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3. Der Geliebte

Das wahre Ich finden

Eines Morgens saß ein Professor in der Cafeteria eines Colleges beim Frühstück. Da »setzte sich ein Student mit Bürstenschnitt in lockerer Freizeitkleidung hinter einen hohen Berg Pfannkuchen. Er war ein sehr methodischer Kollege. Nach einem Gebet, das fast eine Minute dauerte, zog er aus seiner Aktentasche einen Leseständer für seine Bibel hervor, ein paar Clips, um die Seiten festzuhalten, einen grünen, einen roten und einen gelben Filzstift, eine Plastikflasche mit flüssiger Margarine, eine in Plastik eingewickelte Flasche mit Ahornsirup, eine Leinenserviette und eines dieser Frischhaltetücher mit Zitronenduft. Das Ganze sah aus wie die Zirkusnummer, wo zwölf Männer aus einem Auto kriechen, das nicht größer ist als eine Konservendose … Ich dachte, als nächstes würde er noch eine Munddusche und die Arche Noah hervorholen.«31

Diese Skizze lässt uns einen Blick auf das wahre Ich werfen – unbefangen, anspruchslos, ganz dem Leben zugewandt, dem Augenblick hingegeben und so selbstverständlich die Nähe Gottes einatmend, wie ein Fisch im Wasser schwimmt.

Der Glaube ist kein abgetrennter, isolierter Bereich unseres Lebens. Er ist vielmehr ein Lebensstil: das Leben selbst unter dem Blickwinkel des Glaubens. Heiligung besteht darin, mein wahres Ich zu entdecken, mich auf es zuzubewegen und aus ihm heraus zu leben.

In den Jahren im Kloster begann Thomas Merton zu erkennen, dass die höchste geistliche Entwicklung darin besteht, »normal« zu sein, »völlig Mensch zu werden, in einer Art, wie es nur wenigen Menschen gelingt, so einfach und natürlich sie selbst zu sein … das Maß dessen, was auch andere sein könnten, wenn die Gesellschaft sie nicht durch Neid oder Ehrgeiz oder Gier oder verzweifeltes Verlangen verbiegen würde«.32

Der 1987 verstorbene John Eagan war ein ganz normaler Mann. Ein unspektakulärer Highschool-Lehrer aus Milwaukee, der sich mehr als dreißig Jahre in der Jugendarbeit engagierte. Er hat nie ein Buch geschrieben, ist nie im Fernsehen aufgetreten, hat keine Massen bekehrt und ist auch nie in den Ruf besonderer Heiligkeit gelangt. Er aß, schlief, trank, machte Fahrradtouren, wanderte durch die Wälder, unterrichtete und betete. Und er führte ein Tagebuch, das kurz nach seinem Tod veröffentlicht wurde. Es ist die Geschichte eines ganz normalen Mannes, dessen Herz von Jesus Christus gewonnen und ganz von ihm eingenommen war. In der Einleitung heißt es: »Im Kern geht es in Johns Tagebuch darum, dass wir dem Adel unserer Seele – und das bedeutet Heiligung – selbst das größte Hindernis sind. Wir betrachten uns als unwürdige Knechte, und dieses Urteil wird zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Wir halten uns selbst für viel zu belanglos, um von einem Gott gebraucht zu werden, der selbst aus Dreck und Speichel Wunder wirken kann. Und so legt unsere falsche Demut einem ansonsten allmächtigen Gott Fesseln an.«33

Eagan, ein Mann mit herausragenden Schwächen und Charakterfehlern, hatte begriffen: Der Zerbruch gehört zum Wesen des Menschseins und wir müssen uns selbst vergeben, dass wir so unliebenswürdig, wankelmütig, unzulänglich, gereizt und dickbäuchig sind. Und er wusste, dass seine Sünden ihn nicht von Gott trennen konnten. Sie waren alle durch das Blut Jesu bezahlt. Voll Reue brachte er sein Schatten-Ich zum Kreuz und wagte es, aus der Vergebung zu leben. In Eagans Tagebuch hört man die Worte Mertons nachklingen: »Gott fordert mich, den Unwürdigen, auf, meine eigene und die Unwürdigkeit meiner Brüder zu vergessen und es zu wagen, in der Liebe vorwärts zu gehen, die uns alle versöhnt und in Gottes Ebenbild umgestaltet hat. Und über die anmaßende Vorstellung, überhaupt ›würdig‹ sein zu wollen, herzhaft zu lachen.«34

Damit das eingebildete Ich schrumpfte, führte Eagan mit konsequenter Treue ein Leben des kontemplativen Gebets. Während der stillen Woche, die er jedes Jahr mit seinem geistlichen Mentor verbrachte, traf ihn einmal die Erkenntnis seines wahren Ichs mit der Gewalt eines Vorschlaghammers. Am Morgen des sechsten Tages saß er mit seinem Mentor zusammen:

»An jenem Tag sagte Bob und hieb dabei mit der Faust auf den Tisch: ›… John, das ist deine Berufung, die Art, in der Gott dich ruft. Bete um eine Vertiefung seiner Liebe, ja, koste jeden Moment aus, in dem Gott gegenwärtig ist. Pflege deine kontemplative Ader, gib dich ihr hin, lass sie sein, suche Gott …‹

Dann sagt er etwas, worüber ich noch Jahre nachdenken werde. Er sagt es sehr bedächtig. Ich bitte ihn, es zu wiederholen, damit ich es aufschreiben kann. ›John, es geht darum, dass du den Herrn und seine große Liebe zu dir zur Grundlage deines persönlichen Wertes machst. Definiere dich ganz radikal als einen Menschen, der von Gott geliebt ist. Gottes Liebe zu dir und seine Erwählung machen deinen Wert aus. Nimm das an und lass es zum Wichtigsten in deinem ganzen Leben werden.‹

Wir diskutieren darüber. Der Grund für meinen Wert als Mensch ist nicht mein Besitz, mein Talent, nicht die Achtung anderer, mein Ruf, … nicht Ruhm und Anerkennung von Eltern oder Kindern, nicht Applaus und dass jeder einem sagt, wie wichtig man für die Sache ist … Ich bin verwurzelt in Gott, vor dem ich völlig bloß dastehe, jenem Gott, der mir sagt: ›Du bist mein lieber Sohn.‹«35 (Hervorh. B. M.)

Das normale Ich ist der unscheinbare Niemand, der im Winter vor Kälte zittert und im Sommer, wenn es heiß ist, schwitzt; das Ich, das den neuen Tag ganz unbelastet anfängt, einen Pfannkuchen isst, sich durch den Verkehr schlängelt, im Keller herumhämmert, im Supermarkt einkaufen geht, Unkraut zupft und Laub harkt, Liebe macht und Schneebälle, Drachen steigen lässt und den Regentropfen auf dem Dach zuhört.

Kind in seinen Armen

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