Читать книгу Wenn die Tage ihre Farbe verlieren - Band 2 - Bodo Gölnitz - Страница 7
Kapitel 47: Ein Blitz aus heiterem Himmel
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Ein paar Wochen später rief mich Ina morgens auf der Arbeit an.
»Na, was gibt’s?«, fragte ich überrascht.
»Wenn Du nächstes Mal am Terrassenelement rumbohrst, könntest Du ruhig Deinen Dreck wegmachen. Hier liegt alles voller Bohrspäne. Und unseren Bund mit dem Autoschlüssel habe ich auch die ganze Zeit suchen müssen. Der lag draußen auf dem Dach von unserem Auto.«
Ich war mir keiner Schuld bewusst. »Ich hab doch garnicht an der Terrassentür gebohrt. Und Deinen Schlüssel hab ich auch nicht benutzt«, rechtfertigte ich mich.
»Aber hier ist doch ein Loch beim Türgriff!«, erwiderte Ina.
»Wie bitte, ein Loch?« Ich war etwas irritiert. »Beschreib mir das mal näher.«
Ina erzählte, dass direkt unter dem Griff der Terrassentür ein Loch, in der Größe einer Münze, gebohrt war. Anscheinend von außen. Und nun lagen im Wohnzimmer massenhaft grobe Bohrspäne. Ich erschrak. »Ruf bitte sofort die Polizei an! Ich hab den Eindruck, dass man bei uns eingebrochen ist. Anders kann ich mir das jedenfalls nicht erklären«, forderte ich sie auf.
Es dauerte vielleicht eine Stunde, bis Ina sich wieder meldete.
»Der Kriminalbeamte ist gerade weg. Du hattest recht. Bei uns ist in der Nacht eingebrochen worden«, sagte sie mir aufgeregt. »Und wir sind nicht die Einzigen. Mehrere Häuser in der Siedlung sind in der Nacht von Einbrechern heimgesucht worden.«
»Fehlt denn irgendetwas?« Mich erfasste jetzt Aufregung.
»Bisher habe ich nichts feststellen können. Anscheinend sind die Einbrecher gestört worden. Der Polizist meinte, das könnte der Grund sein, weshalb der Schlüsselbund draußen auf unserem Auto lag. Zwei Straßen weiter ist nämlich ein großer AUDI gestohlen worden. Damit haben die wahrscheinlich das Diebesgut transportiert.«
Ina war immer noch sichtlich verängstigt, als wir zu Feierabend in der Küche saßen und über die Ereignisse sprachen. »Das muss man sich mal vorstellen! Wir liegen seelenruhig oben im Bett, Bastian schläft nebenan in seinem Bettchen - und nur wenige Meter unter uns spazieren Einbrecher durchs Haus«, bemerkte sie fassungslos. Bei diesem Gedanken war uns mulmig. Was wäre, wenn wir aufgewacht wären?
»Der Kriminalbeamte sagte mir, dass man in so einer Situation auf keinen Fall den Helden spielen sollte. Einfach nur etwas Lärm machen - auf garkeinen Fall nach unten gehen. Einbrecher sind nur gewalttätig, wenn sie sich in die Enge gedrängt fühlen. Wenn ihre Fluchtwege versperrt sind, kann es gefährlich werden. Man weiß ja nie, wie viele es gerade sind. Da hast du keine Chance«, erzählte Ina weiter.
»Stimmt«, entgegnete ich, »und für gestohlene Gegenstände kommt die Versicherung sowieso auf. Es gibt absolut nichts, das es wert wäre, sich dafür den Schädel einschlagen zu lassen.«
Bei vielen Nachbarn fehlten Fernseher, Stereoanlagen und teilweise auch Bargeld. Wir hatten einfach Glück gehabt. Bei uns fehlte absolut nichts. Trotzdem brauchte Ina eine geraume Zeit, um über den Schrecken hinwegzukommen. In den ersten Tagen nach dem Einbruch schlief sie daher sehr unruhig.
Einige Wochen später hatte sich die Aufregung gelegt. Durch den Einbruch erkannten wir, wie einfach es war, die handelsüblichen Griffe aufzuhebeln. Die Einbrecher brauchten nur mit einem Handbohrer ein einfaches Loch zu bohren, durch das sie dann eine dünne Stange schoben. Damit ließ sich der innere Türgriff leicht hochdrücken. Das ging alles völlig lautlos vonstatten.
Ich hatte gleich abschließbare Tür- und Fenstergriffe besorgt. Und nach dem Einbau fühlten wir uns wieder etwas sicherer im Haus.
**********
Bastian war unser ganzes Glück, und ein Kind reichte uns auch eigentlich. Aber Ina und ich sprachen jetzt manchmal darüber, wie es wohl wäre, wenn sie nochmal schwanger sein sollte. Dann würde es finanziell wohl schwieriger werden. »Ich will aber die Pille nicht mehr nehmen. Seit ich die nehme, tut mir oft die Brust weh.«
Und so kam das Gespräch auf die Möglichkeit der Sterilisation.
»Wieso müssen wir Frauen nur immer für die Verhütung sorgen und ihr Männer macht es Euch bequem«, sagte sie.
Natürlich fehlten mir die Gegenargumente.
»Aber es gibt für mich zwei Dinge, mit denen ich ein Problem habe«, erwiderte ich. »Ich lass mir nicht gern an den Augen schnippeln - und auch nicht am Schniedel.«
Ja, ich war ein echter Feigling.
Eine längere Zeit diskutierten wir das Thema nicht mehr. Aber dann sagte mir Ina: »Ich lass mir `ne Spirale einsetzen. Die Pille setz ich ab.« Und so kam es dann auch.
Es gab jedoch seit einer Weile noch ein anderes Problem, das Ina zu schaffen machte - der Nachtdienst in der Klinik. Sie bekam mittlerweile enorme Schlafstörungen. Wenn sie morgens vom Dienst nach Hause kam, hatte sie Schwierigkeiten einzuschlafen. Und wenn sie es dann doch schaffte - wachte sie beim kleinsten Geräusch wieder auf.
Sie ging zum Arzt und ließ sich Schlaftabletten verschreiben. Doch richtig halfen die ihr auch nicht. Ihre Schlafprobleme fingen an, das Familienleben zu belasten.
In Zeiten, in denen Ina Früh- oder Spätdienst hatte, war alles relativ normal. Doch ihre Nerven lagen blank, wenn sie alle vier Wochen zum Nachtdienst eingeteilt war. Wenn es während ihres Dienstes in der Nacht auch noch zu Todesfällen kam - komischerweise sterben die meisten Menschen nachts – wurde es noch schlimmer. Ina kam damit überhaupt nicht zurecht. Sie konnte einfach nicht abschalten. Und diese Dinge sorgten dafür, dass ihr Einschlafverhalten zusätzlich noch schwieriger wurde.
Ich brauchte nie besonders viel Schlaf - vier oder fünf Stunden reichten mir allemal. Selbst am Tage konnte ich gut schlafen. Wenn ich mich am Wochenende manchmal nachmittags aufs Sofa legte und einschlief, hätte neben mir eine Bombe explodieren können - ich hätte selig weitergepennt. Und von daher war es nicht einfach für mich, Inas Probleme nachzuvollziehen.
Fiel der Nachtdienst auf die Wochenenden, wurde es richtig anstrengend. Ich versuchte zwar dafür zu sorgen, dass Bastian nicht zuviel Lärm machte. Doch das klappte nicht immer. Und daher bemühte sie sich, innerhalb des Krankenhauses eine Stelle zu bekommen, die an keine Nachtwache gebunden war. Aber das war kaum möglich. Es gab zwar ein paar wenige Arbeitsplätze, doch die waren natürlich bereits besetzt. So blieb alles beim Alten.
Glücklicherweise bekamen wir in diesem Jahr für Bastian einen Platz im Kindergarten zugeteilt. Nun war jedenfalls innerhalb der Woche dafür gesorgt, dass vormittags Ruhe im Haus war.
Es war Ende 1992 - an einem Samstag in der letzten Novemberwoche - als die Situation zu eskalieren begann. Ina war an dem Punkt angekommen, an dem ihr Zustand immer schlimmer geworden war. Selbst an normalen Tagen schlief sie kaum noch. Und sie war launisch geworden. Was ich auch anstellte, sie nörgelte an allem herum. Immer öfter stritten wir wegen Kleinigkeiten.
»Warum gehst Du nicht endlich zum Arzt. Ich kann doch nichts dafür, dass Du kaum noch schläfst. Du bist ja nicht mehr Du selbst! Hol Dir endlich Hilfe!«, sagte ich am Nachmittag verärgert. Ihr Zustand war kaum mehr zu ertragen.
Es wurde Abend. Für Bastian hatten wir vor Monaten unseren sogenannten »gemütlichen Abend« eingeführt. Der fand immer Samstags statt. Er war nun bereits dreieinhalb Jahre alt und für ihn war dieses Familienritual immer etwas ganz Besonderes. Ina kochte dann etwas Leckeres und wir sahen uns beim Essen ein Kindervideo an - irgendwelche Disney-Zeichentrickfilme. Wenn der Tisch aufgeräumt und das Geschirr wieder in der Küche war, stellte Ina eine Schüssel mit Naschies auf den Wohnzimmertisch.
Bastian liebte diese Samstagabende, kuschelte mit uns auf dem Sofa, und schlug sich den Bauch mit den süßen Leckereien voll - während der Videorekorder zum 1000. Mal »Das Dschungelbuch« abspielte.
So sollte es auch heute wieder sein.
»Ich hab heute keine richtige Lust was zu kochen«, sagte Ina, »ich fahr zum Imbiss und hol uns Currywurst mit Pommes.« Sie nahm sich den Autoschlüssel. »Bis gleich«, rief sie uns zu.
Ich schnappte mir Söhnchen und marschierte mit ihm ins Badezimmer, wusch ihn und zog ihm schonmal den Schlafanzug an. Denn der gemütliche Abend endete meist damit, dass er nach dem Zähneputzen bei uns auf dem Sofa einschlief. Dann brauchte ich ihn nur noch in sein Bett zu tragen.
Als ich ihn fertiggemacht hatte, gingen wir wieder ins Wohnzimmer. Ina müsste ja gleich zurück sein.
»Das dauert aber diesmal lange«, sagte ich zu Bastian. »Wahrscheinlich ist die Pommesbude ziemlich voll.« Aber der Blick zur Uhr machte mich allmählich unruhig.
Jetzt warteten wir bereits über eine Stunde. Ina war noch immer nicht zurück und ich fing an mir Sorgen zu machen. Das konnte doch nicht normal sein! »Hoffentlich ist nichts passiert«, sagte ich mir und ich wurde immer unruhiger.
»Wann kommt Mama denn endlich«, Bastian sah mich fragend an.
»Keine Ahnung, Basti«, antwortete ich schulterzuckend und versuchte meine Besorgnis vor ihm zu unterdrücken.
Das Telefon klingelte! Aufgeregt hob ich den Hörer ab.
Ina war am anderen Ende der Leitung. »Wo bleibst Du nur. Ist was passiert?«, fragte ich ungeduldig.
»Ich bin bei meinem Bruder Gerd. Ich komm nicht mehr nach Hause. Ich brauch meine Ruhe. Ich halt das einfach nicht mehr bei Dir aus!«
Ich war völlig fassungslos. Meine Eingeweide zogen sich zusammen und ich stammelte nur noch ungläubig: »Aber wieso??«
Ina blieb mir die Antwort schuldig, sagte nur noch: »Tschüss«, und legte auf. Ich versuchte meine Fassung wiederzufinden. Bastian sollte das auf keinen Fall mitbekommen.
»Basti, Mama kommt nicht. Sie bleibt heute Nacht bei Onkel Gerd.« Ich musste mich in diesem Moment total zusammenreißen, um nicht loszuheulen.
»Warum denn, Papa«. Bastian sah mich fragend an.
»Ihr geht es schlecht«, antwortete ich gequält. Und das war ja nicht einmal gelogen. »Tut mir leid mein Junge - aber es wird leider nichts mit unserem gemütlichen Abend.«
Bastian sah mich enttäuscht an: »Aber ich hab Hunger, Papa.«
»Ich mach Dir schnell was zu essen und dann bekommst Du trotzdem noch ein paar Naschies.« Ich streichelte ihm über das enttäuschte Gesicht und versuchte mich normal zu verhalten.
In der Küche machte ich für Bastian eine Kleinigkeit zu essen, während er auf dem Sofa vor dem Fernseher auf mich wartete. Meine Gedanken und meine Gefühle fuhren Achterbahn. Als ich auf die Wohnzimmeruhr sah, stellte ich fest, dass der Abend weit fortgeschritten war - bereits nach 22 Uhr!
Eine halbe Stunde später lag Bastian im Bett und schlief sofort ein. Ich ging zurück ins Wohnzimmer. Und obwohl es schon sehr spät war, nahm ich das Telefon und wählte die Nummer von Doris, Inas Freundin und Patentante von Bastian. Sie war fast ein Teil der Familie geworden und teilte immer unsere Sorgen und Nöte. Und ich brauchte jetzt jemanden mit dem ich reden konnte!
»Ina hat mich verlassen«, sagte ich, und konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich erklärte ihr in kurzen Sätzen was passiert war. Und Doris sagte mir zu, dass sie schnell vorbeikommen würde.
Eine halbe Stunde später stand sie vor der Tür. »Was ist bloß mit Ina los? Ich versteh sie einfach nicht mehr«, sagte sie. »Du machst doch alles für sie. Ist denn irgendwas vorgefallen, von Deiner Seite?«
»Nein«, antwortete ich. »Ich hab mir immer die größte Mühe gegeben. Ich nehm´ ihr viel Arbeit ab, kümmere mich um den Kleinen. Ich lieb sie doch! Ich versteh die Welt nicht mehr. Das muss mit ihrer Arbeit zu tun haben. Sie lässt sich einfach nicht helfen. Ich hab ihr sogar vorgeschlagen, dass sie kündigen soll. Wir würden finanziell schon irgendwie klarkommen. Aber sie will einfach nicht!«
»Also irgendwie hört sich das alles an, als ob Ina eine Psychose hat«, überlegte Doris. »Ihre nervlichen Zusammenbrüche deuten irgendwie darauf hin.«
»Ja, ich hab ihr auch bereits gesagt, dass sie Hilfe bräuchte. Aber sie ist total ausgerastet. Sie meinte, ICH wäre der Kranke von uns beiden. Völlig kolerisch sei ich. Aber vielleicht liegt es ja wirklich an mir.«
»Naja, ganz einfach bist Du sicherlich nicht. Aber das kann doch nicht der Grund für ihr Verhalten sein«, sagte Doris beruhigend.
Wir redeten noch eine ganze Zeit. Ich war völlig am Boden zerstört - konnte die Situation nicht fassen.
»Ich bin für Dich und Bastian da«, sagte sie, als sie sich verabschiedete. »Halt mich auf dem Laufenden - und pass auf Euch beide auf.«
Ich konnte die Nacht kaum schlafen. Immer wieder überlegte ich, was ich wohl falsch gemacht hatte. Aber ich war mir keiner Schuld bewusst.
Wie sollte es jetzt weitergehen? Am Montag müsste ich zur Arbeit, aber wo könnte ich Bastian während der Arbeitszeit unterbringen? Und wie sollte ich ihm erklären was mit seiner Mama los ist - warum sie nicht zuhause war! Ich wusste doch, wie sehr er an seiner Mutter hing. Wie sollte dieser kleine Kerl das alles begreifen? Ich zermarterte mir das Gehirn und fühlte mich unsagbar schlecht.
Eines wurde mir jedoch klar - ich musste irgendeine Lösung finden. Und ich würde um Ina und meine Familie kämpfen!
Ich wurde früh wach am Sonntagmorgen. Bastian war schon gegen 6 Uhr in mein Bett gekrabbelt. Er liebte das Kuscheln mit Mama und Papa, … nur Mama war ja nicht da. Mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich mich nun vorerst alleine um meinen kleinen Schatz kümmern musste - … und ich war hundemüde!
»Wann kommt Mama denn wieder?«, fragte er mich. Eine unangenehme Frage. Fragen, auf die man keine Antwort weiß, sind immer unangenehm.
»Bald«, antwortete ich und stand auf. »Ich mach uns jetzt Frühstück.«
Wenig später saßen wir in der Küche. Ich überlegte, wie ich den ganz normalen Alltagstrott in den Griff bekommen könnte. Da fielen mir unsere Nachbarn ein, die zwei Häuser entfernt wohnten und vier Kinder hatten - drei Jungs und ein Mädchen. Bastian spielte oft mit ihnen, und besonders befreundet war er mit Lasse, der zwei Jahre älter war. »Basti, ich geh gleich mal kurz zu Lasses Mama. Dauert nicht lange. Wartest Du auf mich?«
Ich klingelte, und Lasses Mutter öffnete die Tür.
»Christine, ich brauch Deine Hilfe«, sagte ich und trat ein. Dann schilderte ich meine Situation. Es war nicht unbedingt angenehm meine Probleme vor ihr auszubreiten, aber was sollte ich machen.
»Kein Ding Bodo, Du kannst ihn vor der Arbeit zu uns bringen. Ich fahr ihn dann um 8 Uhr in den Kindergarten und hol ihn auch wieder ab. Wenn Du nach der Arbeit wieder zuhause bist, nimmst Du ihn wieder zu Dir.«
Mir fiel eine Last von den Schultern.
»Ich weiß garnicht, wie ich Dir danken soll«, sagte ich, als ich mich wieder auf den Weg nachhause machte.
Als ich Bastian erzählte, dass ich ihn jeden Morgens zu den Boisens bringen würde und er den ganzen Tag mit Lasse spielen könnte, war er begeistert. Trotzdem war mir nicht wohl dabei. Denn ich müsste ihn nun immer um 5 Uhr morgens wecken. Das war für uns beide sehr früh. Aber es nützte nichts.
»Wenn Du möchtest, darfst Du jetzt zu Lasse zum Spielen gehen. Und heute Nachmittag unternehmen wir was zusammen«.
Ich wusch ihn, zog ihn an. Und obwohl mir nicht danach war, alberten wir wie immer dabei herum.
»Ich hab Dich lieb.« Ich drückte meinen kleinen Sohn.
»Ich hab Dich auch lieb, Papa.«
Dann öffnete ich die Haustür und winkte ihm nach, als er sich zu seinem Kumpel aufmachte.
Hinter unserem Grundstück befand sich das Haus von Frau Dr. Mehring-Leupold. Seit etwa einem Jahr wohnte sie dort, war alleinerziehende Mutter von zwei Mädchen - und Psychiaterin. Wir kannten uns mittlerweile gut, weil Ina manchmal auf ihre Mädchen aufpasste. Beide waren im Grundschulalter, und wenn sie aus der Schule kamen, war ihre Mutter noch in der Praxis.
Ich nahm mir vor, Frau Mehring-Leupold anzusprechen. Vielleicht könnte sie mir einen Rat geben. Schließlich kannte sie Ina, und von Berufswegen waren ihr solche Situationen nicht fremd. Also klingelte ich an ihrer Haustür.
»Kommen Sie rein«. Freundlich begrüßte sie mich.
»Es ist mir äußerst unangenehm, aber ich brauche Ihren Rat«, sagte ich und erzählte, was passiert war. Ich sprach von Inas Schlaflosigkeit und wie sich langsam alles entwickelt hatte. Von meinen Sorgen, dass Bastian darunter leiden würde.
»Solche Fälle sind mir zuhauf bekannt. Bringen Sie ihre Frau dazu, mich in meiner Praxis aufzusuchen«, schlug sie vor.
»Das wird ein Problem, denn sie ist davon überzeugt, dass ICH derjenige sei, der zum Psychiater müsste«, entgegnete ich.
»Aber im Moment ist es die einzige Möglichkeit. Versuchen Sie es. Sie können jederzeit zu mir kommen, wenn es weitere Probleme gibt.«
Den Nachmittag war ich mit Bastian auf dem Spielplatz gewesen. Ich unterdrückte meinen Schwermut - er sollte einfach Spaß haben.
Am Abend - ich hatte Bastian bereits ins Bett gebracht - rief mich Doris an. »Ich hab mit Ina telefoniert«, sagte sie. »Die ist ja völlig von der Rolle. So kenn ich sie garnicht. Manchmal redete sie richtig wirr. Ich habe den Eindruck, dass sie vorhat, Bastian morgen aus dem Kindergarten abzuholen. Du musst unbedingt aufpassen!«
Das durfte nicht sein. Ich konnte doch nicht zulassen, dass Ina in ihrem Zustand Bastian zu sich nahm! Allerdings hatte ich gleichzeitig ein schlechtes Gewissen. Bastian war doch auch Inas Kind. Sie war doch schließlich seine Mutter. Aber würde sie mir Bastian wegnehmen wollen? Ich beschloss jetzt, in die Offensive zu gehen. Ich würde mir Urlaub nehmen, Bastian nicht in den Kindergarten schicken, und dann Ina am Montag aufsuchen.
Was blieb mir auch anderes übrig? Telefonieren wollte sie ja nicht mit mir. Das hatte mir Gerd am Telefon gesagt, als ich versuchte, sie anzurufen.
»Tut mir leid«, hatte Gerd gesagt, »sie will nicht mit Dir reden.«
Es war bereits sehr spät. Aber ich ging nochmals zu Christine, der Nachbarin, die Bastian in den Kindergarten bringen sollte.
»Ich nehm´ mir frei. Ich behalte Bastian am Montag zuhause.« Ich erklärte ihr die Gründe für meine Entscheidung. »Aber ich komm auf Dich zurück.«
Montagmorgen rief ich in der Firma an, erklärte Herrn Jargstorff meine Not und nahm mir kurzfristig frei. Anschließend telefonierte ich mit dem Kindergarten und teilte mit, dass Bastian für eine unbestimmte Zeit zuhause bleiben würde. Gründe brauchte ich in diesem Fall ja nicht zu nennen.
Am späten Vormittag meldete sich Ina telefonisch. Sie beschimpfte mich sofort und fragte, warum ich Bastian nicht in den Kindergarten gebracht hätte.
»Ina, Du bist krank. Solange sich Dein Zustand nicht ändert, lass ich Dich mit Bastian nicht allein!«
Ina war wütend und tobte!
»Ich mach Dir einen Vorschlag«, sagte ich. »Ich komm mit Bastian zu Dir und dann reden wir.« Doch Ina blockte ab. Nein, sie wollte mich nicht sehen!
»Okay, dann eben nicht«, erwiderte ich verärgert und legte auf.
Wieder suchte ich meine Nachbarin auf. »Was soll ich nur machen. Ewig bekomme ich keinen Urlaub. Aber ich will Bastian nicht in den Kindergarten geben. Dann hab ich keine Kontrolle mehr.« Ich war völlig ratlos.
»Ich hätte da eine Idee«, bemerkte Christine. »Ich gebe Basti in den gleichen Kindergarten wie Lasse. Das wird schon irgendwie gehen. Und den Jungs wird das sicher gefallen.«
Tatsächlich, das war eine Möglichkeit!
Am Dienstagmorgen stand ich um 5 Uhr auf, weckte Bastian, machte ihm sein Frühstück und zog ihm seine Wintersachen an. Das Anziehen dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Denn er war noch ziemlich müde, und draußen war es frostig. Wieder hatte ich ein schlechtes Gewissen. Was tat ich ihm nur an. Er war doch noch so klein.
Bloß nichts vergessen! Handschuhe, Mütze, Schal - Frühstücksdose für den Kindergarten. »Ich hol Dich nach der Arbeit von Lasse ab, aber dann ist es schon dunkel. Wartest Du auf mich?« Ich nahm ihn in die Arme und drückte ihn. Dann lieferte ich Bastian bei den Boisens ab. Bastian freute sich auf seinen Spielkameraden, doch mir fiel der Abschied ziemlich schwer.
Um 17 Uhr würde ich wieder zuhause sein. Und dann blieb uns nicht viel Zeit - vielleicht drei Stunden. Das ist einfach zuwenig, wenn ein 3-jähriger nur wenige Stunden pro Tag ein Zuhause hat. In mir machten sich enorme Schuldgefühle breit.
Dazu kam, dass die Adventszeit begann. Und ich hatte noch nicht einmal einen Adventskalender für Bastian. Bisher hatte sich ja Ina um diese Dinge gekümmert und wir fanden, dass die Vorweihnachtszeit etwas Wichtiges für Kinder war. Deshalb hatten wir es immer schön für unseren kleinen Sohn machen wollen. Bastian freute sich so sehr auf die Wochen vor Weihnachten - wie eben alle Kinder. Ich wollte und musste mir etwas einfallen lassen!
Mich auf meinen Job zu konzentrieren, machte mir Schwierigkeiten. Meine Gedanken kreisten permanent um meine private Situation.
Zu meiner Kollegin Birgit, der Chefsekretärin, hatte ich einen guten Draht. »Hast Du Probleme?«, fragte sie mich, als sie kurz vor Mittag in mein Büro kam, um mir ein paar Unterlagen zu bringen. Ich erzählte ihr von dem Dilemma, in dem ich steckte - von meiner Sorge um Bastian.
»Pass mal auf«, sagte sie, »einen Adventskalender und etwas zum Nikolaustag besorg ich Dir. Dann hast du ein Problem weniger. Hier kommt doch alles Mögliche in der Vorweihnachtszeit von Kunden rein. Da ist genug für Deinen Kleinen dabei. Sogar kleine Spielzeuge.«
Auf die Idee war ich noch garnicht gekommen. Und auch Herr Jargstorff brachte mir einen Weihnachtsstrumpf mit Süßigkeiten.
Es war bereits dunkel, als ich Bastian bei Christine abholte. Er freute sich, als ich an der Tür klingelte. Und beim Abendbrot erzählte mir mein Kleiner, was er tagsüber alles erlebt hatte. Ein Bild hatte er mir gemalt - wie 3-Jährige eben so malen. Auf den ersten Blick war für mich nicht alles sofort zu erkennen. Aber Bastian erklärte: »Das ist Mama, das ist Papa, und das ist Bastian.«
Mein Brustkorb zog sich zusammen.
Als ich ihn in sein Bett brachte, hockte ich am Fußende und spielte ihm etwas mit seinen Kasperle-Puppen vor. Bastian mochte das immer besonders und wurde normalerweise immer munterer. Nur diesmal schlief er ziemlich rasch ein. Es war wohl doch ein sehr langer Tag für ihn gewesen.
Leise stand ich auf und löschte das Licht.
Jetzt war ich wieder allein mit mir. Ich fühlte mich sauschlecht und einsam. So konnte es doch nicht weitergehn!
Am Wochenende wollte ich alles klären. Und zur Not würde ich Ina unter Druck setzen! Ihr sogar damit drohen, Bastian nicht zu ihr zu lassen. Wohlfühlen würde ich mich nicht dabei, aber vielleicht würde die Drohung bewirken, dass sie endlich zur Vernunft kommt!
Am Samstagvormittag schnappte ich mir Bastian. »Wir gehen jetzt zu Mama. Es wird Zeit, dass sie endlich nach Hause kommt.«
Natürlich hatte ich mich nicht angemeldet und daher war Ina etwas überrascht, als sie die Tür zu Gerds Wohnung öffnete.
»Wir müssen reden«, sagte ich und trat ein.
Bastian freute sich, seine Mama zu sehen. Auch Ina freute sich sichtlich, ihren kleinen Jungen in die Arme schließen zu können.
Wir gingen in das kleine Zimmer, in dem Ina zurzeit wohnte.
»Ina, so geht es nicht weiter. Ich bin nicht bereit dieses Theater weiter mitzumachen«, sagte ich während wir uns auf ein altes Sofa setzten. »Ich will, dass Du nach Hause kommst.«
»Nein, ich komme nicht zurück«, antwortete sie.
Bastian sah mich an, aber sagte nichts.
»Warum nicht. Was hab ich denn getan? Ich kapier das alles nicht. Bastian vermisst Dich - und ich auch!«
»Ich halte das einfach nicht zuhause aus. Dein kolerisches Verhalten ist für mich nicht mehr zu ertragen«, sagte sie.
Sicher war es nicht immer einfach mit mir, aber ich gab mir doch große Mühe ein guter Ehemann und Vater zu sein - und bisher war doch alles gut gewesen. Ich blickte da einfach nicht mehr durch.
Inas ganze Gestik und Mimik wirkte befremdlich auf mich. Frau Dr. Mehring-Leupold hat sicherlich recht, dachte ich mir. Das war im Moment nicht mehr meine Ina. Und mir tat es leid, dass Bastian das alles miterleben musste. Gerne hätte ich dafür gesorgt, dass er nicht mitbekam wie seine Mama und sein Papa sich stritten. Er war zwar noch klein, doch ich wusste, dass er alles verstand, was hier gerade abging. Ein Albtraum war das! Ich redete immer wieder auf Ina ein. Sie solle doch endlich vernünftig sein und sich helfen lassen. Aber Ina wollte partout nicht!
Bastian zog mich am Ärmel: »Papa ich will wieder nach Hause.«
»Aber Mama soll doch mitkommen«, sagte ich und sah ihn an.
»Ich will nicht, dass Mama mitkommt«, sagte er ungeduldig. »Ich will nur mit Dir nachhause, Papa. Mama soll hierbleiben.«
Ich war völlig geschockt! Ich wusste doch, wie sehr er seine Mama liebte - und nun dieser Ausspruch. »Gut Bastian«, sagte ich, »hol schon mal Deine Jacke.«
Ich sah Ina an und fragte mich, ob sie überhaupt verstand, was Bastian gerade von sich gegeben hatte. »Ina, überleg`s Dir. Du kannst jederzeit zurückkommen.«
Ich nahm die kleine Hand von Bastian. Er wollte sich noch nicht einmal von Ina verabschieden, sondern marschierte schnurstracks Richtung Haustür. Mir tat es weh. Und normalerweise müsste es Ina doch ebenfalls schmerzen. Doch ich erkannte keinerlei Regung an ihr.
Bastian ging stumm an meiner Hand. Er sagte nichts, obwohl er doch sonst ohne Unterlass plapperte. Und ich, … ich sagte auch nichts. Hoffentlich hat das alles keine Auswirkungen auf seine Seele, ging es mir durch den Kopf und ich nahm mir vor, mich noch intensiver um ihn zu kümmern. Ich würde ihn mir niemals nehmen lassen – Niemals! Innerlich fühlte ich mich total leer. Was war aus uns, aus unserem Leben, geworden. Wieso so urplötzlich? Vor zwei Wochen war doch noch alles gut. Natürlich war es schwieriger geworden - aber Ina war doch immer noch die Frau meines Lebens. Sie konnte sich doch nicht von gestern auf heute so verändert haben.
Am nächsten Morgen war der 6. Dezember - Nikolaustag. Ich hatte am späten Abend - Bastian schlief bereits - seine Schuhe mit Süßigkeiten gefüllt und ein kleines Spielzeug dazugepackt. Tränen liefen mir dabei übers Gesicht. Allein hatte ich mich gefühlt, völlig hilflos. Ich war schwach und musste Bastian zuliebe stark sein.
Nun saß ich grübelnd vor einer Tasse Kaffee in der Küche und hörte ein Poltern aus dem Obergeschoß.
»Papa«, rief Basti aufgeregt, »Der Nikolaus war da! Komm schnell gucken! Boah, … so viele Naschies!«
Ich ging die Treppe ins Obergeschoß hinauf. Bastian stand im Schlafanzug und großen leuchtenden Augen da und zeigte auf seine gefüllten Schuhe. Und für einen Augenblick vergaß ich alle meine Sorgen. Weihnachtszeit mit eigenen kleinen Kindern ist etwas unsagbar Schönes!
Es klingelte an der Haustür! »Moment, ich seh´ mal nach wer das ist. Aber nicht alle Schokolade auf einmal essen«, rief ich Bastian zu, während ich die Treppe hinunter zur Haustür eilte.
Als ich die Tür öffnete, sah ich erstaunt in das Gesicht von Ina.
»Ich hab mich entschieden wieder zu Euch zu kommen«, sagte sie.
Ich nahm sie in die Arme. »Schön, dass Du wieder da bist. Ich verspreche Dir, dass ich mir Mühe geben werde, mich zu ändern.«
»Basti«, rief ich nach oben, »Mama ist wieder da!«
»Bleib oben, ich komm zu Dir«, rief Ina ebenfalls und eilte die Treppe hinauf.
Ich blieb unten. Es war wohl besser, ich würde jetzt nicht bei den Beiden sein. Es gibt Momente, in denen sind Drei einer zuviel. Aber ich war in diesem Augenblick glücklich! Alles würde hoffentlich wieder gut werden!
**********
In den kommenden Tagen schien sich unser Familienleben allmählich zu normalisieren. Ina suchte sogar die psychiatrische Praxis von Frau Dr. Mehring-Leupold auf. Doch es brachte nichts, denn sie war überzeugt davon, dass ihr nichts fehlte.
Ich war da völlig anderer Meinung. Doch ich sagte nichts. Ich war froh, dass sie wieder da war. Auch sprach ich Ina nicht mehr darauf an, warum es soweit gekommen war. Ich vermied alles, was zu Diskussionen hätte führen können.
In der nächsten Zeit versuchte ich, Ina noch mehr häusliche Arbeit abzunehmen. Und manchmal schlief sie tatsächlich am Nachmittag auf dem Sofa ein. Schlaf war jetzt enorm wichtig.
Sie hatte sich krankschreiben lassen. Und immer wieder schlug ich ihr vor, ihren Job im Krankenhaus endgültig zu kündigen und einfach nur Hausfrau zu sein. Doch Ina wollte nicht. Sie war der festen Überzeugung, wir würden ihren Verdienst brauchen. Meinen Einwand, wir würden auch so über die Runden kommen, ignorierte sie. So konnte ich nur hoffen, dass sie bald ihr psychisches Gleichgewicht wiederfinden würde.
Es vergingen die Tage. Und erst am Heiligabend hatte ich den Eindruck, dass es Ina wieder besserging.