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Werner Metag schaute versonnen aus dem Fenster seines Dienstzimmers auf die in weiß gehüllten Baumkronen des kleinen Parks am Bonnaskenplatz. Es war Mitte Dezember 2010 und die Lausitz war gleichmäßig schneebedeckt. ‚Vielleicht kriegen wir ja wirklich mal weiße Weihnachten’, dachte der Leiter der Kriminalpolizei beim Blick auf den anhaltenden sanften Schneefall. Selten genug kam das vor. Er erinnerte sich noch an seine Kindheit, als sie zum Kindergarten mit den Schlitten gebracht wurden. Erinnerte er sich wirklich noch an seinen Kindergarten, oder waren es Großmutters Erzählungen, die im Gedächtnis ihr Eigenleben führten? Metag wandte sich mit einem leisen Lächeln vom Fenster ab. Er hatte hier zu arbeiten und nicht in seiner Kindheitserinnerung zu schwelgen. Solche Abschweifungen kannte er als sicheres Zeichen, dass die vor ihm liegende Arbeit schlicht langweilig war. Statistiken erarbeiten oder kontrollieren, zählte weiß Gott nicht zu seinen bevorzugten Beschäftigungen. Heute allerdings hatte er sich die wenig geliebte Arbeit sogar mit einer gewissen Freude vorgenommen.

‚Ich muß nicht raus,’ dachte er ,mal ein angenehmer Aspekt der Leitertätigkeit.’ Als vor einer Stunde die Leitstelle den Anruf des Revierleiters aus Burg durchstellte, dass im Kaupen Nr. 19 eine tote Frau aufgefunden worden war, Tod durch Gewalteinwirkung, da mußte sein 13 Jahre jüngerer Stellvertreter und Leiter der Mordkommission Fred Bittner raus in die Winterwelt.

Die Kaupen in Burg, diese seltsamen Sandinseln im Gewirr der Spreewaldfließe, die gerade mal bis zu einem Meter über das umgebende Gelände reichen, hatte er noch aus einem alten Fall in Erinnerung. Die Kaupen waren von alters her isolierte Einzelgehöfte, von beachtlicher Größe aber schlechter Bodenqualität, zu denen erst seit dem letzten Jahrhundert Landwege führten, davor waren sie nur mit dem Kahn zu erreichen gewesen. Bevor die Talsperre in Spremberg seit Mitte der 1960er Jahre den Wasserlauf der Spree regulierte, standen die Kaupen mindestens einmal, aber in schlimmen Jahren auch mehrmals unter Wasser. Nur die Wohnhäuser, die immer an der höchsten Stelle gebaut waren blieben verschont und zuweilen nicht einmal die.

Selbst im Sommer war der Landweg zu den Kaupen ein Belastungstest für die Bandscheiben. Bei diesem Wetter wollte sich Bittner das nicht einmal genauer vorstellen. Ab der Ringchaussee war sicher nichts geräumt. In den Fahrrinnen, die sich dann auf den Wegen bildeten und die nachts überfroren, wurde man durchgeschüttelt, dass einem sämtliche Knochen weh taten.

‚Da soll sich mal die Jugend beweisen’, grinste er in sich hinein. ‚Wobei ja 35 Jahre nur im alten FDJ-Zentralrat als jugendlich galten,’ spann er den Gedanken weiter. Zu beweisen brauchte Fred Bittner sich und anderen bestimmt nichts, weder was seine fachlichen Fähigkeiten noch seine Persönlichkeit anbelangte, gab es jemanden, der ihm die Eignung für seinen Beruf absprechen würde. Lediglich mit seiner ziemlich aufbrausenden Art, wenn er das Gefühl hatte, dass man ihn nicht ernst nahm, kamen einige Kollegen und vor allem Vorgesetzte nicht gut zurecht. Bei den Verwaltungsleuten von der Direktion im Polizeischutzbereich Cottbus bis hoch ins Landesministerium galt er darüber hinaus als überheblich. ‚Was von mir ja auch manche dieser Sesselfurzer denken’, beendete Werner Metag die nächste Abschweifung von der Statistik.

Mit diesem ganzen Verwaltungskram tat er sich auch nach zwanzig Jahren als Leiter der Kriminalpolizei in Cottbus schwer.

Er hatte gerade die Vorlage „Grenzüberschreitende Kriminalitätsentwicklung im Vergleich zum Vorjahr“ auf dem neuesten Stand hinter sich gebracht, als sein privates Handy quiekte. Der Klingelton, der an Schwein beim Schlachten erinnerte, war ihm von seinem Sohn in dessen letzten Heimaturlaub eingestellt worden. Werner zuckte jedes mal zusammen, wenn es aus seiner Tasche quiekte. Da seine Privatnummer nur sehr wenige kannten, passierte es nicht allzu oft und erst recht nicht während der Dienstzeit. Wieder nahm er sich vor, diesen unmöglichen Klingelton auszuschalten und wußte im selben Moment, daß er es wieder vergessen würde.

Das Display zeigte einen Anruf von Fred. Das war ungewöhnlich. Üblicher Weise benutzten sie im Dienst nur die Diensthandys. Wenige wussten überhaupt, dass Metag und sein Stellvertreter auch Freunde waren. Im Dienst verhielten sie sich kollegial wie alle anderen und waren wie alle Männer bei der Kriminalpolizei der Direktion Süd beim Du. Lediglich den Frauen gegenüber gestattete Metag sich keine Vertraulichkeiten und auch kein kollegiales Du. Bittner war da unbekümmerter und duzte alle, auch mal ganz hohe Vorgesetzte, die vor allem, wenn er in Rage war.

Jetzt klang Bittners Stimme sehr gepresst, als er kurz und abgehackt sagte: „Werner, du musst her kommen, sofort. Der Rettungshubschrauber nimmt dich mit, ich hab das geklärt. Sonst kommt hier keiner mehr durch.“ Damit hatte er schon abgeschaltet. Metag runzelte die Stirn. Das war mehr als ungewöhnlich. Er mummelte sich mit allen warmen Sachen ein, die er vorfand.

Seine Lederstiefel und irgendwelche Reservesachen hatte er immer im Dienstzimmer. Er hatte sich schon manchmal seine Kleidung mit Blut oder Erbrochenem verdreckt, wenn er mit im operativen Einsatz war.

Im Dezember 1990 war er vom Leiter der Mordkommission Cottbus zum Leiter der gesamten Kriminalpolizei im Bezirk Cottbus berufen worden, da sein Vorgänger wegen zu großer Aktivitäten als Mitglied der SED nicht mehr tragbar erschien. In der Wendezeit hatte der Runde Tisch im Bezirk Cottbus durchgesetzt, dass alle Führungskräfte, die aktiv in der SED gewirkt hatten von ihren Funktionen entbunden werden mußten. Metag, der als Sorbe in der Domowina organisiert und dadurch nicht Mitglied der SED und somit politisch unbelastet war, galt für diesen Posten als Glücksfall. Dadurch kam es allerdings nicht mehr so oft vor, dass er zu operativen Einsätzen nach einer Meldung raus mußte. Es mußten schon außergewöhnliche Situationen sein, die seinen direkten Einsatz an einem Tatort erforderten oder es waren, wie derzeit durch den Wintereinbruch, schlicht zuwenig Leute verfügbar.

Bei dem Gedanken an den Wintereinbruch mußte Werner schmunzeln, er hatte schon manchmal gelästert, welch Glück sie als Kriminalpolizei doch hatten, dass noch keiner auf die Idee gekommen sei, den Wintereinbruch wörtlich zu nehmen und deshalb bei ihnen Anzeige zu erstatten, wo doch alle nach Schuldigen für die damit verbundenen Pannen suchten.

Kaltes Fließ

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