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Den Schwindler erkennen

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Den Schwindler so schonungslos zu sezieren, mag zunächst als eine masochistische Übung erscheinen. Birgt eine solche Innenschau nicht schon in sich die Niederlage? Ist das wirklich nötig?

Ich behaupte, dass sie für das geistliche Wachstum nicht nur nötig, sondern unabdingbar ist. Der Schwindler muss aus seinem Versteck hervorgelockt, er muss akzeptiert und in die Arme genommen werden. Er ist ein wesentlicher Bestandteil meines Ichs. Was geleugnet wird, kann nicht geheilt werden. Demütig eingestehen, dass ich oft in einer unwirklichen Welt lebe, dass meine Beziehung zu Gott von meiner Seite belanglos geworden ist und ich von eitlem Ehrgeiz getrieben werde, ist der erste Schritt, um mein schillerndes Bild zu enthüllen. Die Ehrlichkeit und Bereitschaft, dem falschen Ich in die Augen zu sehen und es damit aus der Fassung zu bringen, sprengt die Stahltür der Selbsttäuschung. Friede entsteht, wenn ich die Wahrheit akzeptiere. Jede Facette des schattenhaften Ichs, die wir nicht annehmen wollen, wird zum Feind und zwingt uns in eine Abwehrhaltung. »Und die zerstreuten Teile unseres Ichs werden schnell in den Menschen um uns herum Gestalt gewinnen. Nicht alle Feindseligkeit ist darauf zurückzuführen, aber es ist einer der wesentlichen Faktoren für unsere Unfähigkeit, mit anderen Menschen zurechtzukommen, dass sie für uns genau die Elemente in uns darstellen, die wir nicht zugeben wollen.«28

Wenn wir unsere Selbstsucht und unsere Dummheit anerkennen, versöhnen wir uns mit dem Schwindler in uns und geben zu, dass wir arm und zerbrochen sind; wären wir es nicht, so wird uns klar, dann wären wir Gott. Die Kunst, freundlich zu sich selbst zu sein, führt dazu, auch anderen freundlich zu begegnen – und ist eine natürliche Vorbedingung dafür, im Gebet in Gottes Gegenwart zu treten.

Wer den Schwindler in sich hasst, der hasst letztlich sich selbst. Der Schwindler und ich sind eine Person. Verachtung des falschen Ichs bahnt den Weg zu echter Feindschaft, die sich als allgemeine Gereiztheit äußert – eine Gereiztheit gegenüber den Fehlern anderer, die wir an uns selbst hassen. Selbsthass führt immer zu selbstzerstörerischem Verhalten.

Zugeben, dass wir sündig sind, heißt das echte Ich anzuerkennen.

C. G. Jung schrieb: »Sich selbst annehmen ist der Kern … einer gesamten Lebenshaltung. Die Hungrigen speisen, eine Beleidigung verzeihen, meinen Feind im Namen Christi lieben – das alles sind zweifellos große Tugenden. Was ich dem Geringsten meiner Brüder tue, das tue ich Christus. Aber was ist, wenn ich entdecke, dass der Geringste von allen, der Ärmste aller Bettler, der Unverschämteste aller Missetäter, der eigentliche Feind – dass diese alle in mir stecken und dass ich selbst die Almosen meiner Freundlichkeit nötig habe – dass ich selbst ein Feind bin, der geliebt werden muss –, was dann? In der Regel schlägt die Haltung des Christen dann ins Gegenteil um. Es ist nicht mehr die Rede von Liebe oder Langmut; wir sagen zu dem Bruder in uns ›Scheusal‹ und verdammen und wüten gegen uns selbst. Wir verbergen es vor der Welt; wir weigern uns zuzugeben, dass wir diesem Ärmsten der Armen in uns selbst je begegnet sind.«30

Wenn wir die Wahrheit über uns selbst zugeben und an Jesus Christus ausliefern, dann werden wir von Frieden umhüllt, ob wir es spüren oder nicht. Jener Friede, der höher ist als alle Vernunft, ist kein subjektives, friedliches Gefühl. Wenn wir in Christus sind, dann haben wir Frieden, auch wenn wir keinen Frieden spüren. Mit einer Güte und einem Verständnis für die menschlichen Schwächen, wie nur Gott sie zeigen kann, befreit uns Jesus von aller Entfremdung und Selbstverurteilung und bietet jedem von uns eine neue Möglichkeit. Er ist der Erlöser, der uns vor uns selbst rettet. Sein Wort ist Freiheit. Dieser Meister sagt zu uns:

»Verbrenn die alten Bänder, die sich in deinem Kopf drehen und dich fesseln und in deinen egoistischen Klischees einsperren. Hör auf das neue Lied der Erlösung, das für die geschrieben wurde, die wissen, wie arm sie sind. Lass die Angst vor dem Vater los und deinen Abscheu vor dir selbst. Erinnerst du dich an die Geschichte von ›Don Quichote‹? Der Spiegelritter log ihn an, als er sagte: ›Sieh dich so, wie du bist. Erkenne, dass du kein edler Ritter bist, sondern eine idiotische Vogelscheuche.‹ Und der Verführer lügt, wenn er zu dir sagt: ›Du bist kein Ritter, sondern ein dummer Snob. Sieh in den Spiegel der Realität. Nimm die Dinge so wahr, wie sie wirklich sind. Was siehst du? Nichts als einen alternden Narr.‹ Der Vater der Lüge verdreht die Wahrheit und entstellt die Wirklichkeit. Er ist der Urheber von Zynismus und Skepsis, Misstrauen und Verzweiflung, krankem Denken und Selbsthass. Ich bin der Sohn der Barmherzigkeit. Du gehörst zu mir, und niemand wird dich aus meiner Hand reißen.«

Jesus offenbart uns, welche Gefühle Gott für uns hegt. Wenn wir die Evangelien durchblättern, entdecken wir, dass wir selbst die Menschen sind, denen Jesus dort begegnet. Das Verständnis und das Mitgefühl, das er ihnen entgegenbringt, bietet er auch dir und mir an. Am zwanzigsten und letzten Tag in den Bergen von Colorado schrieb ich den folgenden Brief:

Guten Morgen, Schwindler.

Sicher überrascht dich diese freundliche Begrüßung. Wahrscheinlich hast du eher so etwas wie: »He, du kleiner Knilch« erwartet. Schließlich habe ich vom ersten Tag dieser Retraite an auf dich eingedroschen. Lass mich dir zunächst sagen, dass meine Einschätzung von dir unvernünftig, undankbar und unausgewogen war. (Natürlich ist dir klar, du Rauchwolke, dass ich mit mir selbst rede, wenn ich dich hier anspreche. Du bist kein isoliertes, unpersönliches Wesen auf einem anderen Stern, sondern ein ganz realer Teil meines eigenen Ichs.)

Wenn ich heute zu dir komme, dann nicht mit der Rute in der Hand, sondern mit einem Olivenzweig. Als ich noch ein kleiner Grünschnabel war und zum ersten Mal begriff, dass niemand für mich da war, hast du eingegriffen und mir gezeigt, wo ich mich verstecken kann. (In jenen Tagen der großen Depression in den dreißiger Jahren, du erinnerst dich, hatten meine Eltern alle Hände voll zu tun, um uns wenigstens genug zu essen und ein Dach über dem Kopf zu sichern.)

Damals warst du von unschätzbarem Wert. Ohne dein Eingreifen hätte mich das Grauen überwältigt und die Angst gelähmt. Du aber warst für mich da und hast für meine Entwicklung eine entscheidende Beschützerrolle gespielt. Vielen Dank.

Als ich vier Jahre war, hast du mir gezeigt, wie man eine Hütte baut. Erinnerst du dich noch an das Spiel? Ich kroch im Bett unter die Decke und zog Leintücher, Bettdecke und Kissen über mich – und glaubte wirklich, dass mich niemand finden würde. Dort fühlte ich mich sicher. Und ich staune heute noch, wie gut das funktionierte. Ich dachte mir schöne Dinge aus und musste unter der Decke grinsen oder sogar laut lachen. Wir haben diese Hütte zusammengebaut, weil die Welt, in der wir lebten, nicht besonders freundlich zu uns war.

Aber beim Bauen hast du mir auch beigebracht, wie ich mein wahres Ich vor Menschen verberge, und hast damit einen lebenslangen Prozess der Heimlichtuerei, der Zurückhaltung, des Rückzugs in Gang gesetzt. Dein Einfallsreichtum half mir zu überleben. Doch dann kam deine bösartige Seite zum Vorschein, und du fingst an mich anzulügen. »Brennan«, flüstertest du, »wenn du weiter so blöd bist und darauf bestehst, du selbst zu sein, dann werden deine geduldigen Freunde bald das Weite suchen und dich allein lassen. Unterdrück die Gefühle, schlag die Erinnerungen zu, halt deine Meinung zurück und lern gute Umgangsformen, damit du überall hinpasst.«

Und so begann das ausgeklügelte Spiel von Verstellung und Täuschung. Weil es funktionierte, erhob ich keine Einwände. Im Lauf der Jahre mussten du und ich von den verschiedensten Seiten Schläge einstecken. Das hat uns ermutigt und in dem Entschluss bestärkt, das Spiel fortzusetzen. Aber du brauchtest jemanden, der dich im Zaum hielt. Ich hatte weder die Kraft noch den Mut, dich zu zähmen, und so poltertest du weiter herum und kamst immer heftiger in Schwung. Dein Hunger nach Aufmerksamkeit und Bestätigung wurde unersättlich. Ich hielt dir die Lüge nie vor, weil ich mich selbst täuschen ließ.

Kurz gesagt, mein verzogener Spielkamerad, du bist ebenso bedürftig wie egoistisch. Du brauchst Zuwendung, Liebe und einen sicheren Aufenthaltsort. Mein Gedanke an dich an diesem letzten Tag in den Bergen besteht darin, dass ich dich dorthin bringe, wohin du dich, ohne es zu wissen, schon immer gesehnt hast – in die Gegenwart Jesu. Deine wilden Tage sind vorbei. Von jetzt an wirst du dich zurückhalten, sehr zurückhalten.

In seiner Gegenwart habe ich festgestellt, dass du schon angefangen hast zu schrumpfen. Willst du etwas wissen, kleiner Kerl? So siehst du viel netter aus. Ich habe dir schon einen Spitznamen gegeben – »Winzling«. Natürlich wirst du nicht einfach so zusammenklappen und sterben. Ich weiß, dass du manchmal unmutig sein und anfangen wirst, um dich zu schlagen. Aber je mehr Zeit du in der Nähe Jesu verbringst, desto mehr wirst du dich an sein Angesicht gewöhnen und desto weniger Lobhudelei wirst du brauchen, weil du selbst entdeckst, dass er genügt. Und in seiner Gegenwart wirst du voller Freude erkennen, was es heißt, aus der Gnade und nicht aus der Leistung zu leben.

Dein Freund Brennan.

Kind in seinen Armen

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