Читать книгу Wenn die Tage ihre Farbe verlieren - Band 2 - Bodo Gölnitz - Страница 9

Kapitel 49: Marisa

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Inas Kugelbauch nahm gewaltige Ausmaße an. Und wie auch beim letzten Mal, schien sich der Familienzuwachs Zeit zu lassen. Aber es war alles in Ordnung mit dem ungeborenen Kind. Doch Ina wünschte sich, endlich wieder normale Konfektionskleidung tragen zu können.

Es war nun September 1993. Und wenn wir über die bevorstehende Geburt sprachen, hatte ich immer gesagt: »Besonders scharf bin ich nicht darauf, im Kreißsaal dabei zu sein.« Denn diesmal schien alles auf eine »normale« Niederkunft hinauszulaufen.

Weil Bastian durch Kaiserschnitt zur Welt gekommen war, kam ich damals drumherum, direkt bei der Geburt dabei zu sein. Ina hatte mir zwar gesagt, dass es ihr nichts ausmachen würde, ohne mein direktes Beisein zu gebären. Aber mein Gefühl und meine Erfahrung sagten mir: Frauen meinen nicht immer das, was sie sagen!

Und so teilte ich ihr dann eines Abends mit: »Ich habe mich jetzt doch dafür entschieden, während der Entbindung bei Dir zu sein.« Mein Pflichtbewusstsein hatte sich gegen meine Feigheit durchgesetzt.


Ina hatte beschlossen, ihr zweites Kind im Krankenhaus von Neumünster zur Welt zu bringen. Angeblich würde dort die »sanfte Geburt« durchgeführt werden. »Sanfte Geburt - was soll an einer Geburt sanft sein«, fragte ich mich im Stillen. Geburt heißt unvorstellbare Schmerzen für die Frau. Und seit wann gibt es sanfte Schmerzen? Verstehe einer die Frauen!

»Aber wenn’s losgeht, … Neumünster liegt doch 45 Autominuten von Rendsburg entfernt! Wenn es dann unterwegs zu Problemen kommt!!«, wandte ich zögernd ein.

»Ach Bodo, die Kinder kommen nun mal nicht innerhalb von fünf Minuten. Du guckst zuviel Fernsehen«, grinste Ina.

Und ich? Ich sah mich in Gedanken bereits auf einsamer Landstraße. Wie ich schweißüberströmt und blutverschmiert über Ina gebeugt war, das Kind aus ihr zog, und die Nabelschnur durchbiss …

Aber bis dahin konnte ich ja vielleicht noch auf sie einwirken.

Ina war allerdings fest entschlossen, in Neumünster zu entbinden. Angemeldet hatte sich bereits in der dortigen Klinik.


Jetzt begann die leidige Namenssuche. Und da wir fest davon überzeugt waren, dass es wieder ein Junge werden würde, legten wir abermals eine Liste an. Die Liste war nur noch länger als im Mai 1989. Und es fiel uns noch schwerer, eine Entscheidung zu treffen. Bis wir uns dann aber doch einigten. Damian sollte das Bürschlein heißen.

»Bastian und Damian. Irgendwie passt das«, sagte ich. Ina war zwar nicht vollends zufrieden, aber irgendeinen Namen musste unser zweiter Sohn ja haben.

»Aber wenn es doch ein Mädchen wird? Ich meine, theoretisch ist das ja möglich. Dann sollten wir auch dafür einen Namen parat haben«, sagte Ina, als ich die Namenssuche bereits abgehakt hatte.

»Ja, stimmt«, überlegte ich, »die theoretische Möglichkeit besteht.«

Also holte ich einen zweiten Zettel für den Mädchennamen.

Erfreulicherweise gestaltete sich die Suche recht kurz. Zwei oder drei Namen standen nach zehn Minuten fest. Doch dann fiel mir der Name einer hübschen österreichischen Schauspielerin aus den 60-ziger Jahren ein. Sie hieß Marisa Mell.

»Sag mal, … was hältst Du von Marisa?«

Dieser Vorname gefiel Ina sofort. »Gut«, sagte ich, »damit wäre das Thema durch!«

Ich sah auf die Uhr und stellte fest, dass es bereits kurz vor Mitternacht war - Zeit schlafen zu gehen. Morgen wäre Montag und um 05:30 Uhr sollte schon wieder der Wecker für mich klingeln.


Wir lagen noch einige Zeit wach im Bett und waren froh eine Einigung über die Namensgebung unseres ungeborenen Kindes erzielt zu haben.

»Schlaf gut«, gähnte ich, drückte Ina einen Kuss auf, tätschelte ihren Bauch - und drehte mich auf die Seite.


Ich hatte das Gefühl noch garnicht richtig geschlafen zu haben, als ich einen Stoß in die Rippen verspürte. »Bodo, wach auf!«

»Was ist denn?«, stammelte ich schlaftrunken, die Augen noch geschlossen.

»Mein Bett ist nass! Die Fruchtblase ist geplatzt. Ich glaub es geht los.«

Mit einem Schlag war ich hellwach! Es war wieder da, das Gefühl von Hilflosigkeit. Und das Chaos tobte tief in mir drin!!

Oh Mann, das hatte ich doch schon alles mal erlebt! Eigentlich müsste ich doch in dieser Situation ruhig und entspannt sein!

Ina hatte wie immer die Ruhe weg.

»Entspann Dich«, sagte sie, »zieh Dich an und fahr das Auto aus dem Carport.« Na, die hatte gut reden! Schließlich sollte ich Vater werden! Aber dann bekam ich langsam wieder die Kontrolle über mich. Obwohl - dieses innerliche Zittern hörte nicht auf.

Beim Verlassen des Schlafzimmers schaute ich noch kurz ins Kinderzimmer. Bastian schlief tief und fest. Ich nahm mir vor um 6 Uhr bei der Tagesmutter anzurufen, die wir zwischenzeitlich engagiert hatten. Sonja - eine Nachbarin - wohnte direkt neben uns. Sie hatte einen Schlüssel von unserem Haus und würde dann gleich nach unserem Söhnchen sehen.


Ich fuhr das Auto so weit vor, dass Ina bequem einsteigen konnte. Den Beifahrersitz hatte ich in Liegestellung gebracht und auch die, mit dem Nötigsten bereits gepackte Tasche, verstaut.

Vorsichtig half ich Ina beim Einsteigen und dann startete ich den Motor.


Wie gesagt, hatten wir nun etwa 45 Minuten Autofahrt vor uns. Am liebsten hätte ich das Gaspedal bis zum Anschlag durchgetreten. Aber ich wollte Ina natürlich nicht durchschütteln. »Geht’s noch?«, fragte ich besorgt.

»Ja, alles ist gut. Konzentriere Dich auf die Straße«, antwortete Ina genervt.


Ich war die Strecke nach Neumünster schon oft gefahren, aber nun merkte ich, wieviele Schlaglöcher sich auf der Strasse befanden. Es waren zwar alles Kleinere, aber jeder Kontakt des Wagens mit diesen Unebenheiten trieb mir den Schweiß in die Achseln und auf die Stirn. Und wieder hatte ich dieses Bild vor Augen, wie Ina plötzlich sagen würde: »Halt an, … es kommt!!«


Nach einer gefühlten Ewigkeit hielt ich vor dem Eingang der Klinik. Ich atmete auf und brachte Ina zur Information.

Von dort aus fuhren wir mit dem Fahrstuhl zur Entbindungsstation. Inas Gesichtsausdruck war nun doch etwas angespannter, denn es hatten immer wieder leichte Wehen eingesetzt.

Die Krankenschwester begleitete uns in ein Zimmer und Ina wurde ins Bett verfrachtet. Jetzt fiel ein großer Teil meiner Anspannung von mir ab. Ina war in Sicherheit.

»Ich bring schnell unser Auto zum Parkplatz. Bin gleich wieder da.«


Als ich wieder zurückkam, saß Ina auf einem großen Gymnastikball und versuchte gleichmäßig zu atmen. Die Wehen setzten jetzt in kürzeren Abständen ein, aber das Sitzen auf dem Ball schien ihr zu helfen. Ich hockte mich daneben, hielt ihre Hand und fühlte mich wie immer hilflos.

»Gut, dass Männer nicht schwanger werden können«, dachte ich mir, »wie halten Frauen diese Qualen nur aus?«

In kürzeren Abständen kam jetzt auch eine Hebamme ins Zimmer. Befragte Ina zu diversen Dingen und erkundigte sich nach ihrem Zustand. Zu mir gewandt sagte sie: »Keine Angst, es wird noch etwas dauern, bis das Baby kommt.«

Wahrscheinlich war es offensichtlich, wie aufgeregt ich war.

»Bodo, Du kannst ruhig eine rauchen gehen. Es wird noch dauern, und vielleicht bist Du dann etwas entspannter. Helfen kannst Du im Moment ohnehin nicht«, lächelte Ina gequält.


Nun stand ich vor der Eingangstür des Krankenhauses, inhalierte den Rauch meiner Zigarette und merkte, dass meine Aufregung nicht weichen wollte. Aber die Zigarette entspannte mich etwas.

Ich steckte mir noch eine an und sah auf die Uhr - 04:30.

Der Sommer war schon fast vorüber, aber die Luft war immer noch angenehm warm. Schon wieder würde sich mein Leben ändern. Irgendwie paradox - trotz der inneren Anspannung fühlte ich mich gut. »Alles was ich früher nicht wollte – Heiraten, Haus, Kinder – das habe ich nun. Und ich find es sogar toll!«, dachte ich still bei mir.

Es sollten jedoch noch einige Stunden vergehen, ehe es soweit war. Inas Wehen wurden nach und nach stärker und ich litt mit ihr.


Aber dann ging es los!

Ich bekam den Übergang garnicht richtig mit. Die Hebamme stand vor Inas gespreizten Beinen und sagte plötzlich: »Jetzt schön pressen, Frau Gölnitz.«

Der Arzt stand an einer Seite des Bettes und ich an der anderen. Ich hielt Inas Hand und streichelte ihr schweißnasses Gesicht.

Ina stöhnte und in mir war das Gefühl, als würde ich außerhalb meines Körpers, neben mir stehen. Und dann sah ich etwas Rundes, Dunkelhaariges. Der Kopf unseres Kindes bahnte sich seinen Weg. Ein Anblick, den ich nie vergessen werde.

Ich stand völlig fassungslos und doch irgendwie fasziniert daneben und nahm kaum wahr, was um mich herum passierte. Ich sah nur noch, was dort zwischen den Beinen von Ina passierte. Wie im Rausch!

Stück für Stück erschien ein kleiner Mensch. Zuerst unendlich langsam und dann doch blitzschnell. Die Anstrengung des Geburtsvorganges hatte die Haut des kleinen Menschen dunkelrot werden lassen.

»Ein Mädchen«, sagte die Hebamme. Und erst jetzt kam ich wieder zu mir.

Irgendwie war ich völlig erstaunt. Ein Mädchen? Ich war plötzlich Vater einer Tochter? Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Und ich denke Ina war genauso überrascht.

Die Hebamme hielt den kleinen Wurm an den Füßen und gab ihm einen Klaps auf den Po. Irritiert stellte sie fest, dass das Kind nicht atmete.

Noch ein Klaps - Nichts!

Der Arzt rief einer anderen, ebenfalls anwesenden Krankenschwester etwas zu, worauf diese schnell das Zimmer verließ, um kurz darauf mit einer kleinen Beatmungsmaschine zurückzukehren.

Meine Tochter atmete einfach nicht! Ein Angstgefühl stieg in mir auf. Bitte, Bitte, … atme, kleine Marisa!!

Arzt, Hebamme, Schwester - ich spürte, wie auch sie leicht hektisch wurden.

»Bitte, Marisa - so atme doch!!«, sagte ich jetzt laut und angsterfüllt.

Doch dann endlich, … die ersten kleinen Atemzüge - Geschafft!!

Es war fast körperlich zu spüren, wie sich im Raum Erleichterung breitmachte. Die Hebamme legte Ina ihr Kind auf den Bauch und auch Inas Gesichtszüge entspannten sich jetzt.

Ihre Augen hatten wieder diesen besonderen Glanz angenommen.

Einen Moment genoss ich den Anblick von Mutter und Kind. Dann gab ich Ina einen Kuss.

»Wir haben eine Tochter. Hättest Du das gedacht?«

Ina sagte nichts, sondern lächelte mich mit mattem Gesicht an.

Währenddessen machte sich die Hebamme an der Nabelschnur zu schaffen. Ich war fix und fertig!

»Tut mir leid«, sagte ich, »ich muss jetzt erstmal eine rauchen.«

Ich sah, wie alle Anwesenden grinsten, und machte mich auf den Weg durch Flur und Treppenhaus, zum Ausgang der Klinik.


Völlig benebelt stand ich vor dem Krankenhauseingang und sog hastig den Rauch der Zigarette in meine Lungen.

»Ein Mädchen«, dachte ich bei mir, »Wer hat schon das Glück einen Jungen UND ein Mädchen zu haben!«

Ich erinnerte mich daran, dass viele Bekannte entweder nur Jungs oder nur Mädchen hatten. Sie mühten sich jahrelang und es wurde doch nichts. Aber Ina und ich - wir hatten dieses unfassbare Glück!

Bastian würde Augen machen, wenn ich nach Hause komme und ihm erzählen würde: »Basti, Du hast jetzt ein Schwesterchen.«

Erst jetzt merkte ich, dass es mittlerweile heller Vormittag war. Es war ein Kommen und Gehen. Ganz langsam entwickelte ich wieder ein Gefühl für die Zeit. Das war mir in den letzten Stunden völlig abhandengekommen.

Später erfuhr ich, dass unsere Marisa um 10:01 Uhr das Licht der Welt erblickt hatte. Am 25. September 1993 - fast zur gleichen Uhrzeit, nur eine einzige Stunde später als Bastian vor vier Jahren.


Ich bestieg den Fahrstuhl, um wieder in das Geburtszimmer zurückzugehen. Doch als ich die Tür zum Zimmer öffnete, sah ich wie das Pflegepersonal gerade den »Mutterkuchen« betrachtete. Das war jetzt doch etwas zuviel.

»Äh, ich komm nachher wieder.« Ich machte auf dem Absatz kehrt. Das Lachen der Krankenschwestern und auch das von Ina bekam ich noch mit. Aber ich fand, dass ich bereits genug mitgemacht hatte in den letzten Stunden. Das musste ich mir jetzt nicht auch noch geben.


Erst nach etwa einer Viertelstunde betrat ich wieder vorsichtig und zögernd das Zimmer. Ina sah jetzt bereits wieder frisch aus und hatte unsere kleine Tochter im Arm. »Na, Du Weichei«, grinste sie.

Ohne darauf zu antworten, nahm ich sie in die Arme.

Dann sah ich mir mein Töchterchen genauer an.

»Oh Mann, ist die süß«, strahlte ich. » aber, als sie nicht atmete, hatte ich totale Panik.«

»Ich auch«, antwortete Ina mir, »aber es ist ja alles gutgegangen.«


Etwas später meinte Ina, dass ich jetzt ruhig nach Hause fahren sollte. Denn schließlich war Bastian ja auch noch da.

»Der wird bestimmt völlig aus dem Häuschen sein. Heute Nachmittag kommen wir Euch zusammen besuchen.« Ich gab Ina und auch der kleinen Marisa einen Kuss und machte mich auf den Weg.

Ganz langsam wurde mir bewusst, dass ich gerade noch einmal Vater geworden war. Ein gutes und stolzes Gefühl kam in mir hoch. Ich fühlte mich unbeschreiblich!


Als ich an der Tür von Sonja klingelte und geöffnet wurde, kam Bastian sofort auf mich zugerannt.

»Bastian, Du hast ein Schwesterchen. Sie heißt Marisa.«

Basti strahlte und fragte mich sofort, ob Mama und das Baby auch zuhause wären.

»Nein«, lachte ich. »Mama muss noch ein paar Tage im Krankenhaus bleiben, aber wir fahren am Nachmittag hin und besuchen beide.«


Eigentlich hätte ich jetzt müde sein müssen. Doch von Müdigkeit war absolut nichts zu spüren. Ich war immer noch völlig aufgedreht. Bastian löcherte mich mit allen möglichen Fragen und ich bemühte mich, ihm verständliche Antworten zu geben. Er konnte es nicht erwarten, endlich seine Schwester zu sehen.

Doch zuerst nahm ich das Telefon und wählte die Nummern der wichtigsten Familienmitglieder, um ihnen die freudige Nachricht mitzuteilen. Tatsächlich waren die meisten überrascht, dass es ein Mädchen geworden war. Komischerweise hatten fast alle damit gerechnet, dass es wieder ein Junge werden würde. »Da seht Ihr mal wieder. Bodo kann auch Mädchen«, lachte ich.


**********


Am frühen Nachmittag fuhr ich mit Bastian nach Neumünster. Er konnte es kaum erwarten anzukommen. Wir hatten einen großen Blumenstrauß besorgt. Den sollte Bastian seiner Mama übergeben. Er kam mir jetzt auf einmal so groß vor, als wir das Krankenzimmer betraten und ich die kleine Marisa in Inas Arm sah. Ina strahlte uns an und Bastian legte die Blumen auf ihr Bett. Dann umarmte er seine Mama und drückte sie ganz fest.

»Das ist Deine kleine Schwester«, sagte sie lächelnd.

Zum ersten Mal sah Bastian Marisa und ich spürte, wie unsicher er plötzlich war.

»Du darfst sie ruhig anfassen«, ermunterte Ina ihn.

Ganz zögerlich streichelte Bastians kleine Hand ihren Kopf. Behutsam und vorsichtig, so als würde er das Gefieder eines kleinen Vogels berühren. Und dann drückte er einen kleinen Kuss auf die Wange seiner Schwester.

»Hallo Marisa«, sagte er fast flüsternd.

Ich werde diesen Anblick und diesen Moment niemals vergessen. Ein Augenblick vollkommenen Glücks! Und ich spürte mal wieder etwas Feuchtigkeit in meinen Augenwinkeln. Meine Familie!

Bastian konnte seinen Blick nicht von Marisa lassen. Er berührte ihre zu Fäusten geballten Händchen. Ganz zart, mit nur einem Finger. Und ich hatte fast den Eindruck - obwohl ich wusste, dass Babys anfangs noch nicht richtig sehen können - Marisa würde ihn mit ihren Kulleraugen ansehen. Sie war ganz ruhig und gab keinen Laut von sich.

»Möchtest Du zu uns ins Bett kommen?«, fragte Ina und streichelte seinen Blondschopf. Natürlich wollte Bastian!

»Dann zieh´ schnell Deine Schuhe aus und komm zu uns.«


Nun lagen meine Drei zusammen. Und Bastian kuschelte sich an seine Mama, während ich die Blumen in eine eiligst besorgte Vase steckte.

»Was sagst Du zu Deinem Schwesterchen?«, fragte Ina.

Bastian strahlte: »Die ist total süß, Mama. Aber so klitzeklein.«

Ina lächelte. »Wenn Du möchtest, darfst Du sie kurz in Deinem Arm halten.«

Das Kopfteil des Bettes war hochgestellt und Ina legte Bastian den kleinen Wurm in den Arm. »Du musst ihren kleinen Kopf stützen.« Ina zeigte Bastian wie man ein Baby im Arm hält und unser Sohn hatte vor lauter Aufregung rote Wangen. Vorsichtig und zärtlich hielt er seine Schwester in seinen kleinen Armen.

»Marisa«, sagte er leise, »ich bin Bastian, Dein großer Bruder. Und wenn Du zuhause bist, können wir zusammen spielen.«

Ich musste unwillkürlich lachen. »Bastian, bis Marisa mit Dir spielen kann, muss sie aber ersteinmal wachsen.«


Es verging einige Zeit und Marisa schlief in den Armen ihres Bruders ein. »Babys schlafen ganz viel«, sagte Ina zu Bastian. »Wir bringen sie jetzt in ein anderes Zimmer. Zu den anderen Babys. Und Du darfst das Bett schieben.«


Ina schien es gutzugehen. Kaum zu glauben, dass sie erst vor wenigen Stunden in den Wehen gelegen hatte. Wie ich sie in diesem Moment bewunderte!

Bastian schob - stolz wie Oskar - das kleine fahrbare Kinderbettchen. Und durch die große Glasscheibe des Säuglingszimmers konnten wir zusehen, wie Ina ihre kleine Tochter in die Reihe mit den anderen Neugeborenen schob.


Etwas später verabschiedete uns Ina am Fahrstuhl.

»Wir kommen Dich morgen wieder besuchen.« Ich nahm Ina in den Arm. »Ich liebe Dich.« Und küsste sie.

»Ich Dich auch.«

Bastian drückte seine Mama. »Wann kommst Du nachhause?«

»Naja, ein paar Tage wird es wohl noch dauern«, antwortete sie ihm.

»So lange?« Enttäuschung lag in seinen kleinen Kinderaugen.

»Nur ein paarmal schlafen«, versuchte Ina ihn zu trösten. »Aber Du kannst uns ja jeden Tag besuchen. Okay?«

Fürs Erste war Bastian zufriedengestellt, aber ich wusste, dass die Frage in den nächsten Tagen noch oft gestellt werden würde.


Als Bastian und ich den Fahrstuhl traten, stand dort bereits ein älterer Herr. »Oh, hast Du ein Geschwisterkind bekommen?«, fragte er freundlich lächelnd.

»Ja«, strahlte Bastian, »ein Mädchen, aber das macht nix.«

Der Mann lachte und auch ich schmunzelte.


**********


Ich hatte mir eine Woche Urlaub genommen. Und jeden Nachmittag besuchten wir Ina und Marisa.

Natürlich wurde Bastian von Tag zu Tag ungeduldiger. Immer wieder fragte er: »Wann kommen Mama und Marisa denn endlich nach Hause?«

Es wurde immer schwieriger ihm klarzumachen, dass es für Babys nun einmal wichtig ist, nach der Geburt ein paar Tage im Krankenhaus zu bleiben.

»Sieh mal, dort sind Ärzte und Krankenschwestern, die sich um Marisa und Mama kümmern. Wenn es den Beiden vielleicht mal schlechtgeht, haben sie sofort Hilfe. Und wir wollen doch, dass beide gesund sind.«

Diese Argumentation überzeugte ihn allerdings immer nur für kurze Zeit. Und als die zweite Wochenhälfte begann, sagte er ärgerlich zu mir: »Ich glaub garnicht mehr, dass Mama und Marisa nach Hause kommen!«

Ich nahm ihn in den Arm. »Unsinn! Noch 2- oder 3-mal schlafen. Dann sind sie da.«

Ich beschäftigte mich weiterhin viel mit Bastian und wir unternahmen kleine Ausflüge. Das lenkte ihn wenigstens etwas ab.

Am Freitagmorgen nach dem Frühstück - Bastian trohnte gerade auf der Toilette - klingelte das Telefon. Ich hob den Hörer im Wohnzimmer ab.

»Du kannst uns in zwei Stunden abholen«, sagte Ina am anderen Ende der Leitung.

Bastian hatte das Gespräch zwischen Ina und mir irgendwie mitbekommen und stürzte mit heruntergelassener Hose, ohne den Hintern abgeputzt zu haben, aufgeregt ins Wohnzimmer.

»Kommen sie endlich nach Hause?«, rief er völlig aus dem Häuschen und strahlte - im wahrsten Sinne des Wortes - über alle vier Backen.

»Ja, in einer Stunde fahren wir sie abholen. Aber jetzt zurück auf die Toilette, den Popo putzen.« Es war ein Bild für die Götter, wie ich den kleinen aufgeregten Knirps mit heruntergelassener Hose und blankem Hintern vor mir stehen sah. Er war garnicht zu beruhigen und ich brauchte viel Geduld, um es zu schaffen, ihn wieder etwas zu bändigen.

Eine Stunde später waren wir unterwegs und holten Ina und Marisa endlich zu uns nach Hause. Bastian war überglücklich!


Ich erinnere mich, dass am Tage der Heimkehr unserer beiden - Ina saß gerade im Wohnzimmer auf dem Sofa und stillte Marisa - plötzlich Bastian mit etwa zehn Kindern aus der Nachbarschaft angetrabt kam und allen stolz das Baby zeigen wollte. Sie hatten draußen gespielt und einer war dreckiger als der andere.

Ina hatte regelrecht Panik in den Augen, als die verschmutzten Kinderhände das Baby streicheln wollten. Aber dann musste sie doch lachen, und ich hatte alle Hände voll zu tun, die Rasselbande wieder vor die Tür zu bugsieren.


Die restlichen Monate des Jahres 1993 erinnerten mich an die Zeit nach Bastians Geburt und doch waren sie völlig anders. Während Bastian als Baby für keine außergewöhnlichen Nächte sorgte, litt Marisa - besonders nachts - unter heftigen Koliken. Oft wachte ich vom Babyschreien auf. Und dann saß Ina meistens schon aufrecht im Bett und wiegte unsere Kleine bäuchlings im Arm.

Ich litt mit meiner Marisa und sie tat mir so unsagbar leid. Und ich spürte die Belastung, der Ina ausgesetzt war. Doch erstaunlicherweise kam sie besser mit dem Druck zurecht als ich.

»Es kommt öfters vor, dass Babys unter diesen 3-Monats-Koliken leiden. Aber wie der Name bereits sagt, sind die nach drei Monaten vorbei«, sagte sie immer, um mich zu beruhigen.


Bastian liebte sein Schwesterchen. Wir hatten uns aber auch vorgenommen, ihn in alles einzubeziehen. Er saß neben Ina, wenn sie Marisa stillte, und er durfte sie oft im Arm halten. Selbst wenn Ina oder ich die Kleine wickelten, durfte Bastian helfen. Wir versuchten alles, um zu vermeiden, dass er sich vielleicht zurückgesetzt fühlen könnte. Und wir kuschelten oft alle vier zusammen. Wenn Marisa weinte, was Babys natürlich oft tun, war er sofort bei ihr. Redete mit ihr, streichelte sie, tröstete sie. Dann machte er irgendwelche Faxen.

Einmal warf er einen seiner Wollhausschuhe in die Luft - und zum ersten Mal in ihrem erst kurzen Leben, lachte sie. Bastian warf nochmals seinen Schuh in die Luft, … und wieder lachte sie laut! Dieses Lachen klingt mir noch heute in den Ohren.


Es war schön die beiden zu beobachten. Marisa sah Bastian mit ihren großen Babyaugen an, drehte soweit es ging ihr Köpfchen - und verfolgte all seine Bewegungen. Und der Anblick unserer Kinder, wenn sie in Eintracht nebeneinander auf dem Fußboden lagen, machte uns glücklich.

Manchmal allerdings fragte Bastian: »Wie lange dauert es noch bis Marisa größer ist und sie mit mir richtig spielen kann?«

Wenn die Tage ihre Farbe verlieren - Band 2

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