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Die eigene Armut lieben lernen

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Unsere Skepsis und unsere Schüchternheit halten uns davon ab, das zu glauben und anzunehmen. Dabei hassen wir nicht Gott, sondern uns selbst. Das geistliche Leben aber beginnt damit, dass wir unser verletztes Ich annehmen.

Thomas Merton redet uns zu: »Überlass deine Armut dem Herrn und gestehe ein, wie nichtig du bist. Ob du es begreifst oder nicht, Gott liebt dich. Er ist in dir, er lebt in dir, er wohnt in dir, er ruft dich, rettet dich und begegnet dir mit einem Verständnis und Mitgefühl, die mit nichts zu vergleichen sind, was du je in einem Buch gefunden oder in einer Predigt gehört hast.«4

Gott ruft uns auf, uns nicht länger zu verstecken, sondern zu ihm zu kommen. Er ist der Vater, der dem verlorenen Sohn entgegenlief, als er humpelnd nach Hause kam. Gott weint über uns, wenn er sieht, wie Scham und Selbsthass uns lähmen. Doch wir geraten schnell in Panik, wenn wir uns selbst ansehen, und versuchen uns zu verstecken. Adam und Eva verbargen sich und wir machen es ihnen in der einen oder anderen Weise nach. Warum? Weil uns nicht gefällt, was wir sehen. Es ist unbequem oder unerträglich, sich dem eigenen Ich gegenüberzusehen.

»Und so fliehen wir vor der eigenen Wirklichkeit wie entlaufene Sklaven oder zimmern uns ein falsches Selbst zurecht, das vor allem bewunderswert, ein bisschen schmeichelhaft und oberflächlich gesehen glücklich wirkt. Wir verbergen, was wir sind (weil wir annehmen, es sei unannehmbar und nicht liebenswert), hinter einer Fassade, die, so hoffen wir, besser gefällt. Wir verstecken uns hinter schönen Gesichtern, die wir für das Publikum aufsetzen. Und mit der Zeit vergessen wir sogar, dass wir uns verstecken, und meinen, das aufgesetzte, schöne Gesicht sei unser wahres.«5 (Simon Tugwell)

Aber Gott liebt uns so, wie wir sind – ob wir das mögen oder nicht. Er fordert uns wie Adam auf, aus dem Versteck herauszukommen. All unsere »geistlichen Verschönerungsversuche« können uns ihm nicht angenehmer machen. Thomas Merton schreibt: »Der Grund, warum wir nie die tiefsten Tiefen unserer Beziehung zu Gott ausloten, besteht darin, dass wir so selten unsere absolute Nichtigkeit vor ihm eingestehen.«6 Seine Liebe, die uns ins Leben gerufen hat, ruft uns nun auch, aus dem Selbsthass herauszukommen und in seine Wahrheit einzutreten.

»Komm jetzt zu mir«, sagt Jesus. »Nimm an, was ich für dich sein will: ein Erlöser voll grenzenlosem Mitgefühl, unendlicher Geduld, unerträglicher Vergebungsbereitschaft und einer Liebe, die nicht über deine Fehler Buch führt. Hör auf, deine eigenen Gefühle auf mich zu übertragen. Dein Leben ist wie ein geknicktes Rohr, und ich werde es nicht zerbrechen; wie ein glimmender Docht, aber ich werde ihn nicht auslöschen. Bei mir bist du in Sicherheit.«

Es ist einer der schockierendsten Widersprüche in vielen christlichen Gemeinden, dass so viele Nachfolger Jesu sich selbst so wenig leiden können. Es käme ihnen nie in den Sinn, die Fehler anderer Menschen in einem so schlechten Licht zu sehen wie ihre eigenen. Aber ihre eigene Mittelmäßigkeit hängt ihnen zum Hals heraus, und ihre Inkonsequenz ekelt sie an. David Seamands schrieb:

»Ein bedrängendes Gefühl der Selbstverdammung schwebt über vielen … Christen … Sie sind niedergestreckt von der stärksten psychologischen Waffe, die Satan Gläubigen gegenüber anwendet. Diese Waffe wirkt wie eine tödliche Rakete. Ihr Name? Geringes Selbstwertgefühl! Ein bedrückendes Gefühl von Minderwertigkeit, von Nicht-Bestehen-Können und niedrigem Selbstwertgefühl. Es hält viele Christen in Fesseln, obwohl sie herrliche Glaubenserfahrungen gemacht haben und Gottes Wort kennen. Obwohl sie sich ihrer Stellung als Söhne Gottes bewusst sind, sind sie mit Stricken an ein schreckliches Minderwertigkeitsgefühl gefesselt. Sie liegen an der Kette eines tiefen Gefühls eigener Wertlosigkeit.«7

Es gibt die Geschichte von einem Mann, der den berühmten Psychologen C. G. Jung aufsuchte, weil er unter chronischen Depressionen litt. Jung riet ihm, die vierzehn Stunden seines Arbeitstages auf acht zu reduzieren, auf direktem Wege nach Hause zu gehen und den Abend still und für sich in seinem Arbeitszimmer zu verbringen. Wie empfohlen ging der depressive Mann jeden Abend in sein Arbeitszimmer, schloss die Tür hinter sich zu, las ein bisschen Hermann Hesse oder Thomas Mann und spielte ein paar Chopin-Etüden oder Mozart-Sonaten.

Wochen später suchte er C. G. Jung erneut auf und klagte, er könne keine Besserung beobachten. Als Jung erfuhr, wie der Mann seine Zeit verbrachte, sagte er: »Aber Sie haben mich nicht richtig verstanden! Ich wollte nicht, dass Sie sich mit Hesse oder Mann, Chopin oder Mozart beschäftigen. Ich wollte, dass Sie wirklich allein sind.« Der Mann blickte ihn entsetzt an und erwiderte: »Aber ich könnte mir keine schlimmere Gesellschaft vorstellen.«8

Er hasste sich selbst. Viele Christen tun das auch. Das erstickt ihr geistliches Wachstum. Ein melancholischer Geist verfolgt sie und quält ihr Gewissen. Negative Stimmen aus der Familie: »Aus dir wird nie etwas«, das Gefühl, nicht so zu leben, wie sie leben sollen, Moralvorschriften der Kirche und der Druck, erfolgreich sein zu müssen, machen aus den erwartungsfrohen Pilgern auf dem Weg zum himmlischen Jerusalem eine mutlose Reisegruppe mürrischer Hamlets und verängstigter Rullers. Alkoholismus, Arbeitssucht, insgesamt zunehmendes Suchtverhalten und eine steigende Selbstmordrate sind ein Hinweis auf die Größe des Problems. Henri Nouwen bemerkt dazu:

»Im Lauf der Jahre bin ich zu der Erkenntnis gekommen, dass die größten Fallen in unserem Leben nicht der Erfolg sind, nicht die Berühmtheit und nicht die Macht, sondern die Verachtung seiner selbst. Berühmtheit und Macht können tatsächlich eine große Versuchung darstellen, doch werden sie oft nur dadurch zu so starken Verführern, dass sie im Dienst der viel größeren Versuchung stehen, sich selbst gering zu schätzen. Wenn wir schließlich den Stimmen glauben, die uns unnütz und nicht liebenswert heißen, leuchten uns Erfolg, Berühmtheit und Macht leicht als anziehende Lösungen auf. Aber die wirkliche Falle ist die Verachtung seiner selbst. (…) Sobald mir jemand etwas vorwirft oder mich kritisiert, sobald ich mich abgelehnt, allein gelassen oder vergessen fühle, kommen mir Gedanken wie: ›Ich hab’s ja schon immer gewusst, dass ich nichts bin.‹ (…) [Mein Schatten sagt:] ›Ich tauge nichts, es geschieht mir gerade recht, wenn ich beiseite geschoben, vergessen, abgelehnt, verlassen werde.‹ Die Verachtung seiner selbst ist der größte Feind des geistlichen Lebens, denn sie sagt das gerade Gegenteil davon, was die Stimme vom Himmel her sagt: ›Du bist ein geliebter Mensch.‹ Dass wir geliebte Wesen sind, ist die Kernwahrheit unseres Seins.«9 (Hervorhebung B. M.)

Wir können lernen, gütig zu uns selbst zu sein, wenn wir die tiefe, innige Liebe Jesu erleben. In dem Maß, wie wir es zulassen, dass die hartnäckige Liebe Jesu unsere innere Festung einnimmt, werden wir von den Bauchschmerzen wegen uns selbst frei. Christus möchte unsere Einstellung zu uns selbst ändern und erreichen, dass wir gemeinsam mit ihm gegen unsere eigene abwertende Einschätzung angehen.

Im vergangenen Sommer machte ich einen entscheidenden Schritt auf meiner inneren Reise. Ich zog mich für zwanzig Tage in eine entlegene Hütte in den Rocky Mountains zurück, um Stille und Einsamkeit zu suchen und mich gleichzeitig einer Therapie zu unterziehen. Früh am Morgen traf ich mich mit einem Psychologen, der mir half, mich lange verdrängten Erinnerungen und Gefühlen aus meiner Kindheit zu stellen. Den Rest des Tages verbrachte ich allein in meiner Hütte, ohne Fernseher, ohne Radio und ohne irgendeine Art von Lektüre.

Während die Tage so verstrichen, ging mir mit einem Mal auf, dass ich seit meinem achten Lebensjahr nicht mehr fähig war, wirklich etwas zu empfinden. Ein traumatisches Erlebnis in jener Zeit hatte die Erinnerung für die nächsten neun Jahre und die Gefühle für die nächsten fünf Jahrzehnte ausgelöscht.

Als ich acht war, wurde der Schwindler, mein falsches Ich, als Abwehr gegen den Schmerz geboren. Der Schwindler in mir flüsterte: »Brennan, du kannst nie mehr so sein, wie du wirklich bist, weil dich so niemand mag. Erfinde ein neues Ich, das alle bewundern und das niemand richtig kennt.« So wurde ich ein braver Junge – höflich, wohlerzogen, unaufdringlich und rücksichtsvoll. Ich lernte fleißig, bekam hervorragende Noten, erhielt ein Stipendium – und wurde in jedem wachen Augenblick von der Angst verfolgt, verlassen zu werden … und von dem Gefühl, im Grunde keinen Menschen zur Seite zu haben.

Ich lernte, dass eine möglichst vollkommene Verstellung mir die Anerkennung und Bestätigung brachte, nach der ich mich so verzweifelt sehnte. Ich bewegte mich in einer gefühllosen Zone, in der ich Furcht und Scham in sicherem Abstand halten konnte. Wie mein Therapeut bemerkte: »Eine dichte Stahltür hat in all den Jahren Ihre Gefühle verschlossen und Ihnen den Zugang zu ihnen verwehrt.« Der Schwindler hingegen, den ich der Öffentlichkeit präsentierte, gab sich die ganze Zeit nonchalant und pflegeleicht.

Die große Trennung zwischen Kopf und Herz dauerte während meines gesamten Dienstes an. Achtzehn Jahre lang verkündigte ich die gute Nachricht von Gottes leidenschaftlicher und bedingungsloser Liebe – vom Kopf her völlig überzeugt, aber in meinem Herzen spürte ich nichts davon. Eine Szene in dem Kinofilm Postcards from the Edge bringt treffend zum Ausdruck, was in mir vorging. Ein Hollywoodstar (Meryl Streep) hört von ihrem Regisseur (Gene Hackman), was für ein wundervolles Leben sie doch habe und wie jede Frau sie um ihren Erfolg beneiden müsse. Streep erwidert: »Ja, ich weiß. Aber wissen Sie was? Ich spüre überhaupt nichts von meinem Leben. Ich habe mein Leben und all diese guten Sachen nie wirklich spüren können.«

Am zehnten Tag meiner Bergeinsamkeit brach ich plötzlich in ein heftiges Schluchzen aus. Ein großer Teil meiner Gefühllosigkeit und scheinbaren Unverwundbarkeit rührte daher, dass ich mich weigerte, über das Fehlen zärtlicher Worte und liebevoller Berührungen Trauer zu empfinden.

Doch als ich aus dem »Kelch der Trauer« trank, geschah etwas Bemerkenswertes: Von fern hörte ich plötzlich Musik und Tanz. Ich selbst war der verlorene Sohn, der nach Hause gehumpelt kam, nicht Zuschauer, sondern Teilnehmer. Der Schwindler verschwand, und ich lebte plötzlich wieder mein wahres Ich – ich war ein Kind, das zu Gott zurückkehrte.

Bislang hatte ich mich meiner selbst nie sicher gefühlt, solange ich nicht fehlerfrei funktionierte. Mein Wunsch, perfekt zu sein, war größer als mein Verlangen nach Gott. Tyrannisiert von einer Alles-oder-nichts-Mentalität deutete ich Schwäche als Mittelmäßigkeit und Inkonsequenz als Folge schwacher Nerven. Mitleid und Selbstannahme hielt ich für völlig unpassende Reaktionen. Meine verzerrte Vorstellung von mir selbst als Versager und gänzlich unzulänglicher Mensch ließ mich alle Selbstachtung verlieren, wodurch ich in Phasen von leichter Depression und starken Angstattacken geriet. Und ganz unbewusst hatte ich meine Gefühle für mich selbst auf Gott projiziert. Ich fühlte mich nur dann bei ihm sicher, wenn ich mich selbst als edel, großzügig und liebenswürdig sehen konnte, ohne Narben, Ängste oder Tränen. Mit einem Wort: Perfekt!

Doch an jenem strahlenden Morgen in einer Hütte tief in den Bergen von Colorado verließ ich mein Versteck. Jesus hob den Schleier der perfektionistischen Anstrengungen, und erlöst und von der Schuld befreit lief ich zu ihm nach Hause. Jetzt wusste ich, dass jemand für mich da war. In der Tiefe meiner Seele gepackt, die Wangen tränenverschmiert, nahm ich endlich all die Worte, die ich selbst über die hartnäckige, unnachgiebige Liebe gesagt und geschrieben hatte, für mich ganz persönlich in Anspruch und konnte sie zum ersten Mal wirklich spüren. An jenem Morgen begriff ich, dass Worte im Vergleich zur Wirklichkeit nur Stroh sind. Ich war nicht mehr jemand, der Gottes Liebe verkündigte, sondern ein Mensch, an dem Abba seine Freude hat. Ich sagte den Angstgefühlen Ade und Schalom zum Gefühl der Sicherheit. Am selben Nachmittag schrieb ich in mein Tagebuch:

Sich sicher fühlen heißt aufhören, mit dem Kopf zu leben, und sich tief in das eigene Herz versenken, sich gemocht und angenommen fühlen … sich nicht mehr verstecken und mit Büchern, Fernsehen, Filmen, Eiskrem, oberflächlichen Unterhaltungen ablenken müssen … in der Gegenwart bleiben und nicht in die Vergangenheit fliehen oder die Zukunft herbeisehnen, jetzt wach und aufmerksam sein … entspannt sein und nicht nervös und rastlos … Es ist nicht mehr nötig, andere zu beeindrucken oder zu blenden oder die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken … Unbefangen in die Welt zu treten, mit einer ganz neuen Art, mit mir selbst umzugehen … ruhig, frei von Angst, keine Bedenken, was als Nächstes passieren könnte … geliebt und geachtet … sich einfach bei sich selbst wohlfühlen.

Thomas Merton sagte einmal zu einem Mönchsbruder über diese selbstvergessene, freie Art zu leben: »Wenn ich irgendetwas daraus mache, dass ich Thomas Merton bin, dann bin ich tot. Und wenn du irgendetwas daraus machst, dass du für die Schweine zuständig bist, dann bist du tot.« Mertons Lösung? »Hör auf, überhaupt Buch zu führen, und überlass dich mit all deiner Sündhaftigkeit Gott, der weder die Punkte noch den Schiedsrichter sieht, sondern nur sein durch Christus versöhntes Kind.«10

Schon vor sechshundert Jahren schrieb Juliana von Norwich: »Manche von uns glauben, dass Gott allmächtig ist und alles tun kann; und dass er weise ist und alles tun könnte; aber dass er auch Liebe ist und alles tun wird – davor scheuen wir zurück. Diese Unsicherheit, so scheint mir, ist das größte Hindernis für alle, die Gott lieben.«11

Doch es gibt noch mehr Hindernisse. Alle die Dinge, derer wir uns schämen und die wir deshalb versuchen, in unserm Inneren zu vergraben. Gott will sie in seiner Liebe ans Licht holen und sie uns vergeben, damit sie uns nicht länger beherrschen können. Denken wir nur an die Worte des Apostels Paulus: »Alles, was aufgedeckt ist, wird vom Licht erleuchtet. Alles Erleuchtete aber ist Licht« (Epheser 5,13-14; Hervorh. B. M.).

Gott vergibt und vergisst nicht nur unsere schändlichen Taten, er macht sogar aus ihrem Dunkel Licht. Alle Dinge müssen denen, die Gott lieben, zum Besten dienen (Römer 8,28), »selbst«, so fügte Augustinus hinzu, »unsere Sünden«.

In dem Einakter von Thornton Wilder: Der Engel, der das Wasser bewegte (The Angel That Troubled the Waters), geht es um die Heilkraft des Wassers im Teich von Bethesda, wenn ein Engel von Zeit zu Zeit das Wasser bewegte (vgl. Johannes 5,1-4). Es wird aber nur der geheilt, der als erster hineinsteigt. Ein Arzt kommt regelmäßig zum Teich und hofft, einmal der Erste zu sein und von seiner Melancholie befreit zu werden.

Schließlich kommt der Engel, aber er hält den Arzt fest, als er ins Wasser steigen will. Stattdessen befiehlt er ihm zurückzutreten, denn er sei nicht an der Reihe. Der Arzt fleht mit gebrochener Stimme um Hilfe, aber der Engel bleibt dabei, dass eine Heilung für ihn nicht vorgesehen sei.

Das Gespräch geht hin und her – dann kommt das prophetische Wort des Engels: »Wo wäre deine Kraft ohne deine Wunden? Deine Melancholie ist es, die deine Stimme zittern und zu den Herzen von Männern und Frauen sprechen lässt. Selbst die Engel können die armseligen und ungeschickten Menschenkinder auf der Erde nicht so überzeugen, wie ein Mensch es kann, der selbst am Leben zerbrochen ist. Im Dienst der Liebe können nur verletzte Soldaten dienen. Arzt, tritt zurück!«

Der Mann, der dann als erster in den Teich steigen darf und geheilt wird, freut sich über sein Glück. Doch später sagt er zu dem Arzt: »Bitte, komm zu mir. Es ist nur eine Stunde bis zu meinem Haus. Mein Sohn wird von dunklen Gedanken bedrückt. Ich verstehe ihn nicht. Nur du konntest je seine Stimmung aufhellen. Nur eine Stunde … Da ist auch meine Tochter. Seit ihr Kind starb, sitzt sie im Dunkeln. Auf uns hört sie nicht, aber auf dich wird sie hören.«12

Christen, die ihre Schatten verstecken, leben weiter in der Lüge. Wir leugnen die Wirklichkeit unserer Sünde. Vergeblich versuchen wir, unsere Vergangenheit auszulöschen, und enthalten damit der Gemeinschaft unser eigenes Geschenk vor, mit dem wir anderen zur Heilung helfen könnten. Wenn wir aus Angst oder Scham unsere Wunden verbergen, kann unsere innere Finsternis weder erhellt noch zu einem Licht für andere werden. Wir klammern uns an unsere schlechten Gefühle und quälen uns selbst mit der Vergangenheit, wo wir sie einfach loslassen sollten. Dietrich Bonhoeffer hat einmal gesagt, Schuld sei ein Götze. Wenn wir es dagegen wagen, als Menschen zu leben, denen vergeben wurde, dann gesellen wir uns zur Schar der verwundeten Helfer und kommen näher zu Jesus.

Henri Nouwen hat dieses Thema in seinem Klassiker Geheilt durch seine Wunden ausführlich und sehr einfühlsam behandelt. Er erzählt die Geschichte von dem Rabbi, der den Propheten Elia fragte, wann der Messias komme. Elia erwiderte, der Rabbi solle den Messias direkt fragen, er werde ihn im Stadttor sitzen finden. »Wie soll ich ihn erkennen?«, fragte der Rabbi. Elia erwiderte: »Er sitzt über und über mit Wunden bedeckt, unter den Armen. Die anderen legen all ihre Wunden auf einmal frei und verbinden sie wieder. Er aber nimmt immer nur einen Verband ab und legt ihn sofort wieder an, denn er sagt sich: Vielleicht braucht man mich; wenn ja, dann muss ich immer bereit sein und darf keinen Augenblick säumen.«13

Der leidende Gottesknecht bei Jesaja kennt seine Wunden. Sie werden zu einer Quelle der Heilung für die Menschen.

In Geheilt durch seine Wunden kommt zum Ausdruck, dass Gnade und Heilung letztlich von Männern und Frauen weitergegeben werden, die selbst vom Leben geschlagen und zerbrochen sind. Im Dienst der Liebe können nur verletzte Soldaten dienen.

Auch die Anonymen Alkoholiker sind eine Gemeinschaft verwundeter Helfer. Der Psychiater James Knight schreibt: »Der Alkohol und die damit verbundenen Probleme haben diese Menschen an den Rand der Zerstörung getrieben und ihr Leben fast ruiniert. Doch wer aus der Hölle von Bindung und Sucht herausfindet und aus der Asche wieder hervorsteigen kann, der hat meist eine besondere Antenne für die Probleme seiner Leidensgenossen, weil er sie versteht, und ist bereit, den Kontakt zu ihnen zu suchen und ihnen zu helfen. Er stellt sich der Begegnung, und gleichzeitig lässt er es nicht zu, dass seine eigene Anfälligkeit und Gefährdung in Vergessenheit geraten. Er gibt zu, dass er verwundbar ist. Er erkennt die eigene Schwäche an und muss sie nicht verstecken. Ja, mehr noch, seine Verletzlichkeit hilft ihm, das eigene Leben zu klären und zu stabilisieren, und gleichzeitig setzt er sie ein, um seinen abhängigen Brüdern und Schwestern, und manchmal auch ihren Kindern, den Weg zurück zu einem Leben ohne Alkohol zu zeigen. Die Wirksamkeit der AA-Mitglieder bei der Begleitung und Therapie ihrer Leidensgenossen ist eine der großen Erfolgsgeschichten unserer Zeit und zeigt auf anschauliche Weise, wie die eigenen Verletzungen, wenn sie kreativ eingesetzt werden, dazu beitragen können, die Last von Leid und Schmerz zu lindern.«14 (Hervorh. B. M.)

In den Briefen an einen jungen Dichter spricht Rainer Maria Rilke davon, wie hilfreich seine eigene Schwäche für ihn ist: Der junge Mann solle nicht glauben, dass jener, der ihn zu trösten versucht, ganz unbesorgt zwischen den einfachen und ruhigen Worten lebt, die ihm manchmal gut tun. Sein Leben sei voller Schwierigkeiten und Traurigkeit und bleibe weit hinter dem des jungen Dichters zurück. Wäre es nicht so, hätte er nie diese Worte finden können. Das gilt auch für ein Leben im Glauben. Paulus zieht daraus den Schluss: »Gott antwortete mir: Meine Gnade genügt dir; denn sie erweist ihre Kraft in der Schwachheit. Viel lieber also will ich mich meiner Schwachheit rühmen, damit die Kraft Christi auf mich herabkomme.« (2. Korinther 12,9)

Mein eigener Weg hat mich gelehrt, dass ich mich bei mir selbst nur dann sicher fühle, wenn ich mich bei Gott geborgen weiß. Wenn wir Abba, dem Vater, vertrauen, der seinem missratenen Sohn entgegenrannte und nicht eine einzige Frage stellte, dann sind wir auch in der Lage, uns selbst im Innersten zu vertrauen.

Der Entschluss, endlich unser Versteck zu verlassen, ist dann wie eine Tür, der Eintritt in das heilende Wirken Jesu. Dann stehen wir in der Wahrheit, die uns frei macht, und leben in der Wirklichkeit, die uns ganz und heil werden lässt.

Zu den zehn besten Büchern, die ich in meinem Leben gelesen habe, gehört Georges Bernanos’ Tagebuch eines Landpfarrers. Seit seiner Ordination hat der Pfarrer mit Zweifel, Angst und Unsicherheit zu kämpfen. Im letzten Eintrag seines Tagebuchs heißt es:

»Es ist vorbei. Das sonderbare Misstrauen, das ich gegen mich, gegen meine Person hegte, hat sich wohl für immer verflüchtigt. Dieser Kampf ist zu Ende. Ich verstehe ihn nicht mehr. Ich bin mit mir selbst versöhnt, versöhnt mit dieser armen, sterblichen Hülle.

Es ist leichter, als man glaubt, sich zu hassen. Die Gnade besteht darin, dass man sich vergisst. Wenn aber endlich aller Stolz in uns gestorben ist, dann wäre die Gnade der Gnaden, demütig sich selbst zu lieben als irgendeines der leidenden Glieder Christi.«15

Kind in seinen Armen

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