Читать книгу Algarveflimmern - Birte Pröttel - Страница 10
6 Von Blitzen und Küssen oder Lächle und sei froh, es kann schlimmer kommen
ОглавлениеWie alle meine Freundinnen schleppe ich immer meinen riesigen Stoffbeutel mit mir rum. Da ist alles drin, was ich bin. Ohne den Beutel verlasse ich nie das Haus. Nie ohne Handy, mein Samsung Tablet und das schwarze Notizbuch: „Für Nachtgedanken!“ hatte Papa gesagt, als er mir das Büchlein schenkte. Ich schreibe niemals nachts, da schlaf ich wie ein Murmeltier. Senile Bettflucht heb ich für später auf. In dieses schwarze Büchlein kommen kleine Gedankensplitter und kurze Gedichte oder Aphorismen. Wann immer mir etwas auf- oder einfällt, kritzele ich es auf die rauen Seiten des Werkdruckpapiers.
Moritz ist furchtbar neugierig und er versucht immer einen Blick ins Buch zu erhaschen. Er denkt, es gibt für mich kein anderes Thema als nur immer Moritz! Manchmal sind männliche Wesen sehr auf sich beschränkt, zumindest die, die ich kenne. Als wenn es nicht auch noch andere Themen als „Moritz“ gäbe! Ich hatte ihm bei Todesstrafe verboten, in dem Buch zu schnüffeln. Entsprechend verschnürte ich es mit einem komplizierten Makramee Knoten. Keiner würde es nach dem Öffnen wieder hinkriegen, dass ich nichts merkte. Nur, außer Moritz interessierte sich sowieso keiner für meine Ergüsse. Wenn ich gut drauf war und Moritz total süß fand, las ich ihm auch mal daraus vor.
Er verstand nicht alles oder sogar meistens gar nichts. Es machte ihn glücklich, wenn ich ihn ins Vertrauen zog. Wir waren ja noch nicht wirklich lange ein Paar. Wir trafen uns in unserer Clique auf dem Tennisplatz und flirteten mit den Augen. Er hatte eine Tussi. Und ich konnte mit all den Testosteron gesteuerten Typen nicht viel anfangen. Zu unsensibel, zu selbstbesoffen, zu unaufmerksam und zu uninteressiert. Nicht an mir, sondern an allem. In dieser Schublade steckte Moritz auch.
Dann passierte es bei einem Gewitter in dem Häuschen an unserer Bushaltestelle. Dieses gläserne Ungetüm verdiente den Namen Schutzhütte nicht. Wir wurden beide klatschnass und kalt. Moritz, zog mich näher zu sich, legte seine Jacke um mich. Ein warmer Duft von Leder und Mann kitzelte meine 30 Millionen Duft-Rezeptoren.
„Komm ich wärme dich!“ dabei klapperten seine Zähne noch mehr als meine. Er schob seine Hand auf meinen Rücken, sie war eiskalt und ich ließ einen kleinen Schrei los. Er hielt mir mit der anderen Hand den Mund zu und zog mich näher an sich: „He, stellt dich nicht an, wir müssen uns gegenseitig wärmen. Der nächste Bus kommt erst in zwanzig Minuten.“
Den nächsten Bus haben wir verpasst. Unsere Küsse hatten die Wirkung von Heizöfchen oder sogar offenen Feuerstellen! Man sollte im Winter viel mehr küssen! Das Knutschen heizte ein und wir dampften in der Kälte wie Thermalquellen. Der Regen rann in Sturzbächen an der Glaswand des Bushäuschens runter. Es roch nach Moder und verfaulten Bananenschalen im Papierkorb. Aus unsren Schuhen triefte das Wasser wie Softeis von der Eistüte.
Blitze und Donnerschläge am Himmel, Blitze und Entladungen bei uns! Es knisterte und funkte gewaltig! Die Blitze am Himmel konnten kaum mit unseren mithalten! Irgendwie merkten wir davon nichts. Je mehr es krachte und donnerte, umso mehr explodierten unsere Gefühle. Aber bei allem Begehren war er so zärtlich, streichelte meine Seele mehr als ich es je erfahren hatte. Ich brannte lichterloh!
Eigentlich ist Moritz zu alt für mich, immerhin fünf Jahre älter. Er wirkt aber nicht irgendwie überlegen und keineswegs besserwisserisch, wie die anderen im Klub, die schon über zwanzig sind. Mir gefällt, dass er immer gute Laune versprüht, lächelt und sich durch nichts aus der Ruhe bringen lässt. Manchmal tut er gelangweilt, weil das cool und überlegen wirkt. Aber vielleicht ist ihm das nicht bewusst und er ist einfach so. Die meisten Mädchen himmelten ihn an. Er ist die Lässigkeit in Person.
Aber dieser erste Kuss in der Bushaltestelle, im Regen: einfach berauschend! Moritz war nicht mehr so lässig, jedenfalls nicht bei mir. Er war zart, ein wenig gehemmt und dann doch wieder temperamentvoll und einfach unbeschreiblich.
Von da an trafen wir uns, so oft es ging. Selten noch mit der gesamten Clique. Und Wochen später lungerte Moritz mehr bei uns zu Hause rum, als bei seiner eigenen Mutter. Es machte ihm nichts aus, wenn ich nicht dort war. Dann trank er mit Mama Kaffee und plauderte mit ihr. Das gefiel beiden mehr als mir manchmal lieb war. Es erinnerte mich an dem Song von Simon und Garfunkel „Missis Robinson“. Moritz hatte die Reifeprüfung allerdings längst hinter sich.
Mama wirkt auf Männer ungemein anziehend. Sie hat Eigenschaften, die mir völlig abgehen. Sie schweigt vielsagend und hört aufmerksam zu. Sie schaut ihrem jeweiligen Gegenüber voll in die Augen, als wäre er das außergewöhnlichste Exemplar Mensch, das sie je getroffen hat. Sie gibt nicht immer und überall ihren Senf dazu. Sie erinnert sich genau, was jemand sich wünscht, wie er denkt, wie er sich fühlt. Und manchmal reagiert sie darauf auch sehr mitfühlend und freundlich. Bei mir leider nicht, ich bin ja „nur“ ihre Tochter. Bei mir will sie ihren „Erziehungsauftrag“ erfüllen. Überhaupt bin ich ihr Werk!
Glaubt sie!
Irgendwie ist ein achtzehnter Geburtstag anders als ein sechzehnter oder neunzehnter. Man hat die Lizenz, erwachsen zu sein. Man darf wählen, man darf seinen Wohnort selbst bestimmen und natürlich, den Führerschein machen. Ich hatte ihn schon und durfte gleich, wenn wir wieder zu Hause sind, allein Auto fahren. Mein Traum war ein kleiner dottergelben Smart! Oder ein Hybrid DS 3 in Ferrari Rot! Das wäre mega cool. Keiner in meiner Klasse hat das! Das war mein geheimer Geburtstagswunsch, den ich regelmäßig und gar nicht geheim von mir gab. Mal sehen, ob Papa verstanden und Mama nicht die Handbremse gezogen hat.
Moritz reiste per Interrail Richtung iberische Halbinsel. Zum Abschied gab ich ihm ein kleines rotes Papierherz, das man zu einem Kleeblatt auseinanderfalten konnte.
„Nicht aufmachen, bevor nicht mindestens hundert Kilometer zwischen uns liegen!“
„Ist das explosiv?“
„Wer weiß?“ lächelte ich, „Ich hab jetzt schon Sehnsucht!“
In Bilbao, als er das Museum of Modern Art fotografiert hatte, setzte sich unter die Palmen am Ufer auf eine niedrige Bank. Dann holte er das kleine Herz aus seinem Filo Fax.
denk zurück,
zurück ans schierlingschloss.
ich höre dich
denk du, denk ich.
du kommst ja wieder
kehrst zu mir zurück
drum tut der abschied
nicht weh.
in jedem abschied
liegt ein stück vom glück
du kommst zurück,
zurück,
zurück.
Moritz wollte nicht nachdenken, was da stand. Damals war er noch voll verknallt in mich. Warum hatte ich eigentlich diesen Schwachsinn mit dem Schierlingsschloss da reingeschrieben? War das spätpubertärer Quatsch oder wollte ich ihn da schon vergiften? Gedichtinterpretationen waren Moritz ein Gräuel. Aber du kannst einem verliebten Kerl alles vorsetzen, was du willst. Er frisst alles, zur Not auch ein Schierlingsschloss. Moritz durchflutete eine heiße Welle Liebe und Sehnsucht. Sehnsucht nach mir, seiner „kleinen“ Olivia. Er zog sein Handy aus der Tasche und simste mir einen langen Liebesbrief bis das Handy keinen Saft mehr hatte. Leider hatte ich mein Ladegerät im Koffer und ich konnte seine Message erst viel später lesen.