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Reinickendorf steht auf

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Das ist neu und sensationell: Ein Bürgerantrag hat es bis in die Bezirksverordnetenversammlung von Berlin-Reinickendorf geschafft. Sanders war noch nie auf der Sitzung einer BVV, aber man kann die Tagesordnung im Internet nachlesen: Jürgen Schrödter hat einen Milieuschutzantrag für die Siedlung Am Rabennest gestellt, und der soll öffentlich verhandelt werden.

Der BVV-Saal im Rathaus Reinickendorf ist ein erhabener Ort, er könnte auch das Seitenschiff eines Doms sein. Ein bedeutungsschwerer Kuppelsaal mit blau-goldenem Lilienmuster an einer Decke, von der Messinglüster hängen. Bemalte Bleiglasfenster und eine Art steinerner Thron geben dem Ensemble die Atmosphäre eines mittelalterlichen Saals. Der Bezirksstadtrat für Stadtentwicklung Arthur Drohbeck, ein gedrungener Mittvierziger ohne Hals, mit schwarzer Fönfrisur und hellblauer Seidenkrawatte hat rote Flecke im Gesicht. Er hält sich an seinem Aktenordner fest. Die Knöchel seiner schmalen gelben Hände sind weiß. Neben ihm sitzt der blonde Peer Mann vom Bauausschuss und trommelt mit Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand den Radetzkymarsch. Die Politiker sind nervös.

Sanders nimmt auf einer Holzbank im Besucherbereich des Saals Platz. Die Sanierungsgesellschaft hat einen Aufstand der Anständigen ausgelöst. Hinter Sanders stehen die Unterstützer der Am-Rabennest-Siedler bis auf den Flur.

Etwa 25 Wutbürger und Wutbürgerinnen sitzen in den Besucherbänken: alle sechzig plus, mit Kittelschürzen, taubenblauen Gabardinehosen und geballten Fäusten. Die Mistforken hat ihnen die Polizei am Eingang abgenommen. Manche tragen schwarze T-Shirts, auf denen vorne Siedlung Am Rabennest steht und hinten Kein Ort für Luxus, daneben ein gesenkter Daumen.

Sanders fremdelt. Er fühlt sich an das Gemälde American Gothic von Grant Wood erinnert. Es ist diese Ernsthaftigkeit in der Übellaune, die die Frage offenlässt, ob es sich bei den Siedlern um komische Figuren oder Heilige handelt. Schon das Wort Wutbürger trägt eine Wahrheit in sich, nämlich die, dass die Ungerechtigkeit zu groß geworden ist. Das ist der Politik so durchgerutscht. Schraube überdreht, und schon handeln konservative, bessergestellte ältere Bürger oft gar nicht mehr bürgerlich. Das Staatstragende in ihnen hat sich in einen anarchischen Protestwillen verwandelt. Die Angst um ihre Welt ist so groß geworden, dass ihnen jegliche altersgemäße Zukunftsvergessenheit abhandengekommen ist. Ihre Verbitterung lässt die Luft im BVV-Saal vibrieren.

Es ist leicht, Jürgen Schrödter unter den Siedlern auszumachen. Er ist ein kantiger, bodenständiger Typ, Schlossermeister, frisch verrentet, breite Schultern, hochgewachsen, das graublonde Haar akkurat zurückgegelt wie Lex Barker, ein Kinn wie ein Amboss, glatt rasiert, die Augen sind hell und hart. Schrödter ist im Rabennest geboren, seine Frau vor zwei Jahren verstorben. Sein Vater, 83, genannt Opa Schrödter, lebt auch noch dort. Aus Sicht der Investoren blockieren diese beiden nichtswürdigen Existenzen gleich zwei Siedlungshäuser an quartierplanungsmäßig wichtiger Stelle, nämlich dort, wo sich die beiden Straßen der Siedlung kreuzen: Ecke Am Rabennest/​Auf den Palisaden. Vor dem Haus der Schrödters befindet sich ein kleiner Platz voller Unkraut, auf dem ein Müllhäuschen steht. Die Bestandsmieter um Schrödter haben den Platz »Klassenkampfplatz« getauft. An dem Müllhäuschen hängt ein entsprechendes Pappschild. Glaubt man den geschönten Animationen des Investors, die im Internet zu finden sind, soll dort bald eine geschniegelte Hecke eine Sandsteinputte einfassen. Sanders zweifelt daran, dass es Pläne gibt, das Pappschild durch eine marmorne Gedenktafel für Schrödter zu ersetzen. Obwohl das hübsch wäre.

Schrödter ist der Magnetpol, auf den sich die Aufmerksamkeit der BVV wie eine Stahlnadel ausrichtet. Er trägt einen akzeptablen Anzug, hat eine Mappe mit Unterlagen in der Hand und redet ruhig und fokussiert mit seinen Nachbarn.

Die restlichen Politiker der Fraktionen betreten den Saal, nehmen auf ihren mit rotem Leder bezogenen Stühlen vor dem BVV-Vorsteher Platz. Während der Bürgersprechstunde und der sich anschließenden Fragen der Fraktionen beobachtet Sanders mit investigativem Interesse den Becher mit dünnem Automatenkaffee, den er sich auf dem Flur gezogen hat und auf dessen umbragrauer Oberfläche ein paar schillernde Blasen treiben. Das Ganze könnten gut und gerne auch 220 Milliliter Abwaschwasser sein.

Dann tritt Jürgen Schrödter ans Rednerpult. Er ordnet seine Papiere. Man flüstert sich in den Reihen zu, er sei bei seinem letzten Arbeitgeber, einem Großkonzern, im Betriebsrat gewesen. Jetzt hat er fünf Minuten Redezeit.

»Meine Damen und Herren«, sagt er, »die Sanierungsgesellschaft macht ihrem Namen keine Ehre. Sie lässt das Baudenkmal Am Rabennest seit Jahren verfallen, um damit die Luxusmodernisierungen zu begründen. Der Bezirk muss die Zerstörung der Substanz stoppen, die Baugenehmigungen für die Umbauten widerrufen. Die Bestandsmieter begrüßen den Antrag auf Prüfung eines möglichen Milieuschutzes und einer sozialen Erhaltung nach Paragraf 172 des Baugesetzbuches für die Siedlung. Damit können Sie die baulichen Maßnahmen unter einen Genehmigungsvorbehalt stellen, wenn eine ausreichende Verdrängungsgefahr für die aktuellen Mieter besteht.«

Sanders bewundert Schrödters Eloquenz. Die rechte, konservative Seite der BVV fixiert ihn, als hätte sie ein Mordmotiv. Irgendetwas läuft hier unterschwellig. Begründen kann Sanders seine Vermutung nicht. Noch nicht. Und er glaubt auch nicht, dass sein Vater davon weiß. Aber Geld ist immer ein Motiv.

»Werte BVV«, sagt Schrödter und beugt sich vor, »die Bestandsmieter haben ihr Leben lang hart gearbeitet, die Siedlung selbstständig instand gehalten und ihr ihren Charme gegeben. Sie haben es verdient, hier in Ruhe zu leben. Jetzt liegt es in Ihrer Verantwortung, dieses Grundrecht auf Würde mit allen Mitteln zu schützen. Lassen Sie nicht zu, dass Reinickendorf ausverkauft wird!«

Klopfapplaus von links, aus den Reihen von Bündnis 90/​Die Grünen und der SPD-Fraktion. Einige Zuschauer pfeifen und johlen. Nach kurzer, heftiger Diskussion wird der Milieuschutzantrag an den Bauausschuss verwiesen. Sanders hat keine Ahnung, was das bedeutet. Die Siedler sehen zufrieden aus. Aber schließlich ist auch das eine Plattitüde erster Güte: Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Mitternachtsnotar

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