Читать книгу Sandsturm, Liebesstille - Bianca Savcenco - Страница 7
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ОглавлениеAm Sonntag in der Schule war sie wieder gut aufgelegt und freute sich über ihre wohlbehüteten Schülerinnen, die ihr von ihren Feiertagserlebnissen in Tunesien, Malta oder London berichteten. In der Pause saß sie auf der Bank und betrachtete die ihr unbekannten Bäume. „Maulbeeren und Orangen“, erklärte ihr Beate. „Ab dem Frühjahr tragen sie Früchte. Das heißt, eigentlich schon ab Ende Januar. Und die Orangenblüte vorher – ein Traum! Aber lass dich bloß nicht von den Kiddies erwischen, wie du von den Maulbeeren naschst. Das ist streng verboten, weil die so eine Sauerei machen. “
Nach dem Unterricht wurde sie von Marie, einer jungen Kollegin, gefragt, ob sie sie in den Herbstferien auf einen Wüstentrip begleiten wollte. Laetizia sagte hocherfreut zu und wertete es als Zeichen, endlich in sozialer Hinsicht wie auch in der Erkundung des Landes voranzukommen. Ein Vater von einem von Maries Schülern, ein Shell-Geologe, dessen Familie die Ferien lieber in Deutschland verbringen wollte, würde sie ebenfalls begleiten.
Als um 13 Uhr die Kinder abgeholt wurden, kam eine Dame im Chaneljäckchen auf sie zu. Sie war Laetizia aufgefallen, weil sie jeden gut zu kennen schien. Vom Privatchauffeur - für die Ehefrauen, die durch die Sicherheitsbestimmungen der Firmen ihrer Männer vom selbständigen Autofahren enthoben wurden - bis hinauf zum Direktor, mit jedem hielt sie ein kleines Pläuschchen. Die Dame drückte ihr mit einem Kopfnicken eine Einladung in die Hand. Ah, schon wieder eine Poolparty, direkt nach den Ferien.
*
Der Beginn der Wüstenreise präsentierte sich reichlich strapaziös und spröde, mit langen Wartezeiten am Flughafen - nur um dann festzustellen, dass der Flug abgesagt wurde - und einem neuen Flug am nächsten Tag. Aber nicht nach Ghat, ihrem Zielflughafen, sondern nach Sebha, viel östlicher. Sie mussten in einem einfachen Hotel übernachten und am nächsten Tag erst noch eine achtstündige Fahrt in einem engen Allradfahrzeug hinter sich bringen, ehe sie ihren Zielort erreichten.
Maridat war ein Steinmeer aus tausenden, einzeln aus dem goldenen Wüstensand emporragenden schwarzbraunen Felsen. Vor zwei Stunden hatten sie die Asphaltstraße nach Ghat verlassen, waren quer durch die Wüste gefahren, nach dem TPS, dem Tuareg Positioning System, wie ihr Führer lachend erklärt hatte. Am Anfang des - wie sollte man es nennen? - Ortes, der Kultstätte, der Felsenansammlung (ein Berg war es ja nicht) hatten sie Halt gemacht und Laetizia hatte sich einen Überblick verschaffen können, bevor der wilde Ritt über steile Dünen und durch enge Felspforten hindurch begonnen hatte: ein unendlicher Steinwald, soweit das Auge reichte, Schwarz auf Gold, ein Labyrinth aus verzauberten, zu Stein erstarrten Bäumen, Wächtern, Fabelwesen?
Während die Tuareg das Nachtlager aufbauten, suchte Laetizia einen Platz zwischen den Felsen, weit genug von den Zelten entfernt, wo sie ihr Geschäft verrichten konnte. Als sie zurückkehren wollte, glühte die untergehende Sonne die Umgebung dramatisch rot an, und bereits beim Betrachten des Panoramas, bei der Überlegung, dass die Endlosigkeit der Felsformationen im Sand sie an die gleichmütige, erhabene Unendlichkeit des Meeres erinnerte, da war ihr bereits klar, dass sie den Weg zurück nicht finden würde. Sie lief trotzdem los, stur, die beginnende Unruhe unterdrückend, der Sonne den Rücken zugekehrt – das war ihr Orientierungspunkt gewesen, wie kindisch, von der Sonne weg, mit der Sonne im Rücken, konnte man trotzdem in tausend verschiedene Richtungen laufen. Nach fünfzehn Minuten war es völlig dunkel und sie musste sich eingestehen, dass sie sich tatsächlich verlaufen hatte. Nun konnte sie es auch wagen, um Hilfe zu rufen, ohne sich lächerlich zu machen.
„Taher! Taher!“ Das war der Name des Führers, der ihr noch geraten hatte, sich nicht zu weit vom Lager zu entfernen, da in den Felsen Geistern hausen und kein Targi nachts kommen und sie suchen würde, sollte sie verloren gehen. Sie wusste nicht, ob das ein Scherz gewesen war.
„Taa-heer! Fraanz! Maaa-riieee!“ Keine Antwort. Was sollte sie tun? Wenn sie ihren Weg bei Sonnenlicht nicht gefunden hatte, würde es ihr in der Dunkelheit erst recht nicht gelingen. Sie fröstelte, es war schlagartig kalt geworden. Wann würden die Schakale herauskommen? Sie kletterte auf einen Felsen hoch, in der Hoffnung, etwas sehen zu können (ach, wieso war sie nicht vorher auf die Idee gekommen, als es noch hell gewesen war!) und vielleicht auch besser gehört zu werden. „Taa-heer!“ In weiter Entfernung stand jemand ebenfalls auf einer Felsspitze und winkte. Taher! Sie schüttelte die Unruhe, die sich leise angeschlichen hatte, ab, kletterte vom Felsen hinunter und lief erleichtert zu ihm hin. Aber, und sie erschauerte, blieb abrupt stehen - der Mann war nicht Taher, und er war auch nicht alleine. Es waren drei Männer, einer schmal, die anderen zwei groß und kräftig, in Jeans und Lederjacken. Sie starrten sie grußlos finster an, und Laetizia spürte, wie sie zu zittern begann. Plötzlich, mit unvermittelter Wucht, kam die Erinnerung an die seit ihrer Ankunft schon erlebten Ohnmachtsgefühle. Sie brannte sich kalt in ihre Knochen ein, durch den neuen Schreck um ein vielfaches potenziert.
„Hello“, sagte sie mit schwacher Stimme, das Zittern unterdrückend. „I am lost, I am looking for my camp.“ Die Männer blickten sie immer noch unbeweglich an, offenbar verstanden sie sie nicht. Der größte von ihnen machte Zeichen, ihnen zu folgen, und drehte sich um. Laetizia konnte unter seiner Jacke eine Pistole erkennen, bei den anderen beiden war sie sich nicht sicher. Sie folgte ihnen steif und hielt den Blick konzentriert auf den Nacken des vor ihr laufenden Mannes gerichtet, um nicht in hysterisches Geschrei auszubrechen. Herrje, wenn sie jetzt nicht Angst haben durfte, wann dann? Sie waren in der Nähe der algerischen Grenze, das war die Region, in der immer wieder Touristen entführt wurden, und diese Typen sahen aus wie Terroristen, wie Entführer, wie Vergewaltiger (was hatten sie denn sonst hier verloren, bewaffnet?).
Der Anführer hatte ausgeprägte Backen- und Kieferknochen, seine dunklen Gesichtszüge wirkten im Mondlicht wie scharf gemeißelt. Der Schmale hatte das Gesicht eines Habichts, mit großer Hakennase und Schlitzaugen, der Dritte vorstehende Augen, eine Glatze und einen angegrauten Islamistenbart.
Der Sand schluckte das Geräusch ihrer Schritte, niemand sprach. Es war so still, dass sie die Männer atmen hören konnte, ein viel zu intimes Geräusch, wie sie fand. Überhaupt war alles viel zu intim! Scheiß auf rassismusfreie Bewertung, sie hatte in wenigen Tagen schon so viel Zügellosigkeit gesehen, was sollte die Libyer hier davon abhalten, sich wie Wildkatzen auf sie zu stürzen? Sie konnte ihre Anspannung spüren -
„Camp? Tourist?“, fragte der mit der Waffe. Laetizia nickte und vermied es, ihm in die Augen zu sehen; man sollte Arabern nicht in die Augen sehen, weil die sich sonst irgendwas dabei dachten (was denn, komm und fick mich, nur weil ich dich angeguckt hab? Genügte ein simpler Blick, um sie einzuladen, zu erregen?) Die Männer blieben stehen, redeten, zeigten auf sie. Dann liefen sie weiter, der Schmale jetzt neben ihr, er roch nach Schweiß. Sie liefen lange, viel zu lange, sie hätten schon längst am Camp sein müssen; und wieso war es hier so unnatürlich still, verdammt? Laetizia presste die Zähne aufeinander und ballte die Fäuste. Hätte es einen Sinn gemacht, wegzulaufen? Aber wohin denn? Was war das nur für eine Idee gewesen, alleine in die Felslandschaft zu laufen? Überhaupt auf diesen Wüstentrip mitzukommen, weit entfernt von jeglicher Zivilisation, hilflos auf andere angewiesen? Was war das für eine absolut naive Idee gewesen, in dieses fremde, fremde, so unglaublich fremde Land zu kommen? Und zu glauben, es mal eben so in die Tasche stecken zu können?
Als sie rechts um einen großen Felsen bogen, stand das Zeltlager direkt vor ihnen. Ein Feuer brannte, und Taher stand auf.
„Ah Laetizia, there you are. Did you get lost? I told you not to go away too far”, sagte er freundlich lachend.
“Na, gut dass’d wieder da bist. Wir ham grad überlegt, ob mer ‘nen Suchtrupp losschickn solln. Aber keiner wollt so recht. Da kemmer jetz zum gemütlichen Teil des Abends übergehen“, sagte Franz ruhig.
Dann machte er sich an seinem Rucksack zu schaffen, wollte eine Flasche Wein herausholen. Taher, der die Bewegung sah und wohl seine Absicht erriet, schüttelte leicht den Kopf und machte eine Augenbewegung in Richtung der Männer. Marie intervenierte, griff zum Rucksack und sprach leise mit Franz. (Überhaupt schienen die beiden recht vertraut. Vielleicht hatten sie Laetizia auch nur als Alibi, als Anstandsdame mitgenommen.)
Taher war auf die Männer zugegangen und unterhielt sich in einem sehr höflichen Tonfall mit ihnen auf Arabisch. Nach einer Weile schüttelten sie ihm die Hand und entfernten sich vom Lager, ohne auch nur einen Blick auf Laetizia zu werfen. Taher setzte sich zurück ans Feuer. Nachdem die Männer außer Sichtweite waren, lachte er leise.
„Laetizia, you were very lucky to arrive back to the camp at all.“ Er lachte noch mehr und schüttelte den Kopf. “These were policemen, they were lost themselves. They should protect a French camp, but they couldn’t find it.“ Franz und Marie lachten erstaunt auf. “They were walking around since hours! I told them where to find the French group, but it’s far away from here. Did you see it? We passed by as we arrived here. Ah“, er schüttelte immer noch lachend den Kopf, „they should not send policemen from the town into the desert. They don’t know anything, they’re not better than you. Only Tuareg know the desert.“ Er wandte sich seinen verhüllten Freunden zu und erzählte die Geschichte auf Tamaschek, sie nickten zustimmend. Anschließend gab er Anekdoten auf Englisch preis, von einem italienischen Reisenden, der nachts ohne seine Brille ausgetreten war und sich nur am Schnarchgeräusch eines Mitreisenden orientiert hatte. Als es ausgeblieben war, hatte er den Weg zurück nicht gefunden und die Nacht im Freien verbringen müssen.
Die Nacht jenseits des Zeltlagers zu verbringen, gemeinsam mit Schlangen, Skorpionen und Schakalen, wie sollte das möglich sein? Vermutlich hatte er keine Sekunde lang die Augen geschlossen und sich nur für den nächsten Morgen einen coolen Spruch überlegt, dachte Laetizia. Sie blickte auf das kleine Feuer, schlürfte Grüntee mit Minze und fühlte sich sehr weit von den anderen entfernt, wie sie entspannt dasaßen, Rotwein tranken, lachten, Tahers Geschichten zuhörten und den Sternenhimmel bewunderten. Niemand hatte nach ihrem Befinden gefragt. Und nirgendwo gab es einen Platz für sie, nicht in dieser kleinen Runde, und auch nicht in ihrem Innersten, wo Scham und Frust alles durcheinanderwirbelten.
In der Nacht wurde sie wach, weil der Wind an ihrer Zeltplane rüttelte. Sie hörte Schakale in nächster Nähe heulen und bemerkte, dass ihre Blase voll war. Sie schälte sich aus dem Zelt, die Tuareg schliefen davor, nur in Decken eingepackt. Wenn sie hinter den Felsen da vorne ginge, wäre dann genug Anstandsabstand gewahrt? Die in silbernes Mondlicht getauchte Landschaft war von einer verwunschenen, weltentrückten Schönheit, aber Laetizia wagte es nicht, sich der Betrachtung hinzugeben, als ob sie sich auch darin unauffindbar verlieren könnte; es war eine noch nie erlebte Stimmung, die an ihren Nerven zerrte, sie an die Grenzen ihrer gewohnten Wahrnehmung führte, sie extrem beunruhigte. -
Außerdem hatte sie keine Zeit, es war kalt, sie beeilte sich und kehrte in ihr Zelt zurück, ohne sich weiter umzusehen. Sie hatte auch am nächsten Tag keine Zeit für einen zweiten Tee, für freundliche Worte, für den Sonnenuntergang oder sonstige kontemplative Betrachtungen. Marie und Franz seufzten abends beim Anblick des Sternenhimmels, pfh!
Laetizia war nachts zu kalt und tagsüber zu heiß, ihre Kleidung roch nach Rauch und Schweiß, der Sand juckte in den Haaren. Und sie fragte sich, warum der Koch sich so viel Zeit ließ mit dem Essen machen, sie aßen viel zu spät vor dem Schlafengehen, und das Kamel-Couscous lag ihr schwer im Magen. Ach, diese Reise war eine einzige Zeitverschwendung, wieso hatte sie sich nichts zu lesen mitgebracht. Sie konnte es kaum erwarten, ins Camp zurückzukehren.
*
Am Flughafen von Sebha herrschte Chaos, Taher musste sich mit ihren Tickets vordrängeln, damit sie zum Check-in durchgelassen wurden. In der Maschine nach Tripolis roch es nach Erbrochenem; es gab lautstarke Auseinandersetzungen, weil sich einige Gäste auf falsche Sitzplätze niedergelassen hatten. Eine Familie wollte nicht getrennt werden, der ausländische Geschäftsmann, der ursprünglich neben der muslimischen Frau sitzen sollte, hatte sich bereit erklärt, Platz zu tauschen. Auf seinem neuen Sitz befand sich jedoch wieder eine libysche Frau, die nicht weichen wollte; entnervt kehrte er zurück. Die Stewards waren hilflos, sie sprachen nur einige Brocken Englisch. Nach einigem Hin und Her griff ein Reiseleiter ein und erklärte, dass die Sitzplatznummern auf libyschen Inlandsflügen nur eine Formsache seien, jeder setze sich, wo er wolle, vorne im Flugzeug sei noch eine Reihe frei. Der Ausländer seufzte laut, herablassend, und trollte sich schließlich kopfschüttelnd.
Laetizia saß neben einem distinguiert aussehenden älteren Herrn. Die erhoffte Erleichterung hatte sich nicht ausgebreitet. Da war nicht einmal indifferente Müdigkeit. Eher das Gefühl einer Niederlage. Ihr Sitznachbar, ein Italiener, fragte sie, ob sie beruflich unterwegs sei oder auch von einer touristischen Reise zurückkäme. Als sie letzteres bejahte, rief er enthusiastisch aus:
„Ah, che bello e il deserto!“ Er sprach mit solch hingebungsvoller Zärtlichkeit von der Wüste, die ihn trotz aller Mühen ergriffen hatte, dass Laetizia sich sofort neidisch in ihrem Sitz wand. Da war sie, messerscharf klar, ihre Unzulänglichkeit. Sie war gefangen in wer-weiß-was, Lebenswelten entfernt von innerer Freiheit. Die Erhabenheit der Wüste hatte sie auf diese Differenz gestoßen. Und sie? Hatte schnell die Augen geschlossen, überfordert, borniert.
Der eine nächtliche Moment, in dem der Himmel mit seinen großen, nahen Sternen so tief aufgehängt war, dass sie geglaubt hatte, ihn zu streifen, wenn sie nicht geduckt ginge, hatte sie extrem verunsichert. Sie hatte die Geister in den altersmüden Felsen erkennen können, und wenn sie gewagt hätte, hinzuhören, hätte sie auch verstanden, was der Wind ihr zuraunte. Er stellte ihr bisheriges Leben von Grund auf in Frage, wollte ihr ein Geheimnis verraten…
Sie hatte gespürt: wenn sie sich der gewaltigen Kraft der Naturschönheit auslieferte, würde ihr die Zuordnung der Kategorien von Raum und Zeit nicht mehr wie gewohnt gelingen. Es würde ihre Sinne und ihre Seele verwirren, aus der Spur werfen, für immer. Ob das Freiheit versprach oder Wahnsinn, hatte sie nicht sagen können. Auch nicht, warum sie gezögert hatte.
Sie hatte gewusst, dass es ihr nichts ausgemacht hätte, wenn die Wüste sie geschluckt hätte und sie fortan nur noch ein Staubkörnchen gewesen wäre. Sie war sehr nahe dran gewesen, sich an eine Düne zu schmiegen, für Tage und Nächte, zeitlos; darauf wartend, dass tanzende Sterne übermütig auf sie herunterprasselten, und sich selbst einfach völlig aufzugeben. Ohne überhaupt zu wissen, wofür.