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Der äußere Schein ist alles

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Der Hochstapler will gesehen werden. Das krankhafte Verlangen nach Komplimenten speist seine vergebliche Jagd nach fleischlicher Befriedigung mit immer neuer Energie. Aus der Fassade, mit der er sich umgibt, bezieht er seine Identität. Mehr scheinen als sein. Der äußere Schein ist alles. Als ich beim Lesen eines gerade erschienenen Buches etwa in der Mitte las, dass der Autor etwas von mir zitierte, durchzuckte mich augenblicklich ein Gefühl der Genugtuung und der eigenen Wichtigkeit. Als ich mich dann im Gebet zu Jesus wandte und mein wahres Ich befragte, wurde der allgegenwärtige Hochstapler einmal mehr entlarvt.

»Jeder Mensch wird von einer nur in der Illusion existierenden Person beschattet, einem falschen Ich«, beobachtete Thomas Merton. Und er erklärte weiter: »Das ist der Mann, der ich gern sein möchte, den es aber nicht geben kann, weil Gott ihn nicht kennt. Und von Gott nicht gekannt zu werden, das ist wirklich zu viel der Privatsphäre. Mein falsches und privates Ich ist jenes, das außerhalb der Reichweite von Gottes Willen und Gottes Liebe existieren will – außerhalb der Wirklichkeit und außerhalb des Lebens. Und ein solches Ich kann nur eine Illusion sein. Wir sind nicht besonders geschickt darin, Illusionen zu erkennen, am wenigsten jene, die wir über uns selbst hegen … Für die meisten Menschen auf der Welt gibt es keine größere subjektive Wirklichkeit als dieses falsche Ich, das es nicht geben kann. Ein Leben, das sich ganz dem Kult um diesen Schatten hingibt, das ist es, was man ein Leben der Sünde nennt.«20

Mertons Begriff der Sünde konzentriert sich nicht vornehmlich auf einzelne sündige Handlungen, sondern auf die grundlegenden Entscheidungen für ein Leben des Scheins. Es könne nur zwei Arten der Liebe geben, schrieb Augustinus, die Liebe Gottes, über der man das Ich vergisst, und die Liebe des Ichs, die zum Vergessen und Leugnen Gottes führt. Die grundlegende Entscheidung geschieht im Kern unseres Wesens und gewinnt dann in den einzelnen Entscheidungen des täglichen Lebens ihre Gestalt – entweder im Schatten-Ich, das von unseren egoistischen Wünschen regiert wird, oder in unserem wahren Ich, das mit Christus in Gott verborgen ist.

Hochstapler beziehen ihre Identität nicht nur aus ihrer Leistung, sondern auch aus zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie wollen sich mit berühmten Menschen gutstellen, weil das ihren eigenen Ruf und ihr Selbstwertgefühl fördert.

An einem einsamen Abend in den Rocky Mountains hörte ich die folgende Botschaft: »Brennan, du bist bestimmten Gemeindegliedern gegenüber voll da und schenkst ihnen deine ungeteilte Aufmerksamkeit, aber bei anderen bist du nicht ganz da. Wer Format, Wohlstand oder Ausstrahlung besitzt, wen du interessant, attraktiv oder hübsch findest, der bekommt deine ungeteilte Aufmerksamkeit, aber die Menschen, die du für gewöhnlich oder schlampig hältst, die aus den unteren Schichten mit den niedrigen Aufgaben, die nicht besungen oder gefeiert werden, erhalten nicht dieselbe Zuwendung. Brennan, das ist für mich keine Nebensache. Wie du täglich mit anderen umgehst, unabhängig von ihrem Status, das ist der wahre Glaubenstest.«

Später am Abend, kurz vor dem Einschlafen, tanzten verschiedene Bilder vor meinem inneren Auge. Carlton Hayes, ein phantastisch gebauter Athlet Anfang zwanzig, über einsneunzig groß, neunzig Kilo schwer, springt auf einem Trampolin und zeigt sein unwiderstehliches Zahnpasta-Lächeln. Um ihn hat sich eine Menschenmenge versammelt. Nun fängt er an, Seil zu hüpfen – eine blendende Demonstration von Koordinierung, Beweglichkeit und Anmut. Die Zuschauer klatschen. »Preis dem Herrn!«, ruft der Athlet.

Nun kommt Moe, ein Mann aus dem Betreuungstross, mit einem Energy drink in der Hand. Moe ist Anfang fünfzig, knapp einssiebzig und ziemlich rund. Er trägt ein verknittertes Hemd, der Kragen ist offen, der Schlips hängt schief. Moe hat einen schütteren Kranz filziger Haare von den Schläfen bis zum Hinterkopf, wo sie in einem Büschel grauschwarzer Strähnen zusammenlaufen. Der kleine Hilfsarbeiter ist unrasiert. Seine feisten Wangen und das Glasauge sorgen dafür, dass jeder schnell wegblickt.

Tragischer kleiner Typ, könnte man denken. Oder: schleimiger, missgünstiger Mitläufer.

Moe ist keins von beidem. Sein Herz ruht in der Liebe des Vaters. Er schiebt sich ganz unbefangen durch die Menge und reicht dem Helden voll natürlicher Würde das Glas Gatorade. Er fühlt sich in seiner Rolle als Diener so wohl wie eine Hand im Handschuh (denn genauso hat sich Jesus ihm zuerst offenbart, als Diener der Menschen, und sein Leben verändert). Moe hat keine Komplexe.

Am Abend, so träume ich weiter mit offenen Augen, wird Carlton Hayes beim Bankett der Vereinigung christlicher Sportler, die aus dem ganzen Land angereist kommen, die Festrede halten. Er wird darüber hinaus als achtfacher olympischer Goldmedaillen-Gewinner den Waterford-Pokal erhalten.

Fünftausend Personen versammeln sich im Ritz-Carlton-Hotel. Sterne und Sternchen aus der Welt der Politik, des Sports und des Showbusiness verteilen sich im Saal. Als Hayes aufs Podium steigt, hat die Menge gerade ein üppiges Mahl beendet. Die Rede des Hauptreferenten ist gespickt mit Hinweisen auf die Kraft Christi und die grenzenlose Dankbarkeit gegenüber Gott. Herzen werden angerührt; Frauen und Männer schämen sich ihrer Tränen nicht, dann klatschen sie donnernden Applaus.

Hinter dem glatten Vortrag verrät Carltons leerer Blick jedoch, dass die Worte nicht aus seiner Seele kommen. Der Starruhm hat sich zwischen ihn und Christus geschoben. Das persönliche Verhältnis zu Gott hat gelitten. Das leise Reden des Heiligen Geistes wird vom ohrenbetäubenden Applaus übertönt.

Vom Erfolg und dem Jubel der Menge getragen, schlendert der olympische Held gelöst von einem Tisch zum andern. Er will sich bei allen beliebt machen – bei den Kellnern angefangen bis hin zum Filmstar.

Im Red-Roof-Inn sitzt Moe vor dem Fernseher und verzehrt sein Tiefkühlmenü. Er ist nicht zum Bankett im Ritz-Carlton geladen, weil er, offen gesagt, nicht dazupassen würde. Oder wäre es etwa angebracht, dass ein dickbäuchiger, schäbiger Assistent mit Glasauge sich einen Stuhl neben Ronald Reagan oder Arnold Schwarzenegger zieht?

Moe setzt sich an den Tisch und schließt die Augen. Die Liebe des gekreuzigten Christus steigt in ihm auf. Seine Augen füllen sich mit Tränen. »Danke, Herr Jesus«, flüstert er und zieht den Plastikdeckel von der Mikrowellen-Lasagne. Dann schlägt er in seiner Bibel den 23. Psalm auf.

Auch ich kam in dem Traum vor. Wo verbrachte ich den Abend? Mein Hochstapler hatte sich einen Frack geliehen, und wir waren ins Ritz gegangen.

Am nächsten Morgen wachte ich um vier Uhr in meinem Holzhäuschen auf, duschte und rasierte mich, machte mir eine Tasse Kaffee und begann in der Bibel zu blättern. Meine Augen fielen auf eine Stelle im 2. Korintherbrief: »Also schätzen wir von jetzt an niemand mehr nur nach menschlichen Maßstäben ein« (5,16). Autsch! Ich schleppte mein falsches Ich sogar in meinen Träumen mit mir herum.

Ich fühle mit Charles Ashworth, der Romanfigur, deren geistlicher Mentor sagt: »Charles, lese ich wohl zu viel in Ihre Bemerkungen hinein, wenn ich schließe, dass es für Sie sehr wichtig ist, gemocht und gelobt zu werden?«

»Aber natürlich ist das wichtig«, erwidert Ashworth. »Ist es das nicht für jeden Menschen? Ist es nicht das, worum es im Leben überhaupt geht? Erfolg ist, wenn die Leute einen mögen und loben. Versagen ist, wenn man abgelehnt wird. Das weiß doch jeder.«21

Das Tragische ist, dass der Hochstapler in allen zwischenmenschlichen Beziehungen kein wirkliches Gefühl der Nähe erleben kann. Sein Narzissmus schließt andere aus. Weil er nicht fähig ist, sein eigenes Ich zu mögen, und nichts von seinen Gefühlen, seiner Intuition oder seinen Erkenntnissen weiß, ist er auch unempfindlich für die Stimmungen, Bedürfnisse und Träume anderer. Ein Austausch ist unmöglich. Der Hochstapler hat sein Leben um Leistungen, Erfolg, Geschäftigkeit und selbstzentrierte Aktivitäten herumgebaut, die ihm Lob und Anerkennung anderer einbringen.

»Es gehört zum Wesen des falschen Ichs, dass es uns daran hindert, die Wahrheit über uns selbst zu erkennen, den tieferen Grund unseres Unglücklichseins zu erforschen, uns so zu sehen, wie wir wirklich sind – verletzlich, verängstigt, voller Furcht und unfähig, unser wahres Ich an die Oberfläche zu lassen.«22

Warum gibt sich der Hochstapler mit einem so verkürzten Leben zufrieden? Erstens, weil es zu schmerzhaft ist, verdrängte Erinnerungen aus der Kindheit, die zum Auslöser für seine Selbsttäuschung wurden, wieder zuzulassen. Sie bleiben deshalb sorgfältig verborgen. Schwache Stimmen aus der Vergangenheit lassen vage Erinnerungen an im Zorn verhängte Strafe und ein anschließendes Gefühl der Verlassenheit wach werden. »Das falsche Ich hat ein leistungsfähiges Abwehrsystem entwickelt, dessen Aufgabe darin besteht, Gefühle der Ablehnung nicht an sich heranzulassen, auch wenn damit das Bedürfnis nach Nähe geopfert wird. Das System wird während der ersten Lebensjahre aufgebaut, wenn es wichtig ist herauszufinden, was Mutters Missfallen hervorrufen könnte.«23

Der zweite Grund, weshalb der Hochstapler sich mit so wenig Leben zufrieden gibt, ist schlicht und einfach seine Feigheit. Als Kind konnte ich mich noch damit rechtfertigen, dass ich macht- und wehrlos war. Doch im Herbst des Lebens, nachdem ich so viel Liebe und Zuneigung erfahren habe und von endloser Bestätigung gestärkt bin, muss ich beschämt zugeben, dass ich noch immer aus der Angst heraus operiere. In Situationen offensichtlicher Ungerechtigkeit bin ich stumm geblieben. Während der Schwindler eine glänzende Leistung an den Tag legte, habe ich selbst in Beziehungen eine passive Rolle eingenommen, habe kreatives Denken erstickt, meine wahren Gefühle geleugnet, mich von anderen einschüchtern lassen und mein Verhalten damit gerechtfertigt, dass ich mir einredete, der Herr wolle mich als Friedensstifter … Aber zu welchem Preis?

Thomas Merton sagt, ein Leben, das sich dem Schatten widme, sei ein Leben der Sünde. Durch meine feige Weigerung – aus Angst vor Ablehnung –, aus meinem wahren Ich heraus zu denken, zu fühlen, zu handeln, zu reagieren und zu leben, habe ich gesündigt. Natürlich argumentiert der Schwindler »unbarmherzig, die Wurzel des Problems sei geringfügig und sollte übergangen werden, ›reife‹ Männer und Frauen würden sich nicht über solche Kleinigkeiten aufregen, das Gleichgewicht sollte bewahrt werden, selbst wenn den persönlichen Hoffnungen und Träumen damit unvernünftige Grenzen gesetzt werden und das Leben nur in verkürzter Form angenommen wird«.24

Kind in seinen Armen

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