Читать книгу Sandsturm, Liebesstille - Bianca Savcenco - Страница 4
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ОглавлениеTripolis, 19. Februar 2011, 14:30, Baumersche Villa
Als Laetizia in das Wohnzimmer von Silke und Ralf Baumer trat, begrüßten die dort anwesenden Gäste sie zwar höflich, aber teilweise mit starrem Gesichtsausdruck, und wandten sich rasch wieder ihren Gesprächen zu. Laetizia folgte Silke in die winzige Küche, wo diese Sektgläser auf einem Tablett arrangierte.
„Wenn wir schon auf dem Vulkan tanzen, dann richtig!“, sagte Silke mit dünnem Lächeln und ließ den Korken knallen. In der Küche standen zwei Bleche mit frisch gebackenem Kuchen; Baumers hatten vor einigen Stunden spontan Freunde und Arbeitskollegen zu sich eingeladen, um Alkoholvorräte zu vernichten, alle noch ein letztes Mal zu sehen und vielleicht auch, um mit ihrer Nervosität nicht allein zu sein.
Laetizia fand das übertrieben. Es hatte zwar Demonstrationen und in der Folge gewaltsame Auseinandersetzungen in Bengasi gegeben, aber alle Kenner der politischen Lage hatten ihr versichert, die Unruhen aus den Nachbarländern würden nicht auf Libyen übergreifen. Bengasi sei weit weg und die Menschen dort schon immer vom Regime vernachlässigt gewesen, woher sich eine (auch historisch bedingte) gewisse Aufsässigkeit erklären lasse. Die Tripolitaner seien aber schlauer, sie hätten viel mehr zu verlieren. Sie würden abwarten, bis Ghaddafi das Problem in Bengasi mit Gewalt oder mit Geld oder mit beidem lösen würde, und so sollten es auch die in Tripolis lebenden Expats halten. Laetizia konnte das nur Recht sein. Ihr würde im Traum nicht einfallen, das Land zu verlassen. Nicht jetzt, wo es so spannend zu werden versprach, politisch wie privat!
„Machst du dir wirklich Sorgen?“, fragte sie deshalb Silke.
„Ob ich mir Sorgen mache? Ha!“ Silke schenkte mit der Rechten Sekt ein und deutete mit dem Kopf auf ihre Linke, in der sie eine Zigarette hielt. „Ich hab wieder angefangen, zu rauchen! Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, Laetizia. Aber es beunruhigt mich enorm. – Kannst du mir bitte die Tür aufhalten?“
„Ah, na endlich! Der Schampus!“ Ralf Baumer stammte aus einer Gegend in Bayern, in der man die Worte sehr dehnte. Aber da er im Prinzip hochdeutsch sprach, hatte Laetizia ihn im Verdacht, die langsame, gedehnte Aussprache nur einem beeindruckenden Auftreten zuliebe bewahrt zu haben. Er war genauso groß und dick wie seine Frau, Silke machte er allerdings Vorwürfe wegen ihrer Figur.
„Freunde!“, rief er aus. „Danke, dass ihr unserer Einladung gefolgt seid und mit uns gemeinsam einen letzten ruhigen Tag in Tripolis verbringt! Keiner weiß, was is, keiner weiß, wie’s morgen ausschaut; also haltet euch nicht zurück. Wir wollen doch nichts dem Feind überlassen! Heute wird alles ausgetrunken! Hier ist Open House, bis die letzte Schampus-Flasche geleert ist, mein Ehrenwort!“ Laetizia entgegnete amüsiert:
„Ja, glaubst du denn, dass morgen schon die Horden kommen, die euren Alkohol plündern? Es ist nicht mal gesagt, ob die Schule geschlossen ist.“
„Also Laetizia, ehrlich, ich weiß nicht, was ihr euch dabei denkt.“ Carmen, die Frau des Wintershall-GM, blickte sie vorwurfsvoll an. „Die British School und die Gems sind schon seit Donnerstag geschlossen, nur ihr könnt euch nicht einigen. Ich schick meine Kinder morgen nicht in die Schule. Ich besorg mir direkt ein Ticket, und dann: Maasalamah!“ „Heuers sind schon gestern rausgeflogen, die ganze Familie“, sagte ein großgewachsener junger Mann, den Laetizia nicht kannte.
„Ja, was ist denn das für ein Lulu! Wenn Frauen und Kinder sich fürchtn, bitt‘ schön! Aber als Mann muss man doch etwas Durchhaltevermögen zeigen!“, rief Ralf echauffiert.
„Ist er auf eigene Kappe geflogen?“
„RWE hat wohl alle Familienmitglieder evakuiert und jedem Mitarbeiter freigestellt, auch das Land zu verlassen.“
„Shell hat auch schon alle Expats evakuiert.“
„Und was sagt die Botschaft?“
„Jürgen und Frank kommen nachher vorbei. Die müssen heute arbeiten.“
Die Runde verstummte und jeder blickte nachdenklich vor sich hin. Silke ergriff nach einigen Minuten das Wort, sie sah sehr ernst aus.
„Laetizia, um auf deine Frage zurückzukommen: Ich glaube sehr wohl, dass sie als erstes die Häuser hier in Regatta plündern werden, wenn keiner mehr da ist. Die wissen doch, dass die Ausländer alle Alkohol bunkern. Und ich bin lieber nicht mehr da, wenn’s soweit ist.“
„Aber wer soll denn die Häuser plündern?“, fragte Laetizia. „Ihr tut ja so, als ob jegliche staatliche Ordnung schon zusammengebrochen wäre!“
Es klingelte an der Tür. Es waren Lachers, Nachbarn von Baumers, die sich verabschieden wollten. Christian Lacher wirkte sehr nervös.
„Ich fahre jetzt die Familie zum Flughafen. Wir wollen nicht mehr warten, bis es vielleicht zu spät ist… die Flüge ausgebucht sind…. also…“ Er zögerte, dann senkte er die Stimme. „Ein Freund hat mich angerufen, angeblich haben die Aufständischen einen Sohn gefangengenommen.“
„Wo? In Bengasi?“
„Äh ja, oder in Darna, ich weiß nicht genau“, antwortete Lacher fahrig.
„Wen?“
„Saadi, glaube ich.“
„Den Fußballspieler?“
„Na den, der diese Brigade anführt.“
„Das ist Chamis! Bist du sicher?“
„Hm, ich hab halt so was gehört… dass sie einen gefangen genommen hätten… also, ich fahr dann mal. Alles Gute noch!“
Nachdem Lachers gegangen waren, redeten alle durcheinander.
„Was sagt denn das Fernsehen?“, fragte Laetizia nach einer Weile.
„Nichts Neues. Die gleichen wackligen Handykamera-Aufnahmen, angeblich aus Bengasi. Demonstranten, denen gezielt in den Kopf geschossen wurde, viel Geschrei. Aber das könnte man irgendwo gefilmt haben“, antwortete Silke.
Laetizia spürte plötzlich, wie sich die Erregung der anderen auf sie übertrug, und das passte ihr gar nicht. In der Sache war sie immer noch der Meinung, dass sie übertrieben, aber sie wusste, dass sie sich leicht von Stimmungen und Schwingungen mitreißen ließ. Deshalb stand sie abrupt auf und sagte zu Silke:
„Ich geh ein bisschen an den Strand. Bis nachher.“
Das Meer war sehr aufgewühlt, ein Sturm bahnte sich an. Laetizia knöpfte ihre Winterjacke zu und band sich einen Schal um den Hals. So kalt hatte sie Tripolis noch nie erlebt. Trotzdem genoss sie es, vom Wind durchgeschüttelt zu werden. Das war ein Chaos, eine Gewalt, die sie respektierte. Sie konnte ihre eigene kleine, künstliche Unruhe gegen den Wind stemmen, der mit jedem Stoß etwas davon abschliff und wegtrug.
Sie wusste, dass sie ein wenig verrückt war – nein, eigentlich wusste sie gar nichts. Manche Freunde nannten sie lachend die Verrückte, aber das war ein Scherz, eine als Scherz verkleidete Wahrheit, wusste sie wirklich, dass sie verrückt war, oder kokettierte sie nur damit, in der Hoffnung, die Verrücktheit sei gerade groß genug, um sie anziehend und interessant zu machen, aber nicht zu groß, um sie zu überfordern? War es nicht anmaßend, so zu denken, vielleicht war sie nicht einmal ungewöhnlich? Wie auch immer, das Meer, in all seinen Verfasstheiten, war das einzige Beruhigungsmittel, das sie akzeptierte. Und das einzige ohne Nebenwirkungen. Im Gegensatz zu Männern.
Laetizia fröstelte, aber sie konnte ihren Blick nicht von den wütenden Wellen losreißen. Es war undenkbar, von hier wegzugehen! Hier war sie frei, der Himmel offen, die Tage unendlich. Ihr Leben in Libyen erschien ihr leicht und trotzdem von einer mysteriösen Bedeutungsschwere, ganz nach ihrem Geschmack.
Das Meer toste nun immer stärker, Wellen und Himmel waren gleichermaßen dunkelgrau, die Gischt war giftig, man musste sich vor ihr hüten! Giftig, wieso giftig? Plötzlich wurde Laetizia übel, eine Sekunde später hatte sie die Vision von Leichen, die an den Strand gespült wurden, unzähligen Leichen, das Meer verfärbte sich schwarzrot von ihrem Blut. Sie wankte einige Schritte zurück, setzte sich in den feuchten Sand, befühlte ihn, machte ihre Jacke auf, um die Kälte zu spüren. Sie brauchte ganz dringend ganz starke sinnliche Erfahrungen, um aus ihrer Phantasie herauszufinden! Sie sah nun keine Körper mehr, aber sie spürte das Böse, das unausweichlich kommen würde. Es war bereits in der Luft, raubte ihr den Atem. Sie war eingesperrt in ihrem Kopf, er dröhnte, und die Kälte, die Rauheit des Sandes drangen nur als abstrakte Information zu ihr durch.
Ach verdammt, warum hatte sie es zugelassen, dass Baumers und ihre Gäste sie mit ihrer Hysterie ansteckten! Sie wusste doch, dass ihr Geist leicht erregbar war, sofort Bilder produzierte, denen sie nicht entrinnen konnte, während die anderen in einigen Stunden vermutlich schon selig betrunken schliefen!
Sie zog ihre Schuhe und ihre Jacke aus, krempelte die Hosenbeine hoch, lief über scharfkantige Steine näher zum Meer. Als sie die ersten Schritte in das eisige Wasser machte, kam die Kälte wie eine Schockwelle und erlöste sie.