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ОглавлениеSchon beim Abzweig vom Kaupenweg zum Gehöft der Muschacks, ahnte Martin Jakubick, dass etwas nicht in Ordnung war. Aus dem Schornstein stieg kein Rauch. War Muschackowa Marja, dem Muschack Seine, wie er Maria Muschack aus Tradition in sorbisch nannte, etwa nicht zu Hause? Aber wo sollte sie sonst sein?
Die zierliche Marja lebte ganz allein auf dem von ihren Eltern geerbten Hof und hielt ihn in Schuß, seit ihre Tochter, die Therese oder sorbisch Rejzka genannt, in der Wendezeit nach Berlin zur Ausbildung gegangen war. Bald darauf zog es Rejzka irgendwo weit in den Westen zum Arbeiten und der Kontakt zu ihr brach wegen eines Streites mit dem Vater ab. Marjas Mann, der Muschack Jurij lebte seit August 89 mit seiner damaligen Geliebten zusammen. Im Sommer 1990 waren die beiden in seinem protzigen nagelneuen BMW im Vollrausch in die Hauptspree gerast und ertrunken. Kaufangebote für das Grundstück, die es immer wieder mal gab, wies Muschackowa Marja stets entschieden zurück. Genauso wie sie das Angebot von diesem komischen Typen aus der Gegend um Berlin abwies, der seit ein paar Jahren jeden Sommer auftauchte, und mit der Marja (auf die er wohl auch ein Auge geworfen hatte) eine Ziegenzucht aufbauen wollte. Das wußten alle in Burg. Soviel auch im Dorf über alles getratscht wurde, über Muschackowa Marja gab es seit dem Tod ihres Mannes einfach nichts besonderes zu erzählen.
In der Marktsaison kam sie einmal in der Woche ins Dorf zum Wochenmarkt, um die Erzeugnisse ihres Gartens, meist Kräuter und Blumen, aber auch Eier, Gurken, Tomaten und was sie sonst noch über den eigenen Bedarf hinaus hatte, zu verkaufen. Den langen beschwerlichen Weg fuhr sie immer mit dem Fahrrad, mit dem schon ihre Mutter gefahren war. Auf dem Gepäckständer den hohen Weidenkorb mit dem Gemüse und am Lenker auf jeder Seite kleinere Körbe mit den Eiern und Blumen, balancierte sie wie eh und je die fast 10 Kilometer zum Markt. Meist trug sie die typische Burger Arbeitstracht, einen dunklen weiten Rock mit einer schlichten Borte am Saum über einigen Unterröcken, darüber eine Schürze in Blaudruck und eine Blaudruckbluse, dazu meist ein Kopftuch mit dem gleichen Muster. Der Blaudruck war heute ein seltenes Kunsthandwerk und die Stoffe waren entsprechend teuer. Muschackowas Sachen waren schon wenigstens eine Generation alt, solide aus Leinen und haltbar. ‚Das ist nur noch bei wenigen Burgern üblich,’ dachte Jakubick ‚dass sie in allem so traditionell sind wie Muschacks. Liegt vielleicht auch daran, dass sie als Katholiken besonders am Alten hängen.’
Auf dem Markt oder auch, wenn sie aufs Amt mußte, sprach die Muschackowa nur das mit den anderen Frauen, was die Höflichkeit gebot. Die Burger wußten ja, dass die Muschack-Frauen immer sehr still und scheu waren. Früher sprachen sie ausschließlich sorbisch, erst Marjas Mutter hatte in der Schule deutsch gelernt. Marja und Rejzka hatten natürlich in der Öffentlichkeit deutsch gesprochen, zu Hause blieb es beim Sorbischen.
Die Nachbarin Elfriede Bleschke, eine der aktivsten Frauen im Heimat- und Trachtenverein und ehemalige Vorsitzende der DFD-Ortsgruppe Burg, besuchte die einsame Marja regelmäßig, weil sie ein mütterliches Verantwortungsgefühl der nur fünf Jahre Jüngeren gegenüber entwickelt hatte. Zu den Veranstaltungen des Heimatvereins holt sie Marja meist ab, obwohl diese sich immer dagegen sträubte. Gegenüber der resoluten Elfriede konnte sich die einen Kopf kleinere und sicher nur halb so schwere Marja nie durchsetzen. So zog Marja stets still und zurückhaltend bei den Umzügen des Heimatvereins in ihrer sorbischen Festtagskleidung mit. Diese Festtracht, die schon ihre Großmutter zur Hochzeit getragen hatte, war ein besonders schönes und seltenes Exemplar. Der weite grüne Rock, den nur die verheirateten Frauen tragen durften, war mit einer breiten Seidenborte geschmückt. Die strahlend bunten Blumen auf dieser Borte hatte die Urgroßmutter selbst zu dieser Hochzeit gestickt. Auch alle anderen Stickereien am Cypjel, dem Schultertuch, und auf der Lapa, der Haube waren Handarbeit. Die Burger Lapa war die größte im ganzen Spreewald. Sie wurde aufwändig aus einem großen bestickten und mit Spitze gefassten Tuch gefaltet und über ein Gestell aus Pappe gesteckt. Dabei wurden eine Menge Stecknadeln und viel Zeit gebraucht. Von den über vierzig Stecknadeln, welche die Lapa und die anderen Trachtenteile in Form hielten, waren am Abend beim Ausziehen immer etliche verschwunden. Die Frauenplätze in den alten sorbisch-wendischen Kirchen wurden von Archäologen anhand der dort gehäuft zu findenden Stecknadeln identifiziert.
Auf das Muschack-Grundstück kamen nur noch selten Leute, im Herbst brachten einige Ziegenhalter ihre Zicken zum Belegen, denn Muschackowa Marjas Ziegenbock Matej war ein Prachtstück und hatte schon fleißig für Nachwuchs gesorgt. Hier auf dem abgelegenen Kaupen war der Bockgestank kein Grund für einen Nachbarschaftsstreit, nur dafür, dass der Stall ungewöhnlich weit und abseits vom Haus gebaut war und freiwillig außer Marja keiner dort hin ging. Die Versorgung des Ziegenbockes war schon immer Marjas Arbeit gewesen, bei ihr blieb er auch in der Paarungszeit friedlich. Jurij, Marjas verunglückter Mann, hatte immer einen Bogen um Stall und Bock gemacht. Er wollte mit dem Stinker nichts zu tun haben. ‘Eigentlich wollte der mit Arbeit insgesamt möglichst nichts zu tun haben’, dachte Jakubick gerade, als er in Gedanken die ihm bekannten Fakten über die Muschacks ordnete.
Obwohl Burg als größte Flächengemeinde Deutschlands mit immerhin über 4.000 Bewohnern sich über ein Gebiet von der Größe Ostberlins erstreckte, kannte der Revierleiter die alteingesessenen Familien recht gut. Bei den Neuzugezogenen, meist Städtern, welche die Landidylle für sich entdeckten, war das schwieriger. Jakubick verstand deren Lebensart und ihre Verhaltensweisen nicht so richtig. Von den Muschacks allerdings wußte er, was es so zu wissen gab. Er erinnerte sich noch gut an Marjas Eltern und sogar noch an Großvater Muschack, der ein selbstgerechter Haustyrann und ziemlich hitzköpfig gewesen war.
Der Muschack-Hof war immer gut in Schuß und ordentlich. Wenn es Ärger gab, dann nur, wenn von den Männern einer zuviel getrunken hatte. Das kam bei den üblichen Dorffeiern schon ein paar mal im Jahr vor. Der letzte Muschack, der Jurij, der erst durch die Heirat mit der Marja in den siebziger Jahren zum Muschack und dann als Hofbesitzer nach dem Tod des alten Muschack Anfang Achtzig endgültig vom Georg Müller aus Cottbus zum Sorben Jurij Muschack geworden war, trieb es manchmal im Suff gar zu bunt. Revierleiter Jakubick hatte ihn deshalb ein paar mal zur Ausnüchterung in die Arrestzelle gesteckt. Es wurde auch gemunkelt, dass sich Marja in den Stall zu ihrem Ziegenbock flüchtete, wenn der Jurij betrunken nach Hause kam und sein Eherecht forderte. In den Stall zum Ziegenbock wäre er selbst im schlimmsten Suff nie gegangen, so sehr ekelte ihn der Geruch.
Als Martin Jakubick endlich die lange Zufahrt vom Kaupenweg her auf das Grundstück der Muschacks bewältigt hatte, sah er nur die unberührte weiße Schneedecke ringsum. Nicht eine Spur zeigte sich im ersten fahlen Sonnenlicht auf dem Gehöft im jungfräulich glitzernden Schnee. Muschackowa Marja hätte doch schon längst nach den Tieren gesehen, aber seit dem Ende des Schneefalls gegen Mitternacht war hier niemand mehr über den Hof gegangen. Höchst beunruhigt stapfte Jakubick zur Tür des alten Lehmhauses. Die Schwelle war von angewehtem Schnee bedeckt. Eilig schob er ihn mit den Füßen zur Seite, während er kräftig gegen die Tür klopfte und nach Muschakowa Marja rief. Schweigen und Reglosigkeit waren die einzige Antwort aus dem Haus. Dafür antwortete der Ziegenbock aus dem abseits gelegenen Stall mit wütendem Gemecker auf die Ruhestörung.
Endlich konnte Jakubick die Haustür aufzerren. Den Anblick, der sich ihm bot, empfand er wie einen Schlag in die Magengrube, der ihm die Luft nahm. Noch ehe seine Augen das ganze Bild im dämmrigen Licht des Flures erfasst hatten, kniete er schon neben der am Boden liegenden Gestalt und tastete nach dem Hals, um den Puls zu fühlen. Im selben Moment, da seine Finger den zerbrechlich wirkenden Hals berührten, wußte er, dass keine Hilfe möglich und keine Eile mehr nötig war. Eiskalt war die Haut, die er berührte. Er nannte es nur Haut, weil er wußte, dass es Haut sein mußte. Seine tastenden Fingerspitzen signalisierten dem Gehirn nur leblose Kälte.
Ächzend erhob sich Martin Jakubick. Seine 60 Jahre und die endlosen Streifengänge seiner Polizeilaufbahn spürte er in diesem Moment als dumpfen Schmerz in den Knien. Er betätigte endlich den Lichtschalter und betrachtete mit immer stärker werdendem Unbehagen die Situation.
Es war wirklich Muschackowa Marja, die rücklings in ihrem Flur lag, steif und unnatürlich verrenkt. Unter ihrem Kopf hob sich ein großer, dunkler, glänzender Fleck von den graubraunen Holzdielen ab. Jakubick hielt ihn für eine gefrorene Blutlache. Seit er sich erhoben hatte, untersuchte er seine Umgebung nur noch mit den Augen, reglos auf der Stelle verharrend.
Er fischte mit seinen inzwischen kalten, steifen Fingern das Handy aus der Tasche seiner Wattejacke. ‚Bloß gut, dass ich das Ding nicht wie immer in der Hosentasche habe,’ dachte er, ‚da wär’ ich ja in ner halben Stunde nicht rangekommen.’ ‚Obwohl das nun auch nichts mehr ausgemacht hätte,’ überlegte er weiter, während er die Nummer der Einsatzzentrale aus dem Speicher aufrief und ordnungsgemäß Meldung erstattete.
Nun blieb ihm nichts weiter zu tun, als in seiner eigenen Spur zum Auto zurück zu stapfen. Das war auch alles, was er an Tatortsicherung, wenn es überhaupt einen Tatort gab, vornehmen konnte - keine weiteren Spuren hinterlassen. Abzusperren gab es nichts, weit und breit kein Mensch außer ihm. Sollte sich jemand nähern, würde er es rechtzeitig genug bemerken. Nur, wer sollte hierher und bei diesem Wetter schon kommen? Jakubick wußte, dass Bleschkes, die nächsten Nachbarn bis über Neujahr im Urlaub waren. ‚Irgendwo im Warmen sind die, Mallorca oder Madeira oder Malta, egal, irgend etwas mit M vorne. Was heißt auch schon nächste Nachbarn,’ dachte er weiter. Die Häuser hier draußen waren mehrere Hundert Meter voneinander entfernt und zwischen ihnen war ein Fließ mit Büschen und Erlen an beiden Ufern. Einen Sichtkontakt zwischen den Häusern gab es nicht.
So setzte er sich in sein Auto und wartete auf die Kriminalisten, die entscheiden mußten, ob es sich um einen Unfall oder ein Tötungsdelikt handelte und wie weiter zu verfahren war.
Wer weiß, wie lange das dauern mochte bei den Wegverhältnissen und der allgemeinen Verkehrslage, wo jeder einsetzbare Beamte bei dem alljährlich immer wieder überraschenden Wintereinbruch mit seinen Unfällen und Verkehrsbehinderungen zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung gebraucht wurde, schmunzelte Jakubick.
‚Wie machen die das bloß in Norwegen?’, überlegte er weiter ,und warum funktioniert das in Deutschland nicht?’. Früher hatte er immer geglaubt, das Winterchaos wäre durch die Planwirtschaft der DDR so schlimm, nach dem alten Spottspruch „Was sind die vier größten Feinde des Sozialismus? – Frühling, Sommer, Herbst und Winter“. Aber an dem jährlichen Affentheater beim Wintereinbruch hatte sich auch nach der Wende nicht viel geändert. Selbst das Dilemma, dass Schneeschieber und Streumaterial nicht ausreichend vorhanden waren, wenn sie am nötigsten gebraucht wurden, oder die Streufahrzeuge just dann zur Wartung waren, wenn der erste Schnee fiel, war unverändert. Nur die gegenseitigen Schuldzuweisungen zwischen den einzelnen Verwaltungen, die jetzt mit schöner Regelmäßigkeit dem Winterchaos folgten, waren etwas Neues – in der DDR waren Fehlerdiskussionen nicht beliebt. Da wurde nur jedes Jahr der heldenhafte Kampf der Werktätigen gegen die Witterungsunbilden in den Medien bejubelt und im Notfall die NVA an die Winterfront geschickt. ‚Was ja auch nicht der schlechteste Einsatz für eine Armee war,’ dachte Jakubick.