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2. Der Schwindler Eine Maske aufbauen

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Leonard Zelig ist der Inbegriff des Nebbich (jiddisch für Nichtsnutz). In Woody Allens heiterem und nachdenklichem Film Zelig ist er ein gefeiertes Nichts, das überall hinpasst, weil es sich jeder beliebigen Situation anpassen kann. Zelig reitet in einer Parade durch den Heldencanyon von Mohalles; er steht zwischen den ehemaligen US-Präsidenten Herbert Hoover und Calvin Coolidge; er albert mit Preisboxer Jack Dempsey herum und plaudert mit Bühnenautor Eugene O’Neill übers Theater. Als Hitler seine Anhänger in Nürnberg versammelt, steht Leonard natürlich mit auf dem Podium.

»Er hat keine eigene Persönlichkeit, deshalb schlüpft er in die Rolle jeder starken Persönlichkeit, der er begegnet. Bei den Chinesen kommt er geradewegs aus China. Trifft er einen Rabbi, wachsen ihm auf wundersame Weise Bart und Schläfenlocken. Er äfft den Jargon der Psychiater nach und streicht sich mit feierlichem Ernst übers Kinn. Im Vatikan gehört er zum geistlichen Gefolge von Papst Pius XI. Im Frühjahrsmanöver trägt er eine Yankee-Uniform und steht im Baseballkreis, um Babe Ruth, den berühmtesten Baseballspieler Amerikas, zu schlagen. Er nimmt die schwarze Haut des Jazztrompeters an, die Speckrollen eines Dickwansts, das Profil eines Indianers. Er ist ein Chamäleon. Er verändert Hautfarbe, Akzent und Gestalt, sowie die Welt um ihn herum sich verändert. Er hat keine eigenen Ideen und Meinungen, er passt sich einfach an. Er möchte nur sicher sein, dazugehören, akzeptiert und gemocht werden … Er ist berühmt dafür, ein Nichts zu sein, ein Nicht-Mensch.«16

Ich könnte über Allens Karikatur des Menschen, der allen gefallen will, hinweggehen, wenn ich nicht so viel von Leonard Zelig an mir selbst entdecken würde. Der absolute Schauspieler folgt meinen egoistischen Wünschen. Er trägt tausend Masken. Die glänzende Fassade muss um jeden Preis aufrechterhalten werden. Der fromme Hochstapler und Maskenträger zittert bei dem Gedanken, er könnte das Missfallen oder den Zorn der anderen auf sich ziehen. Unfähig zur direkten Rede, windet er sich; er quasselt und zaudert und schweigt aus Angst vor Ablehnung. »Das falsche Ich spielt seine trügerische Rolle, indem es uns angeblich schützt – doch in einer Weise, die darauf programmiert ist, die Angst in uns wach zu halten: die Angst davor, im Stich gelassen zu werden, den Halt zu verlieren, es nicht allein zu schaffen, nicht allein sein zu können.« (James Masterson)17

Fromme Schauspieler und Hochstapler leben in der Angst. Jahrelang habe ich mich zum Beispiel gerühmt, pünktlich zu sein. Doch in der Stille und Einsamkeit der Berghütte in Colorado wurde mir klar, dass meine Pünktlichkeit in der Angst vor menschlichem Tadel wurzelte. Mahnende Stimmen von Autoritätspersonen aus der Kindheit haben sich in meiner Seele eingenistet und warnen noch heute vor Rüffeln und Strafe.

Schwindlern liegt daran, akzeptiert und gelobt zu werden. Wegen des lähmenden Drangs, anderen zu gefallen, können sie nicht mit derselben Zuversicht Nein sagen, mit der sie Ja sagen. Und so geben sie sich selbst in Menschen, Projekte und Angelegenheiten hinein, nicht aus persönlichem Interesse, sondern aus Angst, den Erwartungen der anderen sonst nicht zu entsprechen.

Dieses falsche Ich entsteht, wenn wir als Kinder nicht richtig geliebt, wenn wir abgelehnt oder verlassen werden. Der Schwindler ist der klassische Co-Abhängige. Um anerkannt zu werden, unterdrückt oder versteckt das falsche Ich die eigenen Emotionen. Ehrliche Gefühle werden damit unmöglich. John Bradshaw definiert Co-Abhängigkeit als eine Krankheit, »die von einem Identitätsverlust gekennzeichnet ist. Co-abhängig zu sein bedeutet, die eigenen Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche nicht zu kennen«.18 Wenn wir aus einem falschen Selbst leben, wächst in uns der zwingende Wunsch, der Öffentlichkeit ein perfektes Bild von uns zu präsentieren. Alle sollen uns bewundern, aber niemand kennt uns. Das Leben des Schwindlers wird zur endlosen Achterbahn, einem Auf und Ab zwischen Hochgefühl und Depression.

Das falsche Ich braucht Erfahrungen von außen, um einen persönlichen Sinn zu finden. Das Streben nach Geld und Macht, nach Glanz oder sexuellem Heldentum, nach Anerkennung und Status stärkt die eigene Bedeutung und schafft die Illusion, Erfolg zu haben. Der Schwindler ist, was er tut.

Lange Jahre habe ich mich durch meine »Leistungen« im Dienst für Gott vor meinem wahren Ich versteckt. Durch Predigten, Bücher und Geschichten schuf ich mir meine Identität. Wenn die Mehrheit meiner christlichen Zuhörer und Leser gut von mir dachte – so versuchte ich mir selbst zu erklären –, war mit mir alles in Ordnung. Je mehr ich in den Erfolg im Dienst investierte, desto echter wurde der Hochstapler. Der Hochstapler bringt uns dazu, Unwichtiges für wichtig zu halten, das Unwesentliche mit einem falschen Glanz zu umgeben und uns vom Echten abzuwenden.

Das falsche Ich macht uns blind dafür, die innere Leere und Hohlheit zu erkennen und im rechten Licht zu sehen. Wir können nicht zugeben, dass es in uns dunkel ist. Im Gegenteil, der Hochstapler stellt seine Finsternis als das hellste Licht dar, er beschönigt die Wahrheit und verdreht die Realität. Der Apostel Johannes dagegen schreibt: »Wenn wir sagen, dass wir keine Sünde haben, führen wir uns selbst in die Irre und die Wahrheit ist nicht in uns.« (1. Johannes 1,8)

Weil es sich so sehr nach dem Lob sehnt, das ihm in der Kindheit vorenthalten wurde, stolpert mein falsches Ich mit einem geradezu unersättlichen Appetit nach Bestätigung in jeden neuen Tag hinein. Wenn die Fassade intakt ist, geht mir jedes Mal, wenn ich einen Raum betrete, in dem sich eine Hand voll Menschen befindet, sozusagen eine stumme Trompete voraus, die verkündet: »Da bin ich«, während mein mit Christus in Gott verborgenes wahres Ich ruft: »Oh, da seid ihr ja!« Der Hochstapler in mir wirkt ähnlich wie der Alkohol für den Alkoholiker. Er ist durchtrieben, raffiniert, stark – und heimtückisch.

Die Hauptfigur in einem der frühen Romane von Susan Howatch, Blendende Bilder, ist Charles Ashworth, ein junger und brillanter anglikanischer Theologe, der plötzlich einen völligen seelischen Zusammenbruch erleidet. Von seinem Vater entfremdet, sehnt er sich gleichzeitig nach dem väterlichen Segen. Deshalb macht er sich nun auf den Weg ins Kloster, um seinen geistlichen Vater, einen älteren Mann namens Jon Darrow, aufzusuchen. Ashworth fürchtet, als bestechlicher Kirchenmann und geistlicher Versager bloßgestellt zu werden. Sein Schwindler greift ein:

»Der Gedanke gemeinen Versagens war entsetzlich genug, aber die Vorstellung, Darrow zu enttäuschen, war unerträglich. Voller Panik sann ich auf eine Lösung, die mich in meiner Verletzlichkeit schützen konnte, und als Darrow an jenem Abend wieder in mein Zimmer trat, sagte meine blendende Fassade zu ihm: ›Ich wünschte, Sie würden mir ein bisschen mehr von sich selbst erzählen, Pater. Ich würde gern noch so viel von Ihnen wissen.‹

Kaum waren die Worte gesprochen, da spürte ich, wie ich ruhig wurde. Dies war eine unfehlbare Methode, das Wohlwollen älterer Herren zu gewinnen. Ich fragte sie nach ihrer Vergangenheit, hörte mit dem aufmerksamen Interesse des Musterschülers zu und wurde mit der dankbaren Zuwendung väterlicher Güte belohnt, die blind blieb für alle Fehler und Schwächen, die ich so verzweifelt zu verbergen suchte. ›Erzählen Sie mir von Ihrer Zeit bei der Navy!‹, drängte ich Darrow mit der ganzen Wärme und allem Charme, den ich aufbringen konnte. Doch während ich voller Zuversicht auf die Antwort wartete, die meine Angst vor der Untauglichkeit betäuben würde, schwieg Darrow … In der Stille wurden mir die Manöver meiner wendenden Fassade schmerzlich bewusst.«19

Mein Hochstapler achtet aufmerksam auf Größe, Form und Farbe der Bandagen, die meine Nichtigkeit verstecken sollen. Das falsche Ich überredet mich, mich um mein Gewicht zu sorgen. Wenn ich mich zu einem Becher Vanilleeis hinreißen lasse und die Waage am nächsten Morgen unter der Last ächzt, bin ich niedergeschmettert. Ein wunderschöner Sonnentag will mich ins Freie locken, doch für den selbstverliebten Hochstapler ist die Rose verblüht. Ich denke, Jesus lächelt über diese kleinen Eitelkeiten (wie ich mich selbst im Schaufenster begutachte, während ich so tue, als betrachtete ich die Auslagen), aber sie lenken meine Aufmerksamkeit von Gott weg, der in mir wohnt, und rauben mir vorübergehend die Freude an seiner Gegenwart. Das falsche Ich jedoch rechtfertigt die Sorge um meine Taille und mein allgemeines Aussehen und flüstert: »Wenn du dick und nachlässig aussiehst, schadet das deiner Glaubwürdigkeit.«

Ich vermute, ich stehe mit diesen Problemen nicht allein. Die narzisstische Beschäftigung mit der Gewichtskontrolle ist eine hervorragende List für den Schwindler. Auch wenn der Gesundheitsfaktor sicher wichtig und berechtigt ist, ist es absolut grotesk, wie viel Zeit und Energie darauf verschwendet wird, eine schlanke Figur zu er- und zu behalten. Kein Snack außer der Reihe, keine spontane Knabberei, keine unregistrierte Kalorie, keine Erdbeere, die nicht eingeplant war. Von allen Seiten werden professionelle Anleitungen angeboten, Bücher und Zeitschriften konsultiert, Fitness-Studios empfohlen und die Vorzüge einer pflanzlichen, eiweißreichen Ernährung im Fernsehen diskutiert. Was ist die geistliche Ekstase im Vergleich zu dem exquisiten Vergnügen, wie ein Model auszusehen? Um Kardinal Wolsey abzuändern: »Ich wünschte, ich hätte meinem Gott so gedient, wie ich auf meine Taille geachtet habe!«

Kind in seinen Armen

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