde anschließend getanzt, wodurch sich die Gelegenheit ergab, sich unter die anderen Passagiere zu mischen. Eine einzige Frau nahm an der Expedition teil, Hettie Dyhrenfurth, die Frau des Expeditionsleiters. Sie und die Handvoll anderer Frauen an Bord tanzten bis in die Nacht. Ihre Teilnahme an der Expedition zeigte bereits den unabhängigen Charakter Hetties und ihre Gleichgültigkeit gegenüber Konventionen. Aber dass sie mit Indern genauso leicht tanzte wie mit Europäern, sorgte bei mindestens einem der Bergsteiger für Konsternation. Frank Smythe, dessen britische Expeditionskollegen bereits ihr Missfallen gegenüber der Anwesenheit einer Frau in der Gruppe zum Ausdruck gebracht hatten, tadelte Hettie unverblümt, da er dieses Verhalten als Verstoß gegen die Benimmregeln ansah. Er sagte: „Es ist unmöglich für eine Frau, mit Farbigen zu tanzen.“ Mit einem Lächeln auf den Lippen widersprach Hettie höflich.

Als die Expeditionsmitglieder schließlich in Indien an Land gingen, traten sie ein in eine für sie exotische Welt: ein ständiger Strom von Menschen, chaotisches Straßenleben und eine Vermengung von Religionen. Für den Österreicher, die beiden Schweizer, die drei Engländer und die fünf deutschen Bergsteiger war Indien ein scharfer Gegensatz zu ihren eigenen Heimatländern, in denen Ordnung und Homogenität herrschte. Zudem gerieten sie zu dieser Zeit, Mitte März 1930, in eine beginnende Revolution. Gandhi leitete einen gewaltlosen Marsch mit zahlreichen Anhängern, um gegen die britische Vorherrschaft zu protestieren.23 In ganz Britisch-Indien kam es zu Unruhen, Massendemonstrationen und heftigen Auseinandersetzungen, in deren Folge Hunderte in Gefängnissen landeten. Als Hoerlin die miserablen Lebensbedingungen der meisten Inder sah, zeigte er Mitgefühl für ihr Streben nach Unabhängigkeit. „Die Unterschiede [zwischen Arm und Reich] sind groß und ich kann verstehen, warum so viel Unzufriedenheit herrscht“, stellte er fest. „Doch die Ansicht der Deutschen, die hier in Indien leben und mit denen ich gesprochen habe, ist, dass eine indische Unabhängigkeit zu dieser Zeit ein Desaster wäre und schreckliche Kämpfe zwischen Muslimen und Hindus provozieren könnte.“ Diese Sorgen waren leider nur zu berechtigt. Als siebzehn Jahre später der Kampf für die Unabhängigkeit schließlich gewonnen wurde, brachen gewaltsame Glaubenskriege aus.

Nach einigen Tagen Sightseeing in Bombay, dem heutigen Mumbai, reisten die Expeditionsteilnehmer weiter nordwärts nach Delhi, wo sie als Gäste des Vizekönigs, des Grafen von Halifax, geladen waren. Dieser war der oberste Repräsentant der britischen Monarchie in Indien. Der Besuch der Expedition erfolgte in einer Zeit, in der Gandhi dem Vizekönig einen Brief schickte, in dem er erklärte, warum er die „britische Regierung als Fluch“ ansah. Der Vizekönig tat wohl alles, was ihm möglich war, um einen Kompromiss zwischen Indiens Verlangen nach Unabhängigkeit und Großbritanniens Wunsch nach Erhalt des Imperiums auszuhandeln, wobei er am Ende keine Seite zufriedenstellte. „Er war fast zu sehr ein Gentleman“, kommentierte mein Vater die Situation Jahre später, „und vielleicht fast naiv in seiner Vorgehensweise.“ Die nachfolgende Ernennung von Lord Halifax zum britischen Außenminister und anschließend zum Botschafter in Amerika während des Zweiten Weltkriegs stellte diese angenommene Naivität stark in Frage.

Nach diesem Schnellkurs in indischer Politik und Kultur waren die Expeditionsmitglieder erleichtert, die letzte Etappe ihrer Reise durch die kühleren und ruhigeren Vorberge des Himalayas anzutreten. Eine heiße und staubige Zugfahrt von 50 Stunden brachte sie schließlich nach Darjeeling. Von dort aus bot sich ein dramatischer Anblick des Kangchendzönga – einer der wenigen Berge dieser Höhe, die von den Annehmlichkeiten einer relativ städtischen Umgebung aus sichtbar sind. Die „Fünf Schatzkammern des Schnees“, wie Kangchendzönga übersetzt heißt, sind ein gigantisches Bergmassiv aus fünf Gipfeln, gleißenden Gletscherfeldern und kolossalen Eisterrassen. Der Berg, der nur 262 Meter niedriger ist als der Mount Everest, demütigte geradezu die Gruppe, welche dem Gedanken an einen Aufstieg in diese Höhen eine fast mystische Ehrfurcht beimaß. Bis 1930 hatte es weniger als zehn ernsthafte Versuche gegeben, einen der drei höchsten Berge der Welt zu besteigen, die sich allesamt im Himalaya und Karakorum befinden: Everest (8848 m), K2 oder Chogori (8611 m) und Kangchendzönga (8586 m).24 Eine Gipfelbesteigung war Bergsteigern bislang versagt geblieben, auch wenn sie Höhen von über 8000 m erreicht hatten. 1924 wurden die britischen Bergsteiger George Mallory und Andrew Irvine weniger als 300 Meter unterhalb des Everest-Gipfels letztmalig gesehen. Fünfundsiebzig Jahre später wurde Mallorys gefrorene und bemerkenswert gut erhaltene Leiche in 8160 m Höhe gefunden25 – allerdings ohne einen Beweis, ob ihm die Erstbesteigung des welthöchsten Berges gelungen war.


Die Internationale Himalaya-Expedition von 1930: (hinten, v. l. n. r.) Hermann Hoerlin, Erwin Schneider, Uli Wieland, Günter Oskar Dyhrenfurth, Marcel Kurz, George Wood-Johnson; (vorne, v. l. n .r.) Helmut Richter, Hettie Dyhrenfurth, Charles Duvanel, Frank Smythe

Keiner der Teilnehmer der Internationalen Himalaya-Expedition (IHE) war zuvor im Himalaya gewesen. Obwohl sie allesamt hochklassige Alpinisten waren, beschränkte sich ihre Erfahrung auf die Alpen. Smythe warnte: „Es gibt nur einen Weg, das Bergsteigen im Himalaya zu lernen – und das ist, im Himalaya bergzusteigen. Auch wenn eine Liste brillanter Besteigungen in den Alpen ein nützlicher Vorteil ist, ist sie kein Sesam-öffne-Dich für einen ähnlichen Erfolg im Himalaya, zu unterschiedlich sind die äußeren Bedingungen.“26 Was Bergsteiger in den Alpen in einigen wenigen Tagen leisten konnten, bedurfte im Himalaya wochenlanger, wenn nicht monatelanger Unterstützung und Versorgung, wodurch es die Bezeichnung „Extrembergsteigen“ verdiente. Neben der andauernden körperlichen Anstrengung in unvorstellbar großen Höhen mussten die Bergsteiger sintflutartige Monsunregenfälle und enorme Lawinen aushalten. Hoerlin teilte die Geisteshaltung seiner Kollegen: Die Aussicht auf Erfolg war es wert, übermenschliche Härten zu ertragen. Was sie antrieb, war eine mysteriöse Mischung aus roher Körperlichkeit, heldenhafter Entschlossenheit, der Nervenkitzel des Forschens und Entdeckens sowie eine Wiederentdeckung ihrer Spiritualität.

Die IHE zeichnete sich durch ihre multinationalen Mitglieder aus, obwohl man sie heute nur noch bedingt als „international“ bezeichnen würde. Dyhrenfurth versuchte auf symbolische Weise den Nationalismus beiseitezuschieben und stattdessen für Zusammenarbeit und Freundschaft zwischen den Ländern zu werben. Die Botschaft gefiel meinem Vater und anderen, die der Einladung gefolgt waren, darunter seinen guten Freunden Erwin Schneider und Uli Wieland. Mit Ausnahme von Pallas und Schneider war keiner der anderen Expeditionsmitglieder zuvor miteinander geklettert. Trotzdem zeigte das Team nach den Berichten von Smythe, Dyhrenfurth und meinem Vater einen außergewöhnlich guten Zusammenhalt, auch wenn sich Smythe später kritisch über die Expeditionsleitung äußern sollte.

Um die IHE zu finanzieren, hatte Dyhrenfurth um Unterstützung jeder Art gekämpft und eine seltsame Bandbreite von Sponsoren an Land gezogen: die London Times, den Berliner Scherl-Verlag, die Deutsche Himalaya-Stiftung, den britischen Alpine Club und insgesamt 81 deutsche, Schweizer und britisch-indische Firmen. Letztere steuerten ein Potpourri von Lebensmitteln bei, das von Alkohol bis zu Reiscrackern reichte. Umfangreiche Filmausrüstung für den Dokumentarfilm wurde ebenfalls gestellt; allein für ihren Transport wurden 40 Träger benötigt. Vier Firmen spendeten Schokolade und drei Tabak; die Imperial Tobacco Company steuerte 100.000 Zigaretten als „Belohnung“ für die Bergsteiger und vor allem für die Träger bei.27 Fast könnte man die heutige globale Tabak-Epidemie, die gerade in Entwicklungsländern eine wesentliche Todesursache ist, auf scheinbar unschuldige Gesten wie diese zurückverfolgen.28

Um dem Monsun zuvorzukommen, dem der Kangchendzönga seinen Ruf als Berg mit dem höchsten jährlichen Schneefall in Asien verdankt, durfte keine Zeit mit der Auswahl einer Legion von 400 Trägern verschwendet werden. Vielen von ihnen widerstrebte es, das für sie heilige Land um den Kangchendzönga zu betreten. Sie zögerten, weil sie fürchteten, den Sitz der Götter zu stören und die Berggötter zu verärgern. Diesen Glauben hatte die Expedition nicht in ihre Planungen einbezogen. In dieser und anderer Hinsicht war die Anwesenheit von Hettie ein definitiver Vorteil. Wenn eine westliche Frau sich dem Zorn der Götter zu stellen wagte, konnten die Träger dies auch. „Memsahb“, wie sie genannt wurde (eine Abkürzung für „Memsahib“, die respektvolle koloniale Bezeichnung für eine verheiratete Europäerin), hatte die Träger beeindruckt, als sie sich freiwillig gegen Pocken impfen ließ. Mit einer Geste, die Katharina der Großen würdig gewesen wäre,29 ertrug sie als Vorbild für die Männer den kurzen Stich der Spritze, die Schutz vor der in dieser Region häufigen und oft tödlichen Krankheit bot. Die Rekruten folgten ihrem Beispiel mit der richtigen Einschätzung, dass es im Vergleich zum Tragen von 30 bis 40 Kilo schweren Lasten in unwegsamem Gelände ein schnell vergehendes Übel war.

Das Kangchendzönga-Massiv liegt auf der Grenze dreier Regionen, was sich in der unterschiedlichen Herkunft der Träger widerspiegelte: Sikkim im Süden und Osten, Nepal im Westen und Tibet im Norden.30 Die Beschaffung der notwendigen Genehmigungen, den Berg von einer dieser Seiten angehen zu dürfen, war eine äußerst politische und umständliche Angelegenheit. Wenige Tage bevor die IHE plante, den Weg durch Sikkim einzuschlagen, erreichte sie ein überraschender Brief. Er war am 29. März 1930 vom Privatsekretär des Maharadschas von Nepal abgeschickt worden und erteilte die niemals zuvor gegebene Erlaubnis, durch das Königreich anzureisen. Der Brief fuhr fort: „Seine Majestät schätzt Ihre Anmerkungen zum internationalen Charakter der Expedition, welche die Festigung der internationalen Freundschaft und Verständigung zwischen den betreffenden Ländern sowie die Erweiterung der ästhetischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Ziel hat. Er ersucht mich hiermit, Sie darüber zu informieren, dass er Ihrem Ansuchen mit Freude einwilligt. Seine Majestät hofft, dass die Expedition in jeder Hinsicht ein voller Erfolg werde …“31 Der Brief versprach zudem, dass alle relevanten lokalen Behörden über die IHE in Kenntnis gesetzt und gebeten würden, mit der Expedition zu kooperieren. Die Expeditionsmitglieder konnten ihr Glück kaum fassen. So konnten sie Regionen erforschen, die nur ein einziges Mal, 1899, von westlichen Reisenden besucht worden waren. Schnell wurden die Pläne umgestellt und am 7. April brach die IHE auf, begleitet vom Jubel einer Gruppe Einheimischer.

Neben der Besteigung des „Kantsch“, wie der Berg unter den deutschen Bergsteigern hieß, wollten die Expeditionsteilnehmer wissenschaftliche Forschungen auf dem Gebiet der Geologie, Topografie, Meteorologie und Medizin durchführen. Ponys trugen die dafür notwendige Ausrüstung. Zusammen mit der Bergausrüstung und den Lebensmitteln kamen 180 ansehnliche Kisten mit einem Gesamtgewicht von rund sechseinhalb Tonnen zusammen. Einige Ausrüstungsgegenstände erscheinen angesichts des heutigen technischen Fortschritts geradezu lachhaft. Bergschuhe mit 60 Nägeln in der Sohle wogen sechseinhalb Pfund (2,95 kg) pro Paar, Steigeisen vier Pfund (1,8 kg). So trug ein Bergsteiger allein an den Füßen eine Last von zehneinhalb Pfund (4,77 kg)! Die dicken Expeditionspullover (mit Abzeichen) wogen 1,2 kg. Zelte bestanden aus schwerem Segeltuch, zum Abspannen dienten Holzpflöcke. Auch die Schäfte der wuchtigen Eispickel waren aus Holz. Jeder Bergsteiger genoss den Luxus eines Privatzelts und verspeiste Konserven mit Delikatessen wie Kaviar oder Gänseleberpastete – gut gemeinte Spenden von Firmen, die sich aber weniger nach den Bedürfnissen der einzelnen Bergsteiger richteten. Aber mit zunehmender Höhe sank der Appetit auf derartige Köstlichkeiten sowieso.

Damals herrschte im Allgemeinen ein Mangel an Informationen, was im Bergsteigen „Usus“ war, und das Wissen über die Bedingungen im Himalaya war minimal. Einige erste Erkundungen des Kangchendzönga-Gebiets und möglicher Aufstiegsrouten waren für die IHE von beschränktem Nutzen.32 Die einzige verfügbare Karte der Region stammte aus dem Jahr 1922 und war vom Leiter der indischen Landvermessung erstellt worden. Die IHE erwarb einige Exemplare zur Orientierungshilfe, das Stück für etwas mehr als eine Rupie.33 Eine solche Karte hängt heute an der Wand meines Arbeitszimmers. In ihrer Schönheit und den verschlungenen Details gleicht sie einem feinen indischen Druck. Kurven zeigen Geländeformen und Höhen an; dickere Linien Eisenbahnstrecken, Kamel- und Maultierpfade, und die am stärksten gezeichneten Linien markieren Bezirks-, Staats- und Landesgrenzen. Ebenfalls eingezeichnet sind Klöster, Tempel, Festungen, Hängebrücken, Teegärten, Hütten, Weideflächen und Gletscher. Aus der Karte sprechen Geschichte und Geografie.


Hohepriester spielen im Kloster Pemayangtse auf ihren langen Hörnern.

Während der nächsten drei Wochen passierte die Expedition winzige Dörfer mit einheimischer Bevölkerung. Es ist schwer vorstellbar, wer hier seltsamer wirkte: die europäischen Eindringlinge mit ihren scheinbar unerklärlichen Zielen – oder die lokalen Lamas (Hohepriester), Mönche, Hirten und Dorfbewohner mit ihren scheinbar unerklärlichen Leben. In einem Kloster wurde der Expedition ein Teufelstanz dargeboten. Dabei waren sie sich allerdings unsicher darüber, ob das wilde Getanze in grotesken Tiermasken und kunstvoll geschmückten Kostümen nun die bösen Geister des Kangchendzönga vertreiben sollte – oder die Europäer. Später spielte ein Orchester der Mönche auf dreieinhalb bis viereinhalb Meter langen Hörnern, die stark den Alphörnern der Almhirten in Europa ähnelten. Umgekehrt spielte die Expedition deutsche Kabarett-Lieder und Musik auf einem Grammophon, wobei sich das einheimische Publikum köstlich über das rätselhafte Beispiel westlicher Erfindungsgabe amüsierte.


Die Töne von Kabarett-Musik aus dem Grammophon der Expedition unterhalten nepalesische Dorfbewohner.

Als die IHE schließlich das Basislager 3000 Meter unterhalb des Gipfels erreichte, sahen die Bergsteiger die einzigartige Herausforderung des Himalayas. Mit den Worten von Smythe war „der Vergleich zwischen den Alpen und dem Kangchendzönga, wie wenn man einen Pygmäen mit einem Riesen vergleicht“. Der Koloss schien sich vorzüglich hinter unglaublich steilen Eiswänden und unablässigen Lawinen zu verschanzen, die Tag und Nacht hinabdonnerten. Einmal zählte der Arzt der Expedition zwischen 8 Uhr morgens und 10 Uhr abends 64 Lawinen, also eine alle dreizehn Minuten.34 Um der gewählten Aufstiegsroute zu folgen, mussten die Bergsteiger eine 300 Meter hohe, teils senkrechte bis überhängende Eiswand überwinden.

Es ist nie eine leichte Arbeit, Stufen im Eis zu schlagen, die groß genug für beladene Träger sind; in einer Höhe von 6400 Metern ist es besonders zermürbend. Nachdem sie sich sieben Tage lang mit der Arbeit abgewechselt hatten, hatten die Bergsteiger es beinahe geschafft. Dann geschah die Katastrophe. Ein gewaltiges Eisstück löste sich aus der Wand, stürzte hinab und löste eine Lawine aus. Diese verfehlte etliche Bergsteiger nur knapp – und es war geradezu ein Wunder, dass nur ein Todesopfer zu beklagen war: Chettan, ein angesehener Träger, der Schneiders persönlicher Sherpa35 gewesen war. Beide hatten nur wenige Meter voneinander entfernt gestanden und es schien anfangs, als wäre auch Schneider ums Leben gekommen. Er hatte aber Glück gehabt.

Nach der düsteren Begräbniszeremonie versammelte Dyhrenfurth die tief erschütterte Mannschaft, um die zukünftige Strategie zu diskutieren. Auch die Nerven der Träger waren zerrüttet. Diese fürchteten, dass die Götter an ihnen, den Abtrünnigen, Rache übten. Einige der Bergsteiger hielten einen Aufstieg zum Kantsch von ihrer gegenwärtigen Position aus für aussichtslos; insbesondere der jähzornige Smythe erhob seine Stimme. Dyhrenfurth jedoch, dessen selbstherrliche Seite zum Vorschein kam, ließ sich nicht beirren. Er, der routinemäßig die schlafenden Bergsteiger mit einem Hornsignal zum Aufbruch rief, war der Meinung, es sei Zeit für einen Angriff, nicht für einen Rückzug. Am nächsten Morgen versuchten Hoerlin, Wieland und Smythe einen anderen Grat – den Nordwestsporn. Der Zustieg führte durch ein steiles Schneecouloir, eingezwängt zwischen einem Wirrwarr von Felsund Eistürmen. Mein Vater führte das letzte Stück der Kletterei. Als er den Ausstieg aus dem Couloir erreichte, begrüßte ihn eine bedrückende Szenerie aus zerborstenen, lockeren Felsen, die ins Nirgendwo führten. Er querte ein kurzes Stück hinaus auf einen zerbröckelnden Vorsprung, drehte sich zu Smythe um und erklärte in perfektem Englisch: „This rock is shit.“ Während seines ganzen Lebens benutzte mein Vater fast nie derartige Flüche, aber diese Situation schien danach zu schreien. Die Route war unbegehbar. Als am Abend ein Schneesturm mit Wucht über das Lager der IHE hereinbrach, wurden alle weiteren Gedanken an eine Besteigung des Kangchendzönga fallen gelassen. Stattdessen bestiegen in den folgenden Tagen einige Mitglieder der Expedition zwei Siebentausender (nach damaligen Messungen)36 – die höchsten Gipfel, auf denen sie bis dahin gestanden hatten.

Um das Gebiet weiter zu erforschen, verlagerte die Expedition anschließend ihr Basislager. Sie umrundete den Kangchendzönga auf einem gefährlichen Gletscher und über den hohen Jongsong La (Pass). Erneut teilten sich Träger und Bergsteiger in kleine Gruppen auf und unternahmen staffelartige Vorstöße. Memsahb verließ als Letzte das Basislager. Anfangs führte sie 20 Träger an, die dann aber mit ihren Lasten vorangingen, während sie wegen Magenkrämpfen nur langsamer vorwärtskam. Nur in Begleitung eines 17-jährigen Trägers kämpfte sich die 38 Jahre alte „Hausfrau“ durch einen heftigen Schneesturm über den 6120 m hohen Pass.37 Vier Jahre später bestieg sie als erste Frau einen Siebentausender, den Sia Kangri (7424 m) im Karakorum. Dieser Rekord sollte 20 Jahre Bestand haben.38

Courage. Im Schatten des Nanga Parbat 1934

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