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ОглавлениеMarja sah fassungslos auf ihre blutigen Hände, in denen sie das kleine schreiende Wesen hielt, ihre Enkeltochter, verschmiert und schrumplig, winzig war das kleine Wesen und doch so voller Lebenswillen. Hastig wickelte Marja das Neugeborene in warme Tücher und legte es in den ausgepolsterten Karton, der die Wiege ersetzen mußte. Sie wandte sich wieder ihrer Tochter zu, die bleich und wie ausgeleert in der großen Blutlache auf dem Bett in ihrem sicheren Versteck, in das sich Maria sonst immer vor ihrem betrunkenen Mann zurück zog, lag. Kaum merklich hob und senkte sich die Brust der jungen Frau. Erleichtert stöhnte Marja auf, Rejzka lebte, Gott sei Dank. Die Geburt hatte die beiden Frauen überrascht, es war zwei Monate zu früh, nach Marjas Berechnung.
‚Im Mai wäre der richtige Termin gewesen,’ dachte sie gerade noch, als ein Aufstöhnen von Rejzka alle anderen Gedanke vertrieb. Lange mühte sie sich, die Blutung zu stillen und die Tochter warm zu halten. Es war erst der 18. März 1990 und nachts noch empfindlich kühl. ‚Nur gut,’ dachte Marja ,dass heute alle damit beschäftigt sind, die Wahlergebnisse im Fernsehen abzuwarten. Keiner wird nach uns sehen.’
Jurij, ihr Mann saß bestimmt in der Kneipe und schwadronierte mit seinen Kumpanen, Jurk und Kollasche, von der Neuen Wendenpartei, zu deren Ortsvorsitzendem er sich gemacht hatte, über die neue Freiheit. ‚Und natürlich wird er wieder saufen,’ dachte Marja, aber das störte sie nicht mehr.
Als im letzten Sommer die Ausreisewelle begann die Wende einzuleiten, hatte er zusammen mit seiner neuesten Geliebten versucht Mitte August über Ungarn in den Westen zu kommen. An der österreichischen Grenze war das Pärchen aber zurückgewiesen worden. Nach seiner Rückkehr war er keine Nacht mehr zu Hause gewesen und hatte sich nicht weiter um Frau und Tochter oder den Hof gekümmert. Er kam nur noch kurz vorbei, wenn er etwas brauchte, Geld oder Eier. Inzwischen organisierte er seine politische Karriere in der Wendenpartei, die er im Januar mitgegründet hatte und die seinen Ehrgeiz, endlich groß raus zu kommen, befriedigen sollte. Er wollte weg vom Dorf, am besten als Abgeordneter ganz nach oben.
Diesmal hatte er keine Chance gehabt, in die Volkskammer zu kommen. Seine Partei war noch zu klein. Aber er war sicher, seine Zeit würde noch kommen. Bei der Karriere, die er vor Augen hatte, war kein Platz für die schüchterne abgearbeitete Maria. So mitten im Wahlkampf hatte er sich nicht scheiden lassen können, aber das hieß ja nicht, dass er sich noch mit ihr abgeben mußte oder mit seiner ebenso stillen Tochter Therese. Die Therese war nicht mehr Pappis süße kleine Prinzessin sondern eine zickige Jugendliche, die mit ihm sowieso nicht mehr sprach und die ihm schon seit zwei Jahren wo sie nur konnte aus dem Weg gegangen war, bis sie im September 89 nach Berlin zur Ausbildung gezogen war. Einmal hatte sie ihn noch im Februar angerufen, weil sie die Ausbildung als Schneiderin geschmissen hatte und in den Westen wollte, in einem Hotel arbeiten. Sie hatten sich angeschrieen, weil er kein Geld schicken wollte. Danach hatte er nie mehr was von ihr gehört und Maria, die dumme Pute, hatte zu ihrem verzogenen Gör, zu ihrer Rejzka, gehalten und sprach auch nicht mehr mit ihm. Aber das war ihm egal. Seit der Rückkehr aus Ungarn war er ganz zu seiner neuen Flamme, der Sekretärin vom LPG-Büro gezogen. Die Brigitte hatte ein ganz anderes Format, mit der konnte sich ein Mann auch öffentlich sehen lassen, dachte er. Sollten sich die beiden Muschack-Weiber doch um ihr Viehzeug und ihren Ziegenbock und den gottverdammten Hof kümmern, der interessierte ihn nicht mehr.
Jetzt wehte endlich ein anderer Wind, der Wind der Freiheit, jawohl. Und dieser Wind würde ihn, Jurij Muschack, tragen, erst an die Fraktionsspitze der Neuen Wendenpartei, die jetzt noch nicht in der Volkskammer vertreten war und dann vielleicht bis in die Regierung. Mit jedem Schnaps wurde die Zukunft großartiger und seine eigene Rolle bedeutender. Seine beiden Partei- und Saufgefährten ermutigten ihn durch ständiges Bestätigen seiner immer undeutlicher gelallten Prahlereien. Wenn er bei Laune war, bezahlte er schließlich alles und dass es aus der Parteikasse war, scherte sie überhaupt nicht. Hier in Burg waren sie drei die eigentliche Partei. Sie waren diejenigen, die sich für das Wohl der Wenden aufopferten und nicht diese SED-Speichellecker von der Domowina. Da konnten sie sich auf ihrer Wahlfeier der ersten freien Wahlen in der DDR, die nicht mehr von SED und den Blockflöten der Nationalen Front bestimmt wurden, auch was gönnen. Bei den nächsten Wahlen würden sie schon ganz anders da stehen.
Mit dem Parteivorsitzenden der Neuen Wendenpartei hatten sie eine Strategie für diese strahlende Zukunft entwickelt. Dr. Kito Balkow würde der Parteivorsitzende und Geschäftsführer des „Verlages für wendisches Schrifttum“, der als GmbH der Neuen Wendenpartei gehörte, bleiben. Jurij Muschack sollte Fraktionsführer der Abgeordneten der Neuen Wendenpartei im Parlament werden, wenn sie ihre Partei erst einmal richtig in Schwung gebracht haben würden und endlich die Vertretung der wendischen Minderheit durchgesetzt wäre. Sie wollten für die Wenden den selben Status erreichen, wie die dänische Minderheit in Schleswig-Holstein. Für Jurk und Kollasche würden sich dann auch nette Pöstchen finden. Leider konnten die beiden nicht besonders öffentlich in Erscheinung treten, dafür waren ihre Westen nicht weiß genug. Aber die beiden wussten so einige Sachen, die noch recht nützlich werden könnten, nebelten die Vorstellungen von künftigem Glanz durch Muschacks von Bier und Spreewaldbitter geflutetem Gehirn. Die würden sich noch alle wundern, alle und vor allem Maria, die olle Ziege, denn nun brauchte er auch deren Geld nicht mehr, nun nicht mehr. Bei diesem wohligen Gedanken fiel sein Kopf auf die Tischplatte. Jurk und Kollasche grinsten sich trunken zu, da würden sie ihren Parteichef nachher zu seiner üppigen Brigitte schleifen und die würde ihnen dafür ordentlich was in die Taschen stecken, richtiges Geld, nicht bloß das RGW-Spielgeld, das es nicht mehr lange geben wird. Der Dicke hatte versprochen, dass die D-Mark in den Osten kommen würde, noch in diesem Jahr, sonst hätte die CDU auch nicht die Wahlen gewinnen können. Darüber machten sich die Männer von der Neuen Wendenpartei die wenigsten Sorgen. Sie hatten mit ihren eigenen Parteisachen genug zu tun, was kümmerten sie da andere Parteien. Zumindest hatten sie sicher stellen können, dass das mit dem Geld alles geklappt hatte, und dafür konnten sie sich jetzt eben auch was davon gönnen.