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1. Aus dem Versteck herauskommen Der Gott der Truthähne

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Die Hauptperson der Kurzgeschichte Der Truthahn1 von Flannery O’Connor ist ein kleiner Junge namens Ruller – ein ausgesprochener Antiheld. Er hat ein ziemlich schwaches Selbstbewusstsein, denn alles, was er anfasst, geht schief.

Eines Abends, als er schon im Bett liegt, hört er, wie seine Eltern sich über ihn unterhalten. »Ruller ist ein seltsamer Junge«, sagt sein Vater. »Warum spielt er immer allein?«

»Woher soll ich das wissen?«, erwidert seine Mutter.

Eines Tages entdeckt Ruller im Wald einen verwundeten wilden Truthahn. Sofort beginnt er die Verfolgungsjagd. »Oh, wenn ich ihn nur fangen könnte!«, ruft er. Und er würde ihn fangen, und wenn er ihn bis in den nächsten Bundesstaat verfolgen müsste! Er sieht sich schon triumphierend ins Haus marschieren, den Truthahn über der Schulter, und hört die ganze Familie rufen: »Seht nur, Ruller mit einem wilden Truthahn! Ruller, woher hast du denn diesen Vogel?«

»Oh, ich habe ihn im Wald gefangen. Soll ich euch auch einmal einen besorgen?«

Aber dann schießt ihm ein anderer Gedanke durch den Kopf: »Wahrscheinlich lässt Gott mich den ganzen Nachmittag umsonst hinter dem elenden Truthahn herjagen.« Er weiß, er sollte nicht so von Gott denken. Aber was kann er dagegen machen, wenn ihm so zumute ist? Und er fragt sich, ob er wirklich seltsam ist.

Schließlich erwischt er den Truthahn, als dieser seiner Schusswunde erliegt und tot zusammenbricht. Er hievt ihn auf die Schulter und macht sich auf den Triumphzug zurück in die Stadt. Dabei fällt ihm ein, was er alles Schlimmes gedacht hat, bevor er den Vogel hatte. Das tut ihm jetzt sehr Leid, denn er sollte Gott doch dankbar sein. »Danke, Gott. Das war sehr nett von dir. Der Truthahn wiegt bestimmt zehn Pfund. Du warst mächtig großzügig.«

Vielleicht war es ein Zeichen, dass ich den Truthahn erwischt hab, denkt er. Vielleicht will Gott, dass ich Pastor werde. Er will etwas für Gott tun, aber er weiß nicht, was. Wenn jetzt irgendwer an der Straße stünde und Akkordeon spielte, würde er ihm seine zehn Cent geben. Es ist zwar das einzige Zehncentstück, das er besitzt, aber er würde es glatt weggeben.

Zwei Männer kommen auf ihn zu. Als sie den Truthahn sehen, pfeifen sie durch die Zähne. Sofort rufen sie ein paar andere herbei, die an der Ecke herumstehen. »Was meinst du, was der wiegt?«, fragen sie.

»Mindestens zehn Pfund«, antwortet Ruller.

»Wie lange hast du ihn gejagt?«

»Etwa eine Stunde«, sagt Ruller.

»Das ist wirklich erstaunlich. Da musst du schrecklich müde sein.«

»Nein, aber ich muss jetzt gehen«, entgegnet Ruller. »Ich hab’s eilig.« Er kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen.

Er wünscht sich, er würde jemanden betteln sehen. Plötzlich betet er: »Herr, schick mir einen Bettler. Schick mir einen, ehe ich zu Hause bin.« Gott hat ihm den Truthahn geschenkt. Da wird er ihm bestimmt auch einen Bettler über den Weg schicken. Er weiß es ganz sicher; weil er ein seltsames Kind ist, interessiert sich Gott für ihn. »Bitte, jetzt gleich«, und im Augenblick, wo er es sagt, kommt eine alte Bettlerin direkt auf ihn zu. Das Herz hämmert ihm in der Brust. Er springt auf die Frau zu. »Hier, hier«, ruft er, drückt ihr seine zehn Cent in die Hand und eilt davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Allmählich beruhigt er sich, und auf einmal spürt er ein ganz neues Gefühl – wie wenn man glücklich und beschämt zugleich ist. Vielleicht, denkt er, sollte er ihr sein ganzes Geld geben. Er meint, er müsste auf Wolken schweben.

Dann bemerkt er eine Gruppe Bauernjungen, die hinter ihm herschlurfen. Er dreht sich um und fragt großzügig: »Wollt ihr meinen Truthahn sehen?«

Sie starren ihn an. »Wo hast du den Truthahn her?«

»Ich hab ihn im Wald gefunden. Ich hab ihn zu Tode gejagt. Guckt, hier unter dem Flügel hat er einen Schuss.«

»Lass mich mal sehen«, sagt einer der Jungen. Ruller gibt ihm den Truthahn. Hart trifft ihn der Kopf des Vogels, als der Junge ihn hoch in die Luft schleudert und ihn sich über die Schulter schwingt. Er dreht sich um und schlendert mit den anderen Jungen davon.

Sie sind schon einige hundert Meter gegangen, als Ruller sich aus seiner Starre löst. Bald sind die Jungen so weit fort, dass er sie nicht mehr sehen kann. Ruller schleicht nach Hause. Er geht erst ganz langsam, doch als er merkt, dass es schon dunkel wird, beginnt er zu rennen. Flannery O’Connors Geschichte endet mit den Worten: »Er rannte immer schneller und schneller, und als er in die Straße zu seinem Haus einbog, da schlug sein Herz so schnell, wie seine Beine liefen, und er war sich sicher, dass irgendetwas Schreckliches mit harten Armen an ihm zerrte und ihn mit seinen gierigen Fingern packen wollte.«

So wie Ruller denken viele Christen über Gott. Unser Gott, so kommt es uns vor, ist einer, der gern »Truthähne« verteilt, sie aber auch ohne Vorwarnung wieder wegnimmt. Gibt er sie, dann ist das ein Zeichen dafür, dass er sich für uns interessiert und Freude an uns hat. Wir fühlen uns nah bei ihm und sehnen uns danach, großzügig zu sein. Wenn er seine Geschenke wegnimmt, dann zeigt das sein Missfallen und seine Ablehnung. Wir fühlen uns verstoßen. Gott ist also launenhaft und unberechenbar. Er baut uns nur auf, um uns dann wieder fallen zu lassen. Er denkt an unsere vielen Sünden und zahlt sie uns heim, indem er uns die »Truthähne« Gesundheit, Wohlstand, innerer Frieden, Kinder, Macht, Erfolg und Freude entreißt.

Dabei übertragen wir unbewusst die eigene Haltung und die Gefühle, die wir für uns selbst haben, auf Gott. Blaise Pascal hat einmal geschrieben: »Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, und der Mensch erwiderte das Kompliment.« Wenn wir uns selbst verabscheuen, dann nehmen wir an, dass auch Gott uns hasst.

Aber wir können nicht einfach davon ausgehen, dass er für uns genauso empfindet wie wir selbst – es sei denn, wir würden uns ganz intensiv und ohne Vorbehalte lieben. Jesus hat uns gezeigt, wie Gott ist. Er hat unsere falschen Vorstellungen als das entlarvt, was sie sind – nämlich Götzenbilder – und uns gezeigt, wie wir davon frei werden können. Gott liebt uns mit hartnäckiger Herzlichkeit und Liebe und zwar so, wie wir sind – nicht trotz unserer Sünden und Fehler (das wäre keine völlige Liebe), sondern mit ihnen. Obwohl Gott das Böse nicht entschuldigt oder gutheißt, hält er seine Liebe zu uns nicht zurück, weil noch Böses an uns ist.

Weil wir jedoch anders für uns empfinden, fällt es uns manchmal schwer, das zu glauben. Wir können die Liebe eines anderen Menschen nicht annehmen, wenn wir uns selbst nicht lieben. Und noch weniger können wir begreifen, dass Gott uns lieben könnte.

Einer meiner Freunde fragte eines Abends seinen behinderten Sohn: »Daniel, wenn du dir vorstellst, dass Jesus dich ansieht, was siehst du dann in seinen Augen?«

Nach einer kleinen Pause erwiderte der Junge: »In seinen Augen stehen Tränen, Dad.«

»Wieso, Dan?«

Wieder Schweigen, diesmal länger. Dann: »Weil er traurig ist.«

»Und warum ist er traurig?«

Daniel starrte auf den Boden. Als er schließlich aufsah, schimmerten auch in seinen Augen die Tränen: »Weil ich mich fürchte.«

Gott ist bekümmert, weil wir ihn fürchten, weil wir das Leben fürchten und uns selbst. Er leidet unter unserer Selbstbefangenheit. Richard Foster schreibt: »Das Herz Gottes ist heute eine offene Wunde der Liebe. Ihn schmerzt unsere Entfremdung, unsere Überbeschäftigung. Er klagt darüber, dass es uns nicht näher zu ihm zieht. Er trauert, weil wir ihn vergessen haben … Er sehnt sich nach unserer Gegenwart.«2

Gott ist bekümmert, weil wir uns weigern, zu ihm zu kommen, wenn wir gesündigt und versagt haben. – Ein Rückfall ist für den Alkoholiker ein schreckliches Erleben. Das zwanghafte Kreisen von Gedanken und Körper um den Stoff überfällt ihn so heftig wie ein Frühjahrssturm. Nach dem Rückfall ist er verzweifelt. Als ich einen Rückfall hatte, hatte ich zwei Möglichkeiten: Ich konnte mich wieder neu den Schuldgefühlen, der Angst und den Depressionen hingeben, oder ich konnte in die Arme meines himmlischen Vaters fliehen. Entweder als Opfer meiner Krankheit leben oder auf Abbas unveränderliche Liebe vertrauen.

Es ist eine Sache, sich von Gott geliebt zu fühlen, wenn alles glatt läuft und unsere Sicherheitssysteme funktionieren. Dann ist es relativ leicht, sich selbst anzunehmen. Wir können sogar behaupten, wir würden allmählich anfangen, uns selbst zu mögen. Wenn wir stark sind und obenauf, wenn wir die Dinge im Griff haben und gut in Form sind, dann entsteht so etwas wie ein Gefühl der Sicherheit.

Was aber passiert, wenn der Boden unter uns wegbricht? Was geschieht, wenn wir sündigen und versagen, wenn unsere Träume zerbrechen, unsere Aktien in den Keller fallen, wenn man uns mit Misstrauen begegnet? Was passiert, wenn wir uns dem wahren Zustand unseres Ichs gegenübersehen?

Fragen wir doch einmal Menschen, die gerade eine Trennung oder Scheidung hinter sich haben. Haben sie das Gefühl, es sei alles in Ordnung? Wo ist ihre Selbstsicherheit? Was ist mit ihrem Selbstwertgefühl? Kommen sie sich noch immer vor wie ein geliebtes Kind? Oder liebt Gott sie nur, wenn sie »gut« sind, aber nicht in Armut und Zerbruch?

Juliana von Norwich, eine Mystikerin des vierzehnten Jahrhunderts, hat gesagt: »Unser liebenswürdiger Herr will nicht, dass seine Diener verzweifeln, weil sie so oft und kläglich fallen; denn unser Fallen hindert ihn nicht daran, uns zu lieben.«3

Kind in seinen Armen

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