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ОглавлениеRejzka summte vergnügt die alte sorbische Weise vom Mädchen, das zum Tanze ging, vor sich hin, als sie im vollen Mondlicht über die große Wiese lief. Der Weg schlängelte sich vom Hinterausgang des Schullandheims über eine große Wiese bis zum Schlossberg. So wurde der eisenzeitliche Burgwall genannt. In der Schule hatte sie in Heimatkunde gelernt, dass sich hier die größte Burganlage der Lausitzer Kultur befunden hatte. Die sollte auch den Namen für den Ort, nämlich Burg gegeben haben. In den Märchen, die Mutter ihr in sorbisch erzählte, war der Schlossberg der Wohnsitz des Wendenkönigs. Am Fuß des Schlossberges wohnten die Lutki, die Leutchen oder Menschlein. In den Sagen waren die Lutki meist freundlich und halfen den Bauern. Früher sollen sie sogar mit den Menschen zusammengewohnt haben. Dann hatte sie aber der Klang der Kirchenglocken unter die Erde vertrieben. Sie zeigten sich den Menschen nur noch selten. Vielleicht traf sie ja im Mondschein welche. Einem verliebten jungen Mädchen brachten sie bestimmt Glück. Mit den Händen streifte sie über die schlafenden Blütenköpfe von Schafgarbe und Johanniskraut, Frauenkräuter, wie die Mutter sie nannte. Sie fühlte sich jetzt so recht als Frau, die sie nach altem Brauch schon wäre, wenn auch das Gesetz der Meinung war, das es erst in einem Jahr soweit sei. Aber, was scherte sie das Gesetz in dieser herrlichen warmen Vollmondnacht, in der ihr Blut vom Frausein kündete. Das Herz klopfte stürmisch gegen die Rippen, wenn sie daran dachte, dass sie nun zu ihm ging, sich mit ihm treffen wollte, mit Axel, dem großen schlanken jungen Mann aus der Stadt. Zwei Wochen lang schon beschleunigte er ihren Herzschlag. Er war einer der Trainer und Gruppenleiter, beim Trainingslager Judo vom Polizeisportverein Dynamo Cottbus. Es war der letzte Durchgang dieser Sommerferien im Schullandheim Burg, in dem sie sich als Küchenhilfe etwas Geld verdiente, ehe in zwei Wochen ihre Lehrausbildung als Schneiderin in Berlin anfangen würde.
Seit Axel das erste mal am Ausgabefenster stand und sie ihm in die Augen gesehen hatte, ging er ihr nicht aus dem Kopf. Dreimal täglich stand er da an der Essenausgabe im Schullandheim und nahm die Teller und Tassen für seine Gruppe von ihr entgegen und stets war ihr dabei, als hätte sie ihm ihr Herz mit in die Hand gegeben. Er lächelte sie immer an und sie glaubte, dass auch er genauso fühlte wie sie. Wenn sie sich einmal im Gang oder auf dem Hof trafen, waren immer seine beiden Freunde Sven und Peter, die anderen Gruppenleiter, dabei und sie wagte kaum mehr als einen Gruß zu sprechen, aus Angst, die anderen könnten ihre Gefühle erraten. Die wollte sie vor niemanden Preis geben.
Die Mutter ahnte wohl etwas von ihrem Gefühlszustand. Sie hatte sie heute früh, als sie ihr schickes neues T-Shirt angezogen hatte, seltsam beunruhigt angesehen. „Machst dich ja so hübsch, Mila“, so nannte Mutter sie immer, „triffst du dich mit jemanden?“ Zu Hause wurde ganz selbstverständlich nur in der Muttersprache gesprochen, keiner der beiden Frauen wäre je etwas anderes in den Sinn gekommen, nur in der Öffentlichkeit, wenn Deutsche dabei waren oder auf dem Amt etwa, da sprachen sie natürlich deutsch. Bei der Mutter hörte man zuweilen in der Sprachmelodie und manchmal im Satzbau, dass es nicht die Muttersprache war.
„Nein, nein“ wehrte das Mädchen errötend ab, „heut ist doch Abschiedsabend für den letzten Feriendurchgang. Wir sind alle eingeladen, das ganze Personal. Und nach dem Abendabwasch schaffe ich es nicht noch mal nach Hause.“
Sie sah die drei jungen Männer auf den Stufen des Jugendturmes, oder genauer des Turmes der Jugend, wie der alte Bismarckturm offiziell seit 1951 hieß, im hellen Mondlicht schon vom Weg aus und war enttäuscht. Sie wollte sich mit Axel treffen, nicht mit allen dreien, aber die hingen ja immer zusammen wie die Kletten. ‚Hoffentlich schickt Axel sie bald fort,’ wünschte sich das Mädchen ‚oder wir gehen nur zu zweit im Mondschein spazieren. Es wär so schön, einfach mit ihm Arm in Arm durch die Wiese zu gehen.’ Als sie bei den Männern angekommen war, sah sie, dass neben der Bank ein Bierkasten stand, mit einigen geleerten Flaschen und drei großen Flaschen Cottbusser Korn, von denen eine auch schon fast leer war. Die drei Männer rochen auch kräftig nach Bier und dem „blauen Würger“, wie alle den Kornbrand von Melde nannten.
In Rejzka machte sich ein unangenehmes Gefühl breit, stieg aus dem Magen in die Brust und drängte alle Freude heraus.
Alkohol und Männer waren die Geißeln der Frauen, hatte die Großmutter gesagt, als die Mutter eines morgens weinend an der Waschschüssel stand und sich Blut aus dem Gesicht wusch. Der Herr habe den Männern diese Macht über die Frauen gegeben, wegen der Erbsünde Evas, und nun müssten die Frauen sich fügen. Damals war Rejzka erst zehn und verstand noch nicht genau, was die Großmutter damit meinte. Aber sie wußte, dass der Vater oft trank und dann grob und gemein wurde, die Mutter beschimpfte und schlug. Rejzka hatte sich dann immer versteckt und sich die Ohren zugehalten. Schon zwei Jahre später erfuhr sie wirklich, was Großmutter gemeint hatte, als sie sagte, die Männer seien die Geißeln der Frauen. Daran wollte sie jetzt nicht mehr denken. Es konnten ja nicht alle Männer so wie der Vater sein. Axel war da ganz anders. Er sprach sanft und ruhig und machte ihr Komplimente.
Axel stand von der Bank auf und kam ihr einige Schritte entgegen: „Komm, Kleine, lass uns ein Stück spazieren gehen. Die beiden sind gut versorgt und kommen ohne uns aus.“ Er legte fürsorglich den Arm um ihre schmalen Schultern und wandte noch einmal den Kopf zu seinen Freunden: „Ihr entschuldigt uns doch eine Weile?“ Sein Augenzwinkern und das süffisante Grinsen zu diesen mit großem Ernst gesprochenen Worten, konnte das Mädchen nicht sehen. So fasste sie wieder Vertrauen und kuschelte sich an seine Seite.
Eng aneinander geschmiegt gingen sie den Weg den Schlossberg hinunter. Er erzählte ihr, wie sehr er sie mochte, ihre Zurückhaltung schätzte. Dass sie nicht wie die Mädchen in der Stadt jedem Kerl schöne Augen machte. Er verglich ihre Schönheit mit den Wildblumen und zitierte einen Vers, den sie aus den Poesiealben ihrer Klassenkameradinnen in der sechsten Klasse kannte : „Sei wie das Veilchen im Moose, still, bescheiden und rein und nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein“. Sie wunderte sich, dass ein junger Mann etwas sagte, das ihrer Großmutter sehr gefallen hätte.
Als Axel meinte, nun genug Süßholz geraspelt zu haben, wurden seine Zärtlichkeiten drängender und er zog sie ins warme Gras. Rejzka wehrte sich halbherzig: „Nein, lass mich, ich will das nicht!“ Seine Zärtlichkeiten hatten ihr so gut getan, aber sie spürte seine Erregung und wollte nicht, was nun kommen sollte.
Axel hatte sie völlig in seiner Gewalt und trotz seiner in ihr Haar geflüsterten Beteuerung, er wolle ihr nicht weh tun und er würde sich vorsehen und ihr erstes mal sollte schön sein, ging er zielstrebig und grob mit ihr um. Aus seinem sehnsuchtsvollen Stöhnen, als er in sie drang, wurde ein frustrierter Aufschrei: “Du Schlampe, du wendisches Miststück, du hast dich wohl schon mit jedem Dorftrottel rumgesielt, na warte, ich zeige dir, was ein richtiger Mann ist, du kleine Fotze...“ Mit jedem seiner Worte stieß er hart und tief in sie, mit der linken Hand drückte er ihren Brustkorb fest auf die Erde und mit der rechten schlug er ihr hart ins Gesicht. Nach dem ersten entsetzten Aufschrei wimmerte sie nur noch leise: „Nein, nein, nein“. Blut lief ihr aus der Nase und aus den Mundwinkeln, dann wurde sie schlaff und still. Sie zog sich in ihr Innerstes zurück und nahm nicht mehr wahr, was ihrem Körper geschah. ‚Nein, nicht schon wieder, nicht mehr, nicht mehr, nicht mehr...’ waren ihre einzigen Gedanken.
Axel erhob sich und wischte seine blutverschmierte Hand angewidert an ihrem T-Shirt ab. Er sagte zu seinen Begleitern, die ihnen gefolgt waren: „Bedient euch, das Weib ist für alle zu haben, was soll man auch von so ’ner Dorfschlampe erwarten.“ Damit nahm er Peter die Schnapsflasche aus der Hand und trank gierig, während er sich an einen Baumstamm lehnte und mit schiefem Grinsen zusah, wie sich Peter auf das Mädchen legte. Sehr bald erhob Peter sich wieder und torkelte zu den Büschen, wo er sich würgend übergab.
‚Verträgt ja wirklich nichts, dieser Kerl. Der kommt nun aus Drebkau,’ grinste Axel in sich rein ‚von wegen Saufdrauke, wie die Drebkauer von ihrem Ort behaupteten.’ Inzwischen machte sich Sven, der auch schon ordentlich Schlagseite hatte, an dem Mädchen zu schaffen, das wie leblos im Gras lag und nur zuweilen stöhnte. „Scheint der zu gefallen,“ lallte Sven nach einem solchen schmerzhaften Aufstöhnen des Mädchens, „eh, komm Axel, wollen wir nen Dreier?“. Mit verkniffenem Mund und gierigem Blick auf das Paar stieß sich Axel vom Baum ab, nahm noch einen tiefen Zug aus der Flaschen und meinte: „Klar, zeigen wir der Nutte mal, wie’s richtig abgeht.“
Peter torkelte durch das Gebüsch zum Weg. Immer wieder schluckend und hicksend taumelte er zurück zum Schullandheim. Ihn trieb nur ein Gedanke: „Abhauen, weit weg“. Mit alldem wollte er nichts zu tun haben, das konnte nur Ärger geben.