Читать книгу Kaltes Fließ - Birgit Turski - Страница 10
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Оглавление„Verdammtes Sauwetter!“ fluchte Fred Bittner, als er den Beratungsraum betrat und sich immer noch Schnee vom Mantel klopfte. Metag runzelte die Stirn. Er mochte es nicht, wenn Beratungen derart unhöflich gestört wurden, auch von seinem Freund nicht. Er verzichtete allerdings auf eine Zurechtweisung. Nicht, weil Bittner sein Freund war, was während der Arbeit keinerlei Rolle spielte, sondern, weil jede Zurechtweisung nur weiteres Gegrummel des cholerischen Kollegen nach sich gezogen hätte. Wichtiger war jetzt, zu hören, was Bittner außer den Kommentaren zum Wetter, die unweigerlich erst mal kommen würden, zu berichten hatte.
„Es ist doch wirklich zum Kotzen,“ fügte Bittner seiner Meinung zum Wetter hinzu „daß nicht mal vor der Tür zum Polizeipräsidium der Winterdienst klappt. Ich hab mich an der nicht geschobenen Bordsteinkante fast gepackt.“ Die Kolleginnen und der Kollege der Mordkommission nickten mitfühlend und Sabine Grünfeld setzte gerade an, die Problematik Winterdienst aufzugreifen. Metag kam ihr mit dem freundlichen „Setz dich erst mal und trink nen Kaffee, damit du wieder auftaust.“, an Fred gewandt, eben noch zuvor. Die etwas füllige und gerne zu Problemdiskussionen neigende Kriminaloberkommissarin schluckte ihre Kommentare, sichtlich um Beherrschung bemüht. Sie wollte nicht riskieren, vom Chef zurechtgewiesen zu werden. Sie wußte ja, dass er Abweichungen vom gerade diskutierten Thema nicht leiden konnte. Und das Thema bei dieser Beratung waren die Ermittlungen im Fall Muschack und nicht das Wetter.
„Was sagen denn nun die Weißkittel zu unserem Findelkind?“ wandte sich Metag weiter seinem Stellvertreter zu, der sich gerade aus Mantel, Schal und warmer Schaffellweste schälte. Noch während er zum freien Platz neben der Praktikantin Janina ging, die ihm aufmerksam eine Tasse dampfenden Kaffees zu schob, begann er seinen Bericht: „Die haben mehr Fragen, als sie uns Antworten geben können. Vermutlich ist sie kein Kind mehr, aber auf ein konkretes Alter will sich keiner festlegen. Die Untersuchungen sind problematisch, da sie nicht spricht und auch auf keine Zeichensprache reagiert. Sie zeigte bei der Einlieferung leichte Zeichen von Dehydration und Unterkühlung, was wir auch so schon wußten, aber keine Hinweise auf Unterernährung, Gewalteinwirkung, Misshandlungen oder Verwahrlosung. Die Ärzte wollen vor weiteren Untersuchungen erst die Rechtslage geklärt haben, wegen der Aufklärungspflichten und weiß der Geier, was für Zuständigkeiten. Sie wird vorerst auf der Kinderstation versorgt, im Einzelzimmer. Sie hat vor allen Angst und versucht sich zu verkriechen. Essen, Trinken und den Toilettenstuhl benutzen, kann sie nach Aussage der Stationsschwester alleine und will auch niemanden dabei haben. Selbige Stationsschwester, ein echter Dragoner, kann ich euch flüstern, meinte, das Mädel sei den Umständen entsprechend in erstaunlich guter Verfassung und recht sauber, nur der Geruch, der von ihr ausgehe, wäre sehr ungewöhnlich. Als ob sie so was schon mal erlebt hätte.“
"Hat sie vielleicht auch,“ meinte Bittner mit eigenartig belegter Stimme „ganz am Anfang meiner Dienstzeit in Cottbus, Anfang der 80er, gab es einen Fall, an den ich schon die ganze Zeit denken muß. Kollegin Engel, sie erinnern sich vielleicht auch noch? Zumindest waren sie damals, glaube ich schon bei der Polizei.“ Waltraud Engel schüttelte nachdrücklich den Kopf: „Anfang der 80er war ich in Prenzlau Sekretärin beim ABV. Da hab ich keine Ahnung, was hier passiert ist.“ Metag nahm dies zur Kenntnis und fuhr fort: “Ihr anderen seid ja alle noch nicht so lange dabei, also hier die Kurzfassung. In einem Spreewaldnest, welches, könnt ihr vergessen, wurde in einem Schweinestall ein geistig schwer behinderter Dreißigjähriger angekettet gefunden, halb verhungert und völlig verdreckt, den seine Großmutter dort, wie soll ich sagen?, gehalten hat, vor allen Menschen versteckt. Sie war die letzte lebende Verwandte gewesen und er wurde erst Tage nach ihrem Tod gefunden. Es war übrigens ein Herzinfarkt bei der Großmutter. Die Mitarbeiterin vom Amt für Gesundheit und Soziales, die sich um den Nachlass der alten Frau kümmerte, hatte in dem angeblich unbenutzten Stall komische Geräusche gehört. Die arme Frau, also die Sozialtante meine ich, hatte den Schock ihres Lebens, obwohl sie schon manchen Fall von Verwahrlosung erlebt hatte. Sie war danach lange in psychologischer Betreuung.“ Den Fragen der anderen zuvorkommend, ergänzte er: „Der Mann war von allen anderen unbemerkt zu Hause geboren worden, die leibliche Mutter des Findlings hatte das Down-Syndrom oder Trisomie 21 oder wie Mongolismus heute nun korrekt heißt. Sie wurde von ihrer Mutter, die auf ihre alten Tage schon etwas dement geworden war, mehr schlecht als recht allein zu Hause versorgt. Die Kindesmutter war drei Jahre vor ihrer Mutter an Herzversagen im Krankenhaus verstorben. Es konnte jedenfalls damals keine Straftat festgestellt werden, außer der Verwahrlosung und die Täterin, wenn ihr so wollt, war ja verstorben. Der Mann bekam den Namen seines Großvaters und kam in ein Pflegeheim, vermutlich ist er da noch heute. Zumindest gab es damals keine rechtlichen Probleme.“
„Wieso ist es denn heute bei dem gefundenen Mädchen so schwierig?“ wollte Janina Borasch, die erst vor kurzem bei der Mordkommission ein halbjähriges Praktikum begonnen hatte, wissen, „sieht doch fast genauso aus, bloß Gott sei Dank ohne Verwahrlosung, wie ihr gesagt habt. Wieso ist das überhaupt ein Fall für uns?“
Bittner fuhr sie ziemlich ungehalten an: „Die tote Frau Muschack im Haus nebenan ist ja wohl Grund genug. Und ob da Verwandtschaftsbeziehungen bestehen, ist eben auch nicht klar, auch wenn ich das stark vermute.“
„Ehe wir anfangen zu spekulieren, sollten wir die nächsten Schritte klären.“ übernahm Metag wieder das Wort, „ihr fünf seid die Ermittlungsgruppe im Fall Maria Muschack und soweit damit verbunden, kümmert ihr euch auch um die Klärung der Identität des aufgefundenen Mädchens.“
„Können wir ihr nicht für unsere Ermittlungen einen Namen geben,“ warf Sabine Grünfeld ein, „ich finde es immer schrecklich mit diesen unpersönlichen Bezeichnungen und nun noch bei einem lebenden Kind.“ „Ja,“ schloss sich Janina mit Eifer der älteren Kollegin an „können wir sie nicht Jane Doe nennen, wie in den Staaten?“ „Na, dann wohl eher Jana Dojowa“ warf der sonst recht wortkarge Kriminaloberkommissar Volker Trommer ein. Metag sah ihn verwirrt an und Trommer ergänzte: „Na ja, wegen dem Spreewald, dachte ich. Sind das denn nicht alles Sorben?“ Ehe Bittner zu einem ausführlichen Diskurs über political corectness und die spezielle Situation in den zweisprachigen Gemeinden der Lausitz ansetzen konnte, worüber er dann sehr emotional und langatmig debattieren würde, sprach Metag einfach weiter: „Wir bleiben bei den üblichen Bezeichnungen, bis Angehörige gefunden werden, wir die Identität geklärt haben oder das Amtsgericht eine Entscheidung getroffen hat. Ich erwarte morgen früh den Maßnahmeplan der Gruppe zum Fall Muschack. Volker, von dir brauche ich bis zum Freitag die Unterlagen über die Unfalltote im Heizkraftwerk. Frau Engel, sie bereiten bitte schon die Statistik für das Jahr zu Tötungsdelikten vor, wandte er sich an die zierliche Sachbearbeiterin, die für die Aktenführung der Mordkommission zuständig war, „vielleicht schaffen wir es ja mal, die Termine für Potsdam einzuhalten. Ich hoffe, dass uns bis zum Jahresende nichts Neues dazu kommt. Kollegin Borasch, sie assistieren Frau Engel und können parallel die Statistik jugendliche Straftäter für das laufende Jahr aufbereiten. Fred, von dir fehlt mir noch der Bericht zum Totschlag bei der Einbruchserie Kleingartenanlagen mit den Schlussfolgerungen für die Schutzpolizei. Soweit also. Dann mal los in die letzte Runde vor Weihnachten.“ Damit beendete Metag die Dienstberatung und die drei Frauen verließen gemeinsam das Beratungszimmer, während er seine Papiere in die Vorlagemappe sortierte.
Trommer stand noch etwas unschlüssig neben dem Tisch und räusperte sich: „Ähem, Chef, bleibt es trotzdem bei meinem Urlaub? Ich meine, wegen dem aktuellen Fall?“ Es lag ihm viel daran, pünktlich am Freitag nach Dienstende losfahren zu können. Weihnachten wollte er gerne zu Hause sein. Obwohl er seit über einem Jahr mit seiner Frau Christine in Cottbus lebte und hier eine größere und modernere Wohnung als in Saarbrücken hatte, fühlte er sich in der Lausitzmetropole nicht heimisch und fuhr, so oft es der Dienst erlaubte, ins Saarland, wo seine Eltern und seine Schwester in dem Haus lebten, das sein Urgroßvater gebaut hatte, damals noch knapp außerhalb der Stadtgrenze von Saarbrücken, wo das Bauland günstiger war.
Seit der Chef in der Mittagspause die Dienstberatung wegen eines neuen unklaren Todesfalles angekündigt hatte, bangte Trommer um seinen Weihnachtsurlaub, was ihn noch verdrießlicher aussehen ließ, als gewöhnlich. Dabei war er, wie die meisten Weinliebhaber, eine fröhliche Natur, das merkten andere aber erst nach besserer Bekanntschaft. Sein starker Bartwuchs, der trotz sorgfältiger Rasur schon nach einigen Stunden mit bläulichen Schatten vom Hals bis knapp unter die Jochbeine sein Gesicht verdunkelte, zusammen mit den buschigen Augenbrauen über den kleinen, tiefliegenden Augen unter einer schon in jungen Jahren von vier stark ausgeprägten Furchen und einigen Aknenarben gezeichneten Stirn, ergaben selbst bei guter Laune einen miesepetrigen Eindruck.
Nun wartete er gespannt auf Metags Antwort. Bei seinem Saarbrücker Chef hätte er nicht einmal gewagt, diese Frage zu stellen. Für den galt jeder unklare Todesfall als Mord, bis etwas anderes bewiesen war und bei einer laufenden Mordaufklärung waren Worte wie Urlaub und Freizeit völlig undenkbar. Trommers ehemaliger Chef hatte vor seiner Arbeit bei der Kriminalpolizei in Saarbrücken eine Offizierslaufbahn beim Bund absolviert und das merkte man ihm immer an. Disziplin und ein straffes Führungsprinzip waren für ihn der Schlüssel zum Erfolg.
Metag ging da ganz anders ran, „Ergebnisoffen“ war hier ein oft gebrauchter Begriff. Die Ermittlungen hatten sie ohne Vorurteile und Vorvermutungen zu führen. Wenn sich jemand in einem Fall schon am Anfang festlegte, konnte der Chef recht ungemütlich werden, das war für ihn schludrige Arbeitsweise. Deshalb hatte er auch bei dem Wortwechsel zwischen Fred und Janina über die mögliche Verwandtschaft zwischen der Toten und dem im Stall gefundenen Mädchen, recht unwillig die Stirn gerunzelt, wie Trommer aufgefallen war. Er war auch nach einem Jahr Ermittlungsarbeit unter Metag noch nicht ganz sicher, welcher Leitungsstil besser war. Jetzt hoffte er für seinen Weihnachtsurlaub allerdings auf Metags toleranteren Stil.
Metag hatte inzwischen seine Papiere geordnet. Was die Ablage anging, war er geradezu pedantisch, was auf andere Lebensbereiche zum Leidwesen seiner Frau keinen spürbaren Einfluss hatte. Etwas irritiert sah er zu dem neben ihm stehenden Trommer hoch und meinte: „Was hat dein Weihnachtsurlaub mit der toten Frau Muschack zu tun? Die wird nicht davon lebendig, dass ich dir die Feiertage versaue. Gefahr ist nicht im Verzug, selbst wenn es sich als ein Gewaltdelikt herausstellt, was wir bisher nur vermuten können. Mach deinen Bericht zu der Unfallsache Kraftwerk ordentlich fertig, wie du es immer machst, und solltest du aus den Pathologen bis Freitag eine brauchbare Antwort zur Todesursache und vor allem zur Todeszeit der Muschackowa herausbekommen, hast du deinen Urlaub mehr als verdient.“
Bei der Bezeichnung Muschackowa stutzte Trommer kurz, biss sich aber auf die Zunge, ‚Bloß keine blöde Bemerkung, Volker’, dachte er sich, ‚du warst vorhin mit dem Jana-Dojowa-Vorschlag schon im Fettnäpfchen’. Er hatte ganz vergessen, dass Metag ja Sorbe war, oder Wende, er blickte da nie durch. Das war ihm jetzt aber auch egal. Sein Weihnachtsurlaub schien gesichert, wenn jetzt nicht noch irgendeine schwere Sache reinkam. Damit mußte man bei der Kriminalpolizei immer rechnen. Aber die Lausitz war keine Verbrechenshochburg und die Schwerpunkte Autodiebstahl, Schmuggel und Grenzüberschreitende Kriminalität wurden Gott sei Dank von anderen Kommissariaten bearbeitet. Die hatten allerdings bis in den Januar rein Urlaubssperre.