Читать книгу Mitternachtsnotar - Bettina Kerwien - Страница 10

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Als ich das nächste Mal wach werd, ist es wieder ein paar Männer und ein paar Tage später, wieder nachmittags. Mein Gesicht fühlt sich an wie ’ne Tüte Marshmallows.

Ich geh ins Bad, und dabei fällt mir ein, ich brauch ein Ziel. Ein anderes Ziel, als Wanja hängenzulassen. Etwas mit mehr Triumphpotenzial. Ich brauch zum Beispiel Haarextentions. Oder das neue Buch von Terézia Mora, Alle Tage, das habe ich geliebt. Schon den ersten Satz: Nennen wir die Zeit jetzt, nennen wir den Ort hier. Der Gedanke bringt mich in Schwung. Berlin ist ja berühmt für das Hier und Jetzt.

In einem Glückskeks vom Thai-Imbiss hab ich neulich den Spruch Morgen wird besser als heute gefunden. Nur leider ist ja immer wieder direkt heute. Es ist schwer, die Tage abzuleben. Die Abende sind unerträglich, aber noch schlimmer ist die dumpfe Zeit ohne Make-up, die Wartezeit, diese Zwischenzeit, in der man auf sich selbst und sein leeres Wohnzimmer und die Wände seiner Wohnung zurückgeworfen ist. Abends, für Geld, bin ich Weltklasse, nachmittags, für mich selbst, Kreisklasse.

Probehalber geh ich ins Wohnzimmer und seh mich um. Hier hat lange schon niemand mehr aufgeräumt. Es hat auch lange niemand den Anrufbeantworter abgehört. Ich stell mir ganz offiziell die Frage: Wollen Sie, Fräulein Liberty Vale, dieses Leben lieben und ehren, bis dass der Tod euch scheidet? Oh, nö, lieber nich, Euer Ehren.

Ich muss daran denken, wie Sanders mich zum Essen ausgeführt hat. Keine sechs Wochen ist das her. Hinterher fuhr er mich nach Hause, ich schaute seinem Auto nach, das sich von mir wegbewegte, über den regennassen Asphalt der Turmstraße. Sanders ist ein Mann in Schwarz-Weiß in einer Stadt aus purem Technicolor. Und was mehr ist, er trägt sein eigenes Schwarz mit sich. Wie jedes echte, tiefe, melancholische Schwarz lässt auch seines die Farben um ihn herum heller und klarer erscheinen. Kein Wunder, dass ich ihn nicht gehen lassen will. Ich hab’s trotzdem gemacht. Man kann schließlich nicht den ganzen Tag nur an sich selbst denken.

Stopp. Ich mach es mir vielleicht ein bisschen einfach. Also schön. Auf dem Anrufbeantworter sind ein paar Nachrichten von meiner Mutter. Ob ich Wanja nicht doch bei Englisch helfen könnte? Auf dem Wohnzimmertisch liegen drei Stapel ungeöffnete Post. Was mach ich bloß mit dem angebrochenen Tag? Ich könnt mir zum Beispiel ’ne Rose in den Hintern schieben und so tun, als wär ich ’ne Blumenvase. Oder ich könnt die Post aufmachen. Wenn ich nicht zu viel mit Wegrennen zu tun hätt.

Mein Magen rumort. Also wank ich zurück ins Bad, halt den Kopf unter den Wasserhahn. Duschen würde mir jetzt zu weit gehen. Das mach ich heute Abend. Außer zum Arbeiten muss ich eigentlich gar nicht auf die Straße, denn Süpermarket-Ümit stellt mir immer seine abgelaufenen Lebensmittel vor die Tür. Nett. Was Ümit nicht liefert, ist Eierlikör – damit hat er’s nicht so. Also lauf ich zumindest keine Gefahr, mir mein Selbstmitleid noch mal schönzusaufen.

Zurück im Wohnzimmer, tret ich auf den Saum meiner Schlafanzughose, rutsch aus, die Stapel mit der Post verteilen sich auf dem Teppich. Ein Brief sticht heraus. Amtlicher Recyclingpapierumschlag, freigestempelt: Berliner Justiz.

Mein Anrufbeantworter springt schon wieder an. »Deine Schwester fragt, ob du morgen Nachmittag Zeit hast. Sie versteht einfach dieses Gedicht nicht. Das ist doch sicher kein Problem, oder? Kommst du zu uns? Ich habe gebacken! Tschüssi! Küssi!«

Meine Mutter. So knallhart fröhlich wie die Nachtigallen im Hof. Sie will etwas ganz Normales. Ich bin allergisch gegen Normales. Mit Literatur kenn ich mich allerdings aus. Ah, distinctly I remember it was in the bleak December … Aber hey, über kurz oder lang werden wir eh alle tot sein. Auch wenn das jetzt vielleicht doch ein bisschen langfristig gedacht ist.

Also gut. Bin schon brav, Mama. Und ich bin mutig. Ich reiße den Justiz-Umschlag auf. Der Absender ist das Landeskriminalamt, und sie wollen mich zur Vernehmung laden, als Zeugin wegen des Verdachts des gefährlichen Eingriffs in den Luftverkehr. Zeugin? Ich fühle mich aber als Opfer. Basta. Wann soll ich dahin? Morgen, neun Uhr. Ups.

Der nächste Brief, den ich aufmach, ist von meiner Rechtsschutzversicherung. Kernsatz: Hiermit kündigen wir den zwischen uns geschlossenen Vertrag gemäß Paragraf 23b der Versicherungsbedingungen, da Sie den Versicherungsfall mutwillig herbeigeführt haben.

Okay, also denken. Aber das hilft plötzlich gar nicht mehr, sondern verstärkt lediglich meinen innigen Wunsch, meine Möbel zusammenzutreten. Ich kenn nur eine einzige Strafverteidigerin: Doktor Selma Ehrlich. Die Tochter von Süpermarket-Ümit. Selma ist so was wie eine Studienfreundin. Wir haben uns immer gut verstanden. Ihre Kanzlei ist an der Straßenecke gegenüber. Selma muss mir helfen.

Ich stell mich vor mein Bücherregal und knall die Stirn ein paarmal dagegen, bis mir ein halber Meter Suhrkamp auf den Kopf fällt. Ich hab eine fabelhafte Glückssträhne. Das Beste wäre wohl, ich würde die Wand hochklettern und mich durch die Zimmerdecke nagen.

Mitternachtsnotar

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