Читать книгу Wenn die Tage ihre Farbe verlieren - Band 2 - Bodo Gölnitz - Страница 5
Kapitel 45: Bastian
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Nach vier Wochen war ich endlich wieder zuhause. Aber meiner Arbeit in der Firma konnte ich noch immer nicht nachgehen. Sechs weitere Wochen wurde ich anschließend krankgeschrieben.
Bei den Mahlzeiten saß ich nun ganz vorsichtig auf dem vorderen Drittel des Stuhls. Es stellte jedoch mittlerweile kein großes Problem mehr dar. Reine Gewohnheitssache. Und Autofahren war natürlich auch tabu. Doch es ging mir so gut wie schon lange nicht mehr. Absolut keine Schmerzen. Und Ina hatte vorsorglich neue Matratzen gekauft.
Ihre Babykugel hatte nun auch schon enorme Ausmaße angenommen. Zwar fielen ihr jetzt manche Tätigkeiten schwerer, aber ihr ging es ansonsten blendend. Demnächst sollte sie auch in den Mutterschutz gehen.
Das einzige Problemchen war, dass das Baby immer noch verkehrt herum lag. Manchmal, wenn Sie beim Frauenarzt war, stellte er fest, dass das Kind sich in die richtige Lage gedreht hatte. Nach einigen Tagen war es jedoch wieder in der Steißlage. Ihr schien es aber offensichtlich nichts mehr auszumachen. Sie war agil wie immer.
Wenn sie mit dem Hund unterwegs war, nahm sie oft noch das Fahrrad. Eine Nachbarin sagte immer besorgt: »Ina, Du solltest in Deinem Zustand nicht mehr Fahrrad fahren.«
Ina jedoch kümmerte sich nicht darum. Aber beim nächsten Arzttermin fragte sie dann doch nach, bis zu welchem Zeitpunkt sie denn noch radeln dürfte. Der Arzt schmunzelte und sagte: »Wenn sich die Nabelschnur in die Speichen wickelt, sollten Sie damit aufhören.«
Wie gesagt, Ina steckte die Beschwerlichkeiten der Schwangerschaft gut weg. Ihre Hosen hatte sie im Bauchbereich erweitert, indem sie Teile herausschnitt und größere Stoffdreiecke einnähte. Neue BHs hatte sie sich zulegen müssen, denn auch die Brüste hatten an Größe zugenommen.
»Kein schlechter Nebeneffekt.« Ich lachte und Ina tippte sich an die Stirn: »Männer!!«
Einige Wochen waren wir gemeinsam regelmäßig zur Schwangerschaftsgymnastik gegangen. Ich hatte das Wickeln gelernt und was man sonst noch als werdender Vater beherrschen sollte. Auf den Knien, wie andere junge Väter auch, war ich hinter meiner Frau gesessen. Hatte sie gestützt und gesagt: »Pressen Ina, schön pressen. Ruhig atmen!»
Eigentlich waren diese Abende recht lustig gewesen. Und manchmal lachten unsere Frauen darüber, wie schusselig wir Männer uns manchmal anstellten.
Das Kinderzimmer, gegenüber von unserem Schlafzimmer, war auch fertig. Aber noch mussten wir uns in Geduld üben. Doch im Großen und Ganzen fühlten wir uns fit für die Elternschaft.
Der April beglückte uns nun bereits mit ein paar sonnigen Tagen. Lange konnte es jetzt nicht mehr dauern.
Der Mai kam und wir warteten. Doch unser Familienzuwachs ließ sich Zeit. Nun war Ina bereits über den errechneten Geburtstermin hinaus. Das Baby boxte in kürzeren Abständen, lag jedoch noch immer verkehrt. »Langsam glaub ich nicht mehr daran, dass es sich noch drehen wird«, sagte Ina etwas enttäuscht.
Dann, mitten in der Nacht weckte Ina mich plötzlich. »Bodo, ich glaub es geht los! Mein Bettlaken ist nass!«
Im selben Moment war ich hellwach! Ich sprang aus dem Bett. Völlig planlos. Sollte ich zuerst in meine Jeans schlüpfen? Nein, vielleicht zuerst Inas bereits gepackte Reisetasche holen. Oder doch zuerst schnell im Krankenhaus anrufen? In meinem Kopf herrschte Chaos pur!
»Was soll ich nur zuerst machen?« Ich sah Ina fragend an.
»Am Besten ganz ruhig bleiben«, sagte Ina völlig cool und entspannt, während sie sich anzog. »Das Baby kommt nie sofort. Du hast also genug Zeit.« Trotzdem war ich völlig flatterig.
Ganz behutsam half ich Ina ins Auto und fuhr los. Es war mitten in der Nacht - dunkel und die Straßen menschenleer. Niemand war unterwegs zu sehen. Rendsburg schlief.
Endlich waren wir im Krankenhaus. Wir marschierten schnurstracks zur Entbindungsstation. Die Schwester brachte uns in ein Zimmer und Ina legte sich ins Bett. Kurz darauf betrat die Hebamme den Raum. Auf einem Fragebogen wurde alles Relevante notiert. Für welches Datum war der Stichtag der Geburt errechnet worden? Wann waren die letzten Wehen? Wann hatten Sie Ihre Masern? Und so weiter. Ich saß währenddessen auf einem Stuhl daneben und meine Nerven rotierten. Warum fragte mich die Hebamme nicht, wie es MIR ging?
Ein Arzt kam dazu. Es würde alles für den Kaiserschnitt vorbereitet werden, denn das Baby weigerte sich beharrlich, die richtige Lage für eine normale Geburt einzunehmen. Ina tat mir unsäglich leid. Doch sie war relativ locker. Ich meinte sogar wieder dieses Glänzen in ihren Augen gesehen zu haben.
Es wird unter Umständen noch etwas dauern, hatte der Arzt zu uns gesagt. Ich jedenfalls hatte mein Zeitgefühl völlig verloren.
Ich blickte aus dem Fenster. Draußen wurde es langsam heller.
»Geh ruhig eine rauchen«, bemerkte Ina, »Und beruhige Dich. Du bist ja völlig von der Rolle!« Sie lachte. »Es dauert noch etwas, bis es losgeht.«
Wie konnte Ina bloß so entspannt sein, fragte ich mich. Denn die Abstände der Wehen waren nun immer kürzer geworden.
Ich hastete vor die Tür der Klinik, rauchte meine Zigarette in schnellen Zügen. Dann beeilte ich mich, schnell wieder zu Ina zu kommen.
Gegen 09:00 Uhr wurde sie in den OP geschoben.
»Sie können nicht mitkommen. Bitte warten Sie hier«, sagte die Hebamme zu mir.
Ich hatte absolut keine Einwände. Darauf war ich nun wirklich nicht scharf.
Von irgendwoher hörte ich Babygeschrei. Das würde auch bei uns demnächst zum Alltag gehören, dachte ich.
Sekunden später ging die Tür auf. Eine Schwester, mit einem kleinen weißen Bündel im Arm, betrat das Zimmer. »Herzlichen Glückwunsch, es ist ein Junge«, lächelte sie und legte mir dieses kleine schreiende Etwas in die Armbeuge.
»So schnell? Meine Frau ist doch gerade erst aus dem Zimmer geschoben worden. Ist das denn wirklich unser Kind?« Ich konnte es kaum glauben. »Wie geht es ihr?«
»Sie hat den Kaiserschnitt gut überstanden. Etwas müde ist sie jetzt, aber Sie können bald zu ihr«, sagte sie und verließ das Zimmer.
Da saß ich nun mit meinem kleinen Sohn im Arm. Ganz allein. Scheiße, ich war so unglaublich glücklich! Das musste irgendwie ein Traum sein. Der Knirps plärrte und ich wusste, dass ich mich in der Wirklichkeit befand. Zum Schreien hatte er ja auch allen Grund. Raus aus dem warmen Mama-Bauch in diese chaotische Welt. Rein in die Armbeuge eines völlig abgedrehten Kerls, der ganz heiß darauf war »Papa« genannt zu werden.
»Bastian! Ich bin’s. Dein Papa«, sagte ich leise und küsste ganz zart die Stirn meines Stammhalters. Dann sang ich fast flüsternd das Lied, welches ich oft mit dem Kopf auf Inas Bauch gesungen hatte: »La Le Lu …»
Sofort hörte Bastian auf zu schreien. Ganz ruhig war er auf einmal. Als wenn er sagen wollte: »Das kenn ich doch. Das hab ich doch schon mal gehört.«
Eine kleine Träne lief aus meinem Augenwinkel.
So saß ich am 13. Mai 1989 um 09:09 Uhr, mit meinem neugeborenen Sohn in einem Zimmer des Rendsburger Krankenhauses - und schwebte auf Wolken. Und obwohl ich einmal zu Ina gesagt hatte, dass Neugeborene überhaupt nicht süß seien mit ihrer zerknautschten aufgeweichten Haut, lag nun das allerhübscheste Baby in meinem Arm.
»Hast Deine Mama aber lange warten lassen«, flüsterte ich.
Einige Zeit verging, bis die Hebamme kam und mir mitteilte, dass ich jetzt zu der frischgebackenen Mama könnte.
Ina lag in einem Krankenbett und konnte die Augen kaum aufhalten. Behutsam legte ich ihr unseren Sohn in den Arm. Ich gab ihr einen Kuss. »Du bist die tollste Frau der Welt. Ich liebe Dich so sehr!«
Ich streichelte ihre Wange »Ist das nicht ein Prachtkerl?«
Doch ich merkte, dass sie das alles nicht so richtig mitbekam. Die Narkose steckte ihr scheinbar noch tief in den Knochen.
»Am Besten Sie gehen jetzt erst einmal nach Hause. Ihre Frau braucht jetzt Ruhe.« Die Hebamme begleitete mich aus dem Kreißsaal. »Heute Nachmittag können Sie Ihre Frau besuchen. Dann wird sie wach sein.«
Auf der Fahrt nach Hause bekam ich von der Wegstrecke nichts mit. Wieder saß ich auf Wolke 7 - sie schien nur für mich reserviert zu sein! Am liebsten hätte ich an jeder Haustür angehalten, geklingelt und jedem mitgeteilt: »Seht her, ich bin Papa!!«
Obwohl ich die vergangene Nacht kaum geschlafen hatte, war ich immer noch hellwach. Bis zur Halskrause vollgepumpt mit meinem Adrenalin! Ich war völlig überdreht und versuchte mich irgendwie zu beschäftigen, um wieder klar denken zu können. Als Erstes rief ich Mutti, meine Schwiegereltern und Axel an. Dann - Betten machen, Staub saugen, Abwaschen. Doch was ich auch machte, meine Gedanken kreisten nur um Ina und den kleinen Bastian.
Nora musste ja auch noch Gassi geführt werden. Ich hatte sie bei meiner Ankunft nur kurz pinkeln gelassen und gefüttert. Den armen Hund hatte ich fast vergessen. Also Leine vom Haken und los.
Unterwegs traf ich Lisbeth aus der Nachbarschaft. »Lisbeth, Ina hat entbunden«, strahlte ich.
Sie drückte mich. »Das freut mich für Euch. Was ist es denn?«
»Ein Junge!«, antwortete ich voller Stolz. »Ich fahr nachher gleich wieder hin.«
Was für ein herrlicher Tag! Die Frühlingssonne strahlte vom Himmel. Und plötzlich dachte ich wieder an meinen verstorbenen Vater. Und in Gedanken hielt ich ein Zwiegespräch mit ihm. »Warum kannst Du das nicht mehr erleben. Ich hätte Dir so gern meinen kleinen Sohn gezeigt. Wenn er etwas größer ist, werde ich ihm von Dir erzählen. Vati, Du fehlst mir so!«
Wieder zuhause spürte ich jetzt doch einen Anflug von Müdigkeit. Bevor ich wieder zu Ina ins Krankenhaus fuhr, würde ich mich etwas hinlegen müssen. Und um nicht den Nachmittag zu verschlafen, stellte ich den Wecker auf den Wohnzimmertisch. Dann legte ich mich auf die Couch.
Rrrriiing!! Der Wecker holte mich in die Gegenwart zurück. Ich rieb mir die Augen und schaute auf meine Uhr. Nora lag vor dem Sofa und döste friedlich. Etwas Zeit war ja noch. Ich beschloss unter die Dusche zu gehen. Anschließend würde ich mich auf den Weg machen.
Doch bevor ich ins Badezimmer ging, öffnete ich noch kurz die Tür zum Kinderzimmer. Hier würde bald mein kleiner Fratz in seinem Bettchen liegen. Alles war für seine Ankunft vorbereitet. Ich stellte die Spieluhr an, die über dem Kinderbettchen baumelte. Ein kleines Glockenspiel ertönte: »Der Mond ist aufgegangen. Die kleinen Sterne prangen, am Himmel hell und klar … «
Schade, dass es noch eine Woche dauern wird, kam mir in den Sinn. Doch in der Zwischenzeit, so oft es möglich wäre, würde ich meine beiden im Krankenhaus besuchen.
**********
Auf dem Weg zur Klinik fuhr ich noch schnell zu einem Floristen und besorgte für Ina einen großen Blumenstrauß. Wahrscheinlich würde sie schon auf mich warten.
Immer noch aufgeregt betrat ich endlich die Entbindungsstation.
Ich öffnete vorsichtig die Tür zum Zimmer. Ina lag munter in ihrem Bett und hatte Bastian auf dem Arm. Sie strahlte mich an.
»Wie geht’s Dir«, fragte sie lächelnd.
»Das wollte ich DICH fragen. Ich fühl mich einfach großartig!«, antwortete ich. »Ganz liebe Grüße von den Nachbarn.«
»Mir geht’s auch gut«, sagte Ina. »Mama und Papa waren bereits da. Sie sind vor einigen Minuten gegangen.«
Ina und Bastian gaben ein tolles Bild ab. Mein Sohn hatte allerdings die Augen geschlossen und schlief.
»Und? Was sagst Du zu unserem Sohn. Ist er nicht süß? Er ist gerade eingeschlafen.« Ina blickte liebevoll auf Bastian.
»Ich finde er ist - zuckersüß!«, sagte ich.
»Ach? Und ich dachte Du findest alle Neugeborenen hässlich«, grinste Ina.
»Stimmt. Aber unser Baby ist eben `ne Ausnahme. Mit Liebe gemacht!«, sagte ich augenzwinkernd.
»Nur stur ist er. Genau wie sein Vater. Er will einfach nicht an die Brust. Die Schwester musste mir helfen, bis er endlich gesaugt hat«, bemerkte Ina. Ich lachte und sagte: »Männer lernen aber doch ganz schnell, mit den Dingern umzugehen.«
Wieder sagte Ina: »Männer!!«
»Dabei hab ich so einen starken Milcheinschuss, das tut richtig weh.« Ina zeigte mir ihre Brust. Und ich stellte fest, dass sie noch mehr an Volumen zugenommen hatte.
Ich sah nochmal in das kleine entspannte Gesicht des Winzlings. Am liebsten hätte ich ihn hochgehoben und an mein Herz gedrückt.
Ina ahnte wohl meine Gedanken. »Ja, es ist schade, dass er gerade jetzt schläft. Aber vielleicht wird er ja bald wieder wach.«
Jetzt bemerkte ich, dass ich immer noch die Blumen in der Hand hielt. »Oh«, sagte ich, »die sind für Dich.«
»Ein wunderschöner Strauß. Danke mein Schatz. Geh am besten zum Stationszimmer und frag nach, ob die dort eine große Vase haben. Die verdursten sonst noch.«
Ich saß bestimmt schon eine Stunde an Inas Bett, als Bastian die Äuglein öffnete. Er wimmerte kurz und Ina knöpfte sofort ihr Nachthemd auf. Tatsächlich fing der Kleine zu suchen an. Ina führte das winzige Köpfchen zu ihrer Brustwarze und er nuckelte etwas.
»Siehst Du«, Ina blickte mich an. »Das muss er noch lernen. So richtig kann er noch nichts damit anzufangen.« Nochmals führte sie den kleinen Kopf. Und diesmal saugte Söhnchen etwas länger.
Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Mich durchströmte wieder diese merkwürdige Wärme und ich empfand etwas sehr Tiefes für beide. Ich war unsagbar stolz! Mein Leben hätte ich für diesen kleinen Wurm gegeben. »Ist das nicht seltsam«, dachte ich bei mir. »Da kenn ich diesen Winzling gerade mal ein paar Stunden - und ich würde alles für ihn tun.«
Endlich konnte ich jetzt meinen Sohn auf den Arm nehmen. Aber er war vom Trinken wieder völlig geschafft und seine Augen fielen vor Erschöpfung zu. Ich küsste sein kleines pausbäckiges Gesicht.
Wie gut er roch. Und diese winzigen Fäustchen.
Eine Schwester betrat das Zimmer. »Wollen Sie Ihren Sohn in sein Bett bringen? Ich denke, dass er jetzt etwas länger schlafen wird.«
Ina stieg vorsichtig aus ihrem Bett und ich legte ihr unseren Bastian in den Arm.
»Du kannst schon aufstehen?«, fragte ich verwundert.
»Natürlich. Und schau mal, wie schlank ich wieder bin.«
Tja, von einem dicken Bauch war jetzt nichts mehr zu sehen.
Wir gingen gemeinsam zu dem Zimmer, in dem die Bettchen der Neugeborenen standen. Ich wartete vor der Tür und konnte durch die Glasscheiben zusehen, wie Ina unseren Bastian in ein kleines rollbares Bett legte und zudeckte.
Es wurde jetzt Zeit für mich nach Hause zu fahren. Das Abendbrot sollte ausgegeben werden und Ina bräuchte sicherlich auch etwas Ruhe. Sie begleitete mich noch zum Fahrstuhl.
»Heute Abend kommen Axel und einige Nachbarn vorbei. Wir werden auf Euch beide anstoßen«, sagte ich und gab ihr einen Abschiedskuss. »Bis Morgen.«
»Ja bis Morgen. Ich liebe Dich.« Die Fahrstuhlstür schloss sich.
Auf dem Rückweg machte ich noch einen Zwischenstopp an einem Supermarkt und besorgte Getränke für den Abend.
Irgendwie war das komisch. Ich war bereits 34 Jahre alt, … aber zum ersten Mal fühlte ich mich richtig erwachsen.
**********
Eine Woche später war es soweit. Ich durfte meine Familie nach Hause holen. Alles war so neu und aufregend. Nun war Bastian der Mittelpunkt unseres Daseins. Die Beziehung zwischen Ina und mir war immer noch toll. Nur eben anders. Vorher waren wir aufeinander fixiert. Und jetzt fixierten wir uns auf unseren kleinen Sohn, stellten uns selbst in die zweite Reihe. Wie hatte Ina doch einmal gesagt: »Erst mit einem Kind sind wir eine richtige Familie.« Wie recht sie doch hatte.
Wenn ich auf der Arbeit war, freute ich mich morgens bereits darauf, am Abend nach Hause zu kommen. Dann erwartete Ina mich mit Bastian auf dem Arm. Und jeden Tag entdeckten wir Neues an dem Kleinen. Mir machte es sogar Spaß die vollgekackten Windeln zu wechseln. Ina stand dann dabei und achtete darauf, dass ich auch alles richtig machte. Wenn ich ihn anschließend eingecremt hatte, fand ich es wunderschön, meine Nase an Bastians weichem runden Babybauch zu reiben. Ihm schien es auch zu gefallen, er gluckste dann immer.
Wie gut so eine Babyhaut duftet! Ich küsste die knuddeligen Babyfüße und die Händchen, die langsam anfingen, sich zu bewegen. Händchen, die irgendwann versuchen würden, nach Dingen zu greifen. Ich freute mich über das erste Lachen, den suchenden Blickkontakt der kleinen klaren Äuglein nach der Mama oder dem Papa. Kleinigkeiten, die Eltern so unsagbar glücklich machen.
Aber mir war auch bewusst, welchen Anstrengungen und Belastungen Ina ausgesetzt war. Alle zwei Stunden - man konnte praktisch die Uhr danach stellen - stand unserem Knirps der Sinn nach Mamas Brust. Er wachte dann auf, krakeelte rum und gab erst Ruhe, wenn er den Nippel gefunden hatte. Anschließend war er so abgefüllt, dass er gleich wieder einschlief.
So ging es dann die erste Zeit auch jede Nacht. Dabei konnte ich ihr leider keine große Hilfe sein, denn meine Nippel waren zur Fütterung nicht geeignet. Zudem hatte ich einen ziemlich festen Schlaf.
Die ersten Wochen schlief unser Sohn noch in einer kleinen Wiege, bei uns im Schlafzimmer. Wenn das Babyschreien mich dann weckte, hatte Ina ihn bereits aus der Wiege gehoben und angelegt. Manchmal kam es mir vor, als wenn sie nur mit einem geschlossenen Auge schlief. Das musste das »Mutter-Gen« sein. Und dieses Gen war wohl dafür verantwortlich, dass es ihr scheinbar nichts ausmachte, selbst nachts nie richtig zur Ruhe zu kommen.
Auch die Routine, die Art und Weise, wie sie mit Bastian umging und ihn umsorgte, erweckte bei mir den Eindruck, als hätte sie ihr ganzes Leben nichts anderes gemacht. Sie ging in ihrer Mutterrolle vollends auf.
Am Wochenende unternahmen wir mit Kinderwagen und Hund lange Spaziergänge. Im Fernsehen lief zu der Zeit die Werbung eines bekannten Margarineherstellers. In den Spots war ebenfalls grundsätzlich wunderschönes sonniges Wetter. Und eine junge Familie (Vater, Mutter, Kind, Hund) tollte über grüne Wiesen. Anschließend saßen alle am Frühstückstisch, hatten fröhliche Gesichter und die Mutter schmierte Brotscheiben mit besagter »RAMA«-Margarine. Wenn wir spazierengingen, sagte Ina einmal: »Irgendwie sind wir wie die RAMA-Familie.«
Es war mittlerweile so warm geworden, dass wir uns einen hölzernen Bollerwagen zugelegt hatten und unserem Bastian nur einen leichten Strampler anzogen. Er lag dann auf weichen Kissen in diesem Holzwagen und wir deckten ihn noch nicht einmal zu - so heizte die Sonne die Luft auf.
Bastian war vielleicht gerade sieben Wochen alt, als wir uns mit ihm und dem Bollerwagen durch die Menschenmassen der Kieler Woche zwängten - einem jährlich stattfindendem Volksfest in unserer Landeshauptstadt.
Natürlich sahen wir zu, dass etwa alle zwei Stunden Grünanlagen in der Nähe waren. Denn Bastian hatte noch immer sein exaktes Timing zur Mutterbrust. Dann suchten wir ein ruhiges Plätzchen, Ina stillte ihn, und ich schirmte beide vor den Blicken der Öffentlichkeit ab.
Die Zeit verging und Bastian wuchs. Irgendwann war Schluss mit der Mutterbrust und er wurde an Milchfläschchen gewöhnt. Nun konnte er auch in meinem Arm trinken. Wenn er die Flasche leergenuckelt hatte, war er jedesmal fix und fertig. Sein kleines rundes Gesicht war gerötet und er spielte sich am Ohr. Das war immer das Zeichen von Müdigkeit.
Ein richtiger Wonneproppen war er geworden. Natürlich konnte er jetzt schon mit seinen kleinen Händen greifen und gab mittlerweile auch schon richtige Laute von sich. Die ganze Zeit plapperte er vor sich hin. Ich liebte diese Laute und es war eine Freude ihm dabei zuzusehen, wie er sich entwickelte.
Bekannterweise haben Säuglinge ja dauernd die Windeln voll. Der »Senf« in seinen Pampers roch zwar, aber von Stinken konnte noch nicht so richtig die Rede sein. Das änderte sich aber schlagartig, als er Nahrung aus diesen Gläsern zugefüttert bekam, welche die Firma HIPP herstellte. Dort war ja bereits alles drin, was er später in fester Form zu sich nehmen würde - Karotten, Erbsen und Kartoffelbrei.
Wenn Ina, oder auch ich, ihn wickelte, sagte sie manchmal: »Bastian, Du stinkst wie ein Iltis!«
Doch Bastian interessierte das nicht die Bohne.
»Wenn er sprechen könnte«, sagte ich lachend zu Ina, »würde er sicher sagen: Da scheiß ich drauf!«
Er lag rücklings auf seiner Kommode, griff zu dem Spielzeug, welches über ihm baumelte, und plapperte vor sich hin. Anscheinend bekam er garnicht mit, wie seine Mutter ihm die Kacke von seinem kleinen Babyarsch entfernte.
Die Wiege brauchten wir nun nicht mehr. Nach den ersten Wochen schlief Bastian jetzt im Kinderzimmer. Wenn Ina ihn abends in sein Bettchen brachte, kam es mittlerweile vor, dass Bastian noch putzmunter war. Dann war meine Aufgabe, ihn irgendwie in den Schlaf zu bekommen. Ich sang ihm dann etwas vor, oder alberte mit ihm an seinem Bettchen herum und machte mich zum Affen. Bastian schien das zu gefallen und er wurde erst recht munter. Manchesmal war er schon richtig anstrengend. Aber eingeschlafen ist er irgendwann doch noch.
Als ich - es mag bereits Ende des Jahres gewesen sein - eines Abends nach Hause kam, empfing mich Ina lachend an der Tür.
»Guck Dir das mal an!« Sie zog mich hastig in die Küche.
Bastian saß in seinem Hochstuhl - dieses Teil, in das man die Knirpse steckt, wenn sie gelernt haben alleine zu sitzen.
Ein Bild für die Götter! Irgendetwas Braunes, Matschiges in der Hand, das ganze Gesicht verschmiert, strahlte er über alle Backen!
»Sein erster Keks!«, lachte Ina glücklich.
Wieder hatte Bastian einen großen Sprung in seiner Entwicklung getan. Er war ein prächtiges Bürschlein, kerngesund und immer vergnügt. Seit Mitte November hatte Ina ihren Mutterschutz beendet, und ging wieder zum Arbeiten ins Krankenhaus. Am Tage hatten wir unsere Nachbarin, Janke Clausen, als Tagesmutter engagiert. Und abends, wenn Ina Spät- oder Nachtdienst hatte, war ich mit Bastian allein.
Ich fütterte ihn, wechselte seine Windeln, spielte mit ihm und brachte Sohnemann ins Bett. Dadurch entstand eine noch festere Bindung zwischen Basti und mir.
Wenn er endlich schlief, war ich aber auch ziemlich abgeschlafft. Meistens saß ich dann im Wohnzimmer vor der Glotze. Und nicht selten schlief ich nach einer Stunde vor dem Fernseher ein.
Wie war das noch? »Vater werden ist nicht schwer - Vater sein dagegen sehr.«
**********
Am Abend des 9. November 1989 - Ina hatte Nachtwache - saß ich wieder vor dem Fernseher. Bastian schlief in seinem Bettchen und ich schaute mir einen Krimi an. Der Film war gerade angefangen, als am unteren Bildschirmrand eine Laufschrift erschien:
»Eilmeldung! Grenze zur DDR geöffnet. Minister Schabowski erklärt Reisefreiheit für die Bürger der DDR!«
Ich war völlig irritiert und las nochmals. Tatsächlich, das stand da wirklich! Ich schaltete zwischen den Programmen hin und her - überall die gleiche Meldung. Auf einem Sender war das Programm sogar unterbrochen worden. Ich sah Bilder von jubelnden Menschen, die auf der Berliner Mauer tanzten und deutsche Flaggen schwenkten. Trabbis überquerten die Zonengrenze und DDR-Grenzbeamte winkten sie einfach durch. In Berlin spielte alles verrückt. Nicht zu fassen!!
Dann ein Ausschnitt aus dem DDR-Parlament - der Volkskammer. Günther Schabowski, damals Mitglied des Zentralkomitees der SED, saß vor mehreren Pressemikrofonen und gab eine Erklärung ab. Ich konnte es kaum glauben, aber es schien wahr zu sein. »Das ist das Ende der DDR«, sagte ich zu mir. Das Unmögliche war möglich geworden!
Ich nahm unser Telefon und wählte die Nummer der Station auf der Ina arbeitete. Ina meldete sich direkt. »Ina, die Grenzen zur DDR sind offen! Schalte mal das Fernsehgerät ein!«, erzählte ich aufgeregt. »Ich weiß«, antwortete Ina, »hier herrscht auch totale Aufregung!«
In den kommenden Wochen war ganz Deutschland im Freudentaumel. Jeden Tag gingen neue Meldungen durch die Medien. Auch Ina und ich freuten uns über die kommende Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten.
Zwei Wochenenden später luden wir den Kinderwagen, den Hund und Bastian in unser Auto, und fuhren zusammen über die geöffnete Zonengrenze in die DDR. Es war ein merkwürdiges und mulmiges Gefühl, als wir an den Wachtürmen vorbeifuhren.
Obwohl bereits November, war es ein sonniger Tag. Die Welt schien verändert.
Wir besichtigten das Schweriner Schloss und gingen, den Kinderwagen mit Bastian vor uns herschiebend, durch den Schlosspark spazieren. Es herrschte Volksfeststimmung und eine Menge provisorischer Imbissbuden und Bierstände waren aufgestellt worden. Der Übergang zur freien Marktwirtschaft wurde von den DDR-Bürgern geprobt und stand nun am Anfang.
An einer Fischbude machten wir halt und genehmigten uns eine Portion.
Als ich mir den ersten Bissen Bratfisch mit einer Gabel vom Pappteller in den Mund schob, rebellierten meine Zahnplomben. Die Gabeln waren im DDR-Retro-Style, aus Aluminium!! Auch Ina hatte das zu spät bemerkt und verzog das Gesicht.
Ja, so war das in den ersten Wochen nach der Grenzöffnung. Aber bereits ein Jahr später hatte sich vieles am westlichen Vorbild orientiert.
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Wieder war ein Jahr vergangen und ein neues begann. Wir hatten den Eindruck, dass auf einmal alles rasend schnell ging, seit unser Bastian das Licht der Welt erblickt hatte.
1990 wurde ein relativ ruhiges Jahr. Mit einer unrühmlichen Ausnahme. Nora gaben wir an eine Familie in einem nahegelegenen Dorf ab. Andauernd hatte Basti Hundehaare im Mund und an seinen besabberten Händen, wenn er über den Fußboden krabbelte. Ich hatte darauf bestanden, obwohl es mir nicht leichtfiel, mich von ihr zu trennen. Ina gab zwar nach, war aber todtraurig. Sie weinte bittere Tränen, als ich Nora wegbrachte. In dem Moment habe ich mich sehr schlecht gefühlt und mich plagten lange schlimme Schuldgefühle.
Unser Finanzrahmen war jetzt enger geworden. Wir waren ja nun mehr als nur zwei Personen, und das spürten wir auch im Portemonnaie. Eine größere Urlaubsreise lag nicht mehr drin. Das Einzige was wir uns gönnten, war eine 3-tägige Schiffsreise nach Göteborg in Schweden. Einen Tag auf See, einen Tag Aufenthalt an Land, und dann wieder zurück.
Doch es genügte uns, ein paar Tage etwas anderes zu sehen. Natürlich war auch Basti dabei. Damals ahnte ich noch nicht, dass unser Junge einmal ein ganz besonderes Verhältnis zur See haben würde.
Es war aufregend, die Entwicklung des eigenen Kindes in allen Facetten zu erleben. Was waren wir glücklich, als er das erste Mal »Mama« und »Papa« sagte!
Später behauptete ich immer, er hätte zuerst »Papa« gesagt. Doch Ina war überzeugt, dass »Mama« das erste Wort unseres Sohnes war!
Und gegen Ende des Jahres machte unser Schatz seine ersten Schritte!
An einem Samstagmorgen war ich alleine mit ihm, denn Ina hatte an dem Wochenende Frühdienst. Wie so oft, versuchte ich Bastian zu animieren. »Guck mal, was hab ich hier!«
Bastian war in die Küche gekrabbelt und hatte sich am Türrahmen hochgezogen. Ich kniete mit einem Spielzeug in der Hand am Ende des Eingangsflures, vielleicht zwei Meter entfernt.
Das Spielzeug muss in diesem Moment wohl unglaublich reizvoll für ihn gewesen sein, denn er machte vom Türrahmen aus zwei Schritte auf mich zu, … bevor er in den Beinen einknickte und zu mir krabbelte.
Meine Herren - war ich aufgeregt. Ich konnte es nicht erwarten, dass Ina nach Hause kommen würde. Also übten wir weiter. Und als Ina am Nachmittag die Tür öffnete, zeigten Bastian und ich ihr, dass Sohnemann schon fast vier Schritte schaffte. Ina war aufgeregt und überglücklich!
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Weihnachten war jetzt plötzlich viel wichtiger als die Jahre zuvor. Ina bastelte für Bastian einen gewaltigen Adventskalender. Einen Heißluftballon, an dessen Passagierkorb 24 kleine, mit Glitzerpapier beklebte Zündholzschachteln hingen. Die Schachteln hatte sie mit diversen Kleinigkeiten gefüllt und jeden Tag durfte Bastian eines öffnen. Er war natürlich jeden Morgen aufgeregt, was wohl heute drin war.
Und dann die leuchtenden Augen, als der Weihnachtsbaum geschmückt war und die Lichter brannten. Denn in diesem Jahr hatten wir einen besonders großen besorgt. Nie zuvor hatten wir den Heiligabend so genossen!